A. Zur aktuellen Situation

A.II. Einflussfaktoren für die Gesundheitspolitik

A.II.1. Demografischer Wandel, medizinischer Fortschritt und anbieterinduzierte Nachfrage

  1. Wenn für die Zukunft ein im Vergleich zur allgemeinen Wirtschaftsentwicklung überproportionaler Anstieg der von den Sozialsystemen zu tragenden Gesundheitsausgaben erwartet wird, so ist Grundlage dieser Prognose neben dem demografischen Wandel und dem Wandel familiärer Lebensformen die Annahme, dass die medizintechnische Entwicklung auch künftig zu einer Ausweitung der Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten führen wird und daher in der Gesamtbetrachtung von einer Kostenausweitung pro Versichertem ausgegangen werden muss. In Wechselwirkung miteinander stellen die genannten Entwicklungen die zukünftige Gesundheitspolitik vor große Herausforderungen - das gilt vor allem, wenn nicht zugunsten von mehr Prävention und einer kritischen Überprüfung der Anreize in der Pharmaindustrie umgesteuert wird.
  2. Seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hat sich das Krankheitspanorama rasch und durchgreifend geändert. Dafür war in erster Linie der zivilisatorische Fortschritt verantwortlich, erst in zweiter Linie und deutlich später (nach dem Zweiten Weltkrieg) fiel der medizinische Fortschritt ins Gewicht. Heute dominieren in Deutschland und vergleichbaren Ländern chronische Krankheiten und Residuen - nicht zuletzt infolge einer immer erfolgreicheren konservativen und operativen Medizin. Zusammen mit der weiter kontinuierlich zunehmenden Lebenserwartung führt die epidemiologische Transition zu einer immer häufigeren Multimorbidität: Neben den bekannten Symptomen, Komplikationen und Folgen jeder einzelnen Krankheit nehmen alle klinisch Tätigen an ihren Patienten weiter hinzutretende Zweit- und Dritterkrankungen wahr. Zum Teil resultieren sie aus für mehrere Krankheiten relevanten Risikokonstellationen.
  3. Die zunehmende Alterung der Gesellschaft verändert das Verhältnis der Generationen zueinander und führt insbesondere zu einer überdurchschnittlich wachsenden Zahl hochaltriger Menschen. Damit steigt über die Gesamtbevölkerung das Risiko des Eintritts von Hilfe- und Pflegebedürftigkeit, Multimorbidität und demenziellen Erkrankungen. Alleinlebende ältere Menschen, zu denen vor allem Frauen zählen, sind aber besonders gefährdet, mit zunehmendem Alter zu vereinsamen. Zwar lebt ein Großteil der "jüngeren Alten" heute noch in Ehen oder festen Partnerschaften und in familiären, freundschaftlichen oder nachbarschaftlichen sozialen Netzen mit einem vielfältigen und wechselseitigen Austausch von Hilfeleistungen. Der Anstieg der Scheidungsraten auch langjähriger Ehen, geringere Kinderzahlen in den Familien bis hin zur Kinderlosigkeit bei etwa einem Drittel der Elterngeneration sowie die wachsende berufliche Mobilität lassen jedoch für die Zukunft erwarten, dass die familiären Netzwerke nur begrenzt belastbar und verfügbar sein werden. Die Bedeutung von Freundschaften und Nachbarschaft sowie die Notwendigkeit zivilgesellschaftlicher Initiativen werden als Ressourcen für Hilfeleistungen deshalb zunehmen. Daneben wird jedoch auch staatlichen Hilfeleistungen eine weit größere Bedeutung als heute zukommen.
  4. Während ein Eintreten der geschilderten Entwicklungen dem Grunde nach unvermeidbar sein wird, hängt das Ausmaß der damit verbundenen Folgen unter anderem davon ab, ob die demografische Alterung in Zukunft mit einer Verbesserung des gesundheitlichen Zustands der Bevölkerung einhergeht. In den letzten Jahrzehnten hat sich der Gesundheitszustand älterer Menschen insbesondere im "Dritten Lebensalter" erheblich verbessert. Die "jungen Alten" sind heute im Durchschnitt aktiver, gesünder und selbstständiger als in der Vergangenheit; Gesundheit, Mobilität und Leistungsfähigkeit nehmen statistisch gesehen erst ab dem 80. Lebensjahr deutlich ab. Entscheidend beeinflussen allerdings auch verhaltens- und verhältnisbezogene Merkmale wie Bildungsstand, Einkommenssituation, körperliche und psychische Belastungen und Lebensstil den Gesundheitszustand. Menschen mit geringerer Bildung haben ein höheres Erkrankungsrisiko und verfügen seltener über Strategien für ein gesundheitsbewusstes Verhalten. Benachteiligungen, die sich im Verlauf des Lebens entwickelt haben, wirken sich dabei in besonders ausgeprägter Weise im Alter aus. Hiervon sind vor allem Menschen mit Behinderungen und Menschen mit Migrationshintergrund betroffen. Der demografische Wandel birgt also nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Herausforderungen: die Anpassung der Leistungsangebote an die spezifischen Bedarfe der wachsenden Zahl multimorbider und demenziell erkrankter älterer Menschen aus einem breiteren Spektrum heterogener Lebenslagen und biografischer Hintergründe.
  5. Neben (Gesundheits-)Bildung, gesundheitsfördernden Arbeitsbedingungen und einem auf spezifische Bedarfe zugeschnittenen Leistungsangebot wird auch weiterhin der medizinische Fortschritt erheblichen Einfluss auf den allgemeinen Gesundheitszustand und die Entwicklung der Gesundheitsausgaben nehmen. Die Zugewinne an Lebenserwartung und Lebensqualität in den letzten Jahrzehnten lassen sich aber nicht allein - zum Teil nicht einmal vorwiegend - auf medizinische Errungenschaften zurückführen. Sozialer und medizinischer Fortschritt stehen in enger Korrelation zueinander und zur demografischen Entwicklung. Auch in hochentwickelten Gesellschaften, in denen seit langem erkennbar ist, dass soziale und gesundheitliche Ungleichheit eng gekoppelt sind, sind die Möglichkeiten zur Verbesserung der Gesundheit vor allem der benachteiligten Bevölkerungsgruppen bei weitem nicht ausgeschöpft.
  6. Der medizinische Fortschritt selbst kann auf zwei Arten kostensteigernd wirken: Er kann zum einen die Gesundheitskosten der Angehörigen eines bestimmten Lebensalters erhöhen, indem er für diese Personen die Diagnostizierung von Krankheiten und die Erbringung von Leistungen zusätzlich zum bisherigen Stand der Wissenschaft ermöglicht; zum anderen kann medizinischer Fortschritt die Gesundheitskosten über die Erhöhung der Zahl der Überlebenden eines bestimmten Alters und damit über eine zunehmende individuelle Lebenserwartung ansteigen lassen, sodass er direkt die demografische Entwicklung beeinflusst. Während der zuerst genannte Aspekt die Gesundheitskosten in jedem Fall erhöht - Kostenfaktoren treten auf, die zuvor gar nicht möglich waren -, ist umstritten, ob die durch technischen Fortschritt erzielte Erhöhung der durchschnittlichen Lebensdauer zwangsläufig zu einem Anstieg der Gesundheitskosten führen muss. So ist belegt, dass die Gesundheitskosten weniger mit dem kalendarischen Alter als weit mehr mit der Nähe des Todes zunehmen; sie sind insbesondere im letzten Lebensjahr eines Menschen besonders hoch ("Kompression der Morbidität"). Gewonnene Lebensjahre sind deshalb nicht unbedingt mit höheren Kosten verbunden. Empirische Untersuchungen kommen bislang zu dem Ergebnis, dass medizinischer Fortschritt die Gesundheitsausgaben zwar unterproportional zur Zunahme der Lebenserwartung, aber überproportional zum wirtschaftlichen Wachstum oder zum allgemeinen Produktivitätsfortschritt erhöht.
  7. Im Zusammenhang mit den im Gesundheitssystem anfallenden Kosten bzw. der dort zu beobachtenden Kostenentwicklung wird häufig auch auf das Problem der anbieterinduzierten Nachfrage hingewiesen. Diese Diskussion ist keineswegs neu und grundsätzlich auch nicht von der spezifischen Ausgestaltung des deutschen Gesundheitssystems abhängig, sondern verweist auf potenzielle Marktversagenstatbestände, mit denen sich jedes Gesundheitssystem konfrontiert sieht, wenn es eine maßgeblich über Krankenversicherungen gewährleistete Leistungsfinanzierung mit einem hohen Maß an autonomer Leistungserbringung durch Ärzte und andere Anbieter von Gesundheitsleistungen verbindet. Ursache dieser Problematik ist erstens eine ausgeprägte und zum Teil vermeidbare oder verringerbare Informationsasymmetrie zwischen Anbietern und Nachfragern auf dem Gesundheitsmarkt über Art und Ausmaß zu erbringender Gesundheitsleistungen. Dieser Wissensunterschied kann dazu führen, dass - anders als auf anderen Märkten - die Art und Menge konsumierter Gesundheitsgüter nicht aus den Präferenzen und der Zahlungsfähigkeit der Nachfrager, sondern - wenigstens zum Teil - aus davon unterschiedlichen Eigeninteressen der Anbieter abzuleiten ist. Eine zweite Asymmetrie zwischen Leistungsnehmer und Leistungserbringer ist konstitutiv mit der ungleichen Verteilung von Leiden, Schmerzen und Ängsten verbunden. Üblicherweise konsultieren Patienten ihre Ärztinnen und Ärzte, wenn sie erkrankt, also verletzlich, bedürftig und abhängig von Hilfe sind. Damit sind Ärztinnen und Ärzte mit ihren Hilfsangeboten in einer dominanten Position. Eine dritte Asymmetrie ist darin zu sehen, dass die Erbringung von Gesundheitsleistungen häufig zeitkritisch ist. Patienten befinden sich - beispielsweise aufgrund einer akuten Notlage oder erheblichen Unwohlseins -, anders als die behandelnden Ärztinnen und Ärzte, zum Teil nicht in der Lage, Abwägungsentscheidungen der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu treffen und sind daher in besonderem Maße von Professionalität und Ethik der Leistungserbringer abhängig. Hinzu kommt schließlich, dass krankenversicherte Nachfrager von Gesundheitsleistungen nur geringe Anreize haben, die wesentlich vom Anbieter beeinflusste Nachfrageentscheidung zu hinterfragen, wenn die im Zuge dieser Entscheidung anfallenden Kosten nicht von ihnen selbst, sondern vom Kollektiv der Versicherten getragen werden. Dieses Problem tritt dann mit zusätzlicher Schärfe auf, wenn Nachfrager Preis und Aufwand von Gesundheitsleistungen nicht als Restriktion auffassen, sondern als besonderen Qualitätsindikator interpretieren. Im Gesamtergebnis kann anbieterinduzierte Nachfrage somit zur Folge haben, dass mehr und andere Leistungen erbracht werden, als bei vollständiger Information und Kostenerbringung der Nachfrager der Fall sein würde.
  8. Ob die Höhe und Entwicklung der Gesundheitskosten in Deutschland tatsächlich in wesentlichem Zusammenhang mit anbieterinduzierter Nachfrage steht, wird kontrovers diskutiert. Zwar wird die geschilderte Grundproblematik von unabhängiger wissenschaftlicher Seite kaum in Frage gestellt, doch lässt sich aus bisher vorliegenden empirischen Untersuchungen nicht eindeutig auf das Vorliegen eines substanziellen Beitrags anbieterinduzierter Nachfrage an der Entwicklung der deutschen Gesundheitskosten schließen. Der Grund dafür ist vor allem darin zu sehen, dass das hochregulierte deutsche Vergütungssystem von Gesundheitsleistungen eine künstliche Nachfrageausweitung in jener einfachen Form, die in empirischen Untersuchungen identifizierbar ist, in den letzten Jahren wirksam verhindert hat. Zusätzlich wurde mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2009 die hausärztliche Versorgung auf Versichertenpauschalen und die fachärztliche Versorgung auf Grund- und Zusatzpauschalen umgestellt, die ab 2011 um diagnoseorientierte Fallpauschalen ergänzt werden sollen; eine unwirtschaftliche Ausweitung der Arztkontakte sowie der Art und Menge der im Einzelfall erbrachten Gesundheitsleistungen wird damit im Regelfall für die Leistungserbringer nicht mehr vorteilhaft sein. Daraus lässt sich jedoch nicht schließen, dass die grundsätzlichen Marktversagenstatbestände auf dem Gesundheitsmarkt, die sich aus dem Informations- und Interessengegensatz von Anbietern und Nachfragern ergeben, vollständig bewältigt wären; entsprechende Anreizprobleme können sich vielmehr an anderen Stellen wiederfinden. So könnte die mit dem GKV-Finanzierungsgesetz 2010 vorgesehene Erleichterung der Wahl des Kostenerstattungsverfahrens durch die Versicherten dem Problem anbieterinduzierter Nachfrage wieder Vorschub leisten, indem Leistungserbringern ein Raum eröffnet wird, Gesundheitsleistungen außerhalb des regulierten Bereichs zu erbringen und das Risiko der Kostenerstattung auf die Nachfrager zu verlagern. Auch im Bereich der IGeL-Leistungen besteht die große Gefahr einer wenig effektiven und für die Nachfrager teuren Leistungsausweitung.

A.II.2. Von der Eigenverantwortung zur Bürgergesellschaft

  1. In der aktuellen gesundheitspolitischen Diskussion wird oft eine Ausweitung der privaten Absicherung des Krankheitskostenrisikos gefordert und mit dem Begriff der Eigenverantwortung verknüpft. Zum einen geht es dabei um eine schärfere Abgrenzung zwischen solidarisch gesicherten Grundleistungen und privat zu tragenden Ergänzungsleistungen im Gesundheitssystem, zum anderen stehen Leistungsausschlüsse oder stärkere Kostenbeteiligungen bei Krankheitskosten, die zum Teil auf ein mögliches Selbstverschulden zurückgeführt werden könnten, im Mittelpunkt. Die Wettbewerbsausrichtung und Ökonomisierung des Gesundheitswesens seit Ende der 1980er Jahre hat diese Entwicklung maßgeblich gefördert, indem zunehmend eine "Kundenorientierung" der Leistungsanbieter gefordert wurde: Mit ihren Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten sollen kranke und pflegebedürftige Menschen seither in verstärktem Maße den Wettbewerb um die beste Versorgungsqualität befördern. Hilfeangebote werden als Dienstleistungen begriffen, die - ganz wie auf anderen Märkten - im Wettbewerb zueinander stehen. Es darf nicht übersehen werden, dass deren Nutzung eine "Kundensouveränität" voraussetzt, die im Falle schwerer akuter und vieler chronischer Krankheiten nicht gegeben ist. Im Gegenteil: Das Verhältnis zwischen Ärzten, Therapeuten, Pflegenden und Patienten ist von verschiedenen, letztlich nicht völlig aufhebbaren Asymmetrien gekennzeichnet. Denn der existenziellen Betroffenheit und Unsicherheit, dem Informationsdefizit und der Einsamkeit der betroffenen Patienten und ihrer Angehörigen stehen sachliche Distanz und Routine, Erfahrung, Professionalität und die Kollegialität einer Organisation gegenüber. Dieses Gefälle und die damit verbundene Abhängigkeit machen die Vorstellung "gleicher Augenhöhe" und "gemeinsamer Entscheidungsfindung" oft genug zu einer Illusion.
  2. Die politisch geforderte Stärkung von Eigenverantwortlichkeit könnte man gleichwohl auch so verstehen, dass die einzelnen Gruppen mit besonderem gesundheitlichen Versorgungsbedarf, aber auch ihre Angehörigen die eigenen Interessen selbstbewusst und öffentlich benennen, bestehende Angebote kritisch hinterfragen und Mitbestimmungsmöglichkeiten einfordern - wie zum Beispiel in der Kampagne für eine frühzeitige Erkennung und Behandlung von Brustkrebs, beim Engagement der Angehörigen von Alzheimer-Patienten für eine Veränderung der Altenhilfe in Deutschland oder bei der Diskussion um Patientenrechte in der Palliative Care- und Hospizbewegung. Auch die Zunahme von Selbsthilfebewegungen im Gesundheitswesen, die in den 1970er Jahren mit der Psychiatriebewegung begann und mittlerweile viele Patienten mit chronischen Erkrankungen erreicht hat, kann als Ausdruck einer sich verändernden Haltung von Betroffenen und ihrem Verhältnis zu Professionellen im Gesundheitswesen verstanden werden. Professionelle Beratung und Hilfe müssen deshalb die Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten der "mündigen Patienten" respektieren und deren Eigenverantwortung in die Beratung und Behandlung einbeziehen.
  3. Die Entwicklung hin zu einer stärkeren Betonung der Eigenverantwortung muss aber stets berücksichtigen, dass die Befähigung zur Nutzung der damit verbundenen Potenziale sehr ungleich verteilt ist. Bekanntlich sind Gesundheit und Krankheit multifaktoriell bedingt. Eine Vielzahl von personalen, soziokulturellen und gesellschaftspolitischen Faktoren nimmt in vielschichtiger Weise Einfluss auf den Gesundheitszustand einer Bevölkerung. Der wichtigste Einflussfaktor auf die Gesundheit ist die soziale Lage, wobei ausschlaggebend für eine erhöhte Krankheits- und Sterbewahrscheinlichkeit nicht allein die individuell nachteilige Soziallage ist, sondern eine relativ schlechte Soziallage im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung. Vergleichsweise schlechtere Wohn- und Arbeitsbedingungen oder vergleichsweise schlechtere Zugangsmöglichkeiten zu Angeboten der gesundheitlichen Versorgung reduzieren die Möglichkeiten und Fähigkeiten für eine gesundheitsdienliche Lebenslage und einen gesundheitsdienlichen Lebensstil.

A.II.3. Paradigmenwechsel Behindertenrechtskonvention

  1. Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK), die nach Ratifikation durch Bundestag und Bundesrat seit März 2009 auch für Deutschland verbindlich ist, stellt nicht nur für Medizin und Pflege, sondern auch für Rehabilitation und Gesundheitsversorgung behinderter und psychisch kranker Menschen neue Herausforderungen. Behinderung wird nicht mehr allein als körperliches oder seelisches Problem des Einzelnen verstanden, vielmehr wird auch die Gesellschaft herausgefordert, so zu "funktionieren", dass sie niemanden von der Teilhabe auschließt. In diesem Sinne "sind" Menschen nicht nur behindert, sie "werden" auch behindert - und die damit verbundenen Leiden und Nachteile können stärker ins Gewicht fallen. Damit wird paradigmatisch deutlich, dass Gesundheitspolitik mehr sein muss als die Neuausrichtung des Gesundheitssystems im Sinne der notwendigen medizinischen oder pflegerischen Versorgung.
  2. Die Vertragsstaaten haben sich in Art. 25 BRK verpflichtet, Menschen mit Behinderungen eine unentgeltliche oder erschwingliche Gesundheitsversorgung in derselben Bandbreite, von derselben Qualität und auf demselben Standard wie anderen Menschen zur Verfügung zu stellen sowie Gesundheitsleistungen vorzuhalten, die spezifisch wegen Behinderung benötigt werden. Diese Leistungen sollen gemeindenah angeboten werden. Diese Verpflichtung bedeutet insbesondere, die Zugänglichkeit und Barrierefreiheit der gesundheitlichen Versorgung zu verbessern und die spezifische Kompetenz der Gesundheitsberufe zu erhöhen. Dazu müssen die Leistungsträger, Leistungserbringer und Professionen des Gesundheitswesens miteinander und mit den Selbsthilfe- und Angehörigengruppen der behinderten Menschen zusammenarbeiten.
  3. Weiterhin haben sich die Vertragsstaaten verpflichtet, die Diskriminierung behinderter Menschen in der Krankenversicherung zu verbieten. Damit sind insbesondere die Zugangs- und Versicherungsbedingungen der Privaten Krankenversicherung, einschließlich der Zusatzversicherung, angesprochen. Die Verpflichtung auf eine risikoadäquate Kalkulation (§ 20 Abs. 2 AGG) genügt nicht, um behinderten Menschen einen benachteiligungsfreien Zugang zu sichern.
  4. Die Rehabilitation ist in Art. 26 BRK als eigenständiger Bereich der sozialen Aktivität der Vertragsstaaten benannt. Sie dient dem Zweck, ein Höchstmaß an Selbstbestimmung, Fähigkeiten, Einbeziehung in alle Aspekte des Lebens und volle Teilhabe zu erreichen und zu bewahren - insbesondere auf den Gebieten der Gesundheit, der Beschäftigung, der Bildung und der Sozialdienste. Der rehabilitative Ansatz der Gesundheitsversorgung und die Pflichten der Krankenkassen als Rehabilitationsträger sollten daher vom Rand der Debatte ins Zentrum rücken. Die Nachrangigkeit sozialer Teilhabe im deutschen Sozialleistungssystem gegenüber medizinischen Interventionen ist zu überprüfen. Persönliche Assistenz und assistive Technologien müssen einen höheren Stellenwert bekommen und einfacher zugänglich werden.

"Und unsern kranken Nachbarn auch!"

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