Die Balance von Kontinuität und Wandel wahren

Gemeinsame Erklärung des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Dr. Wolfgang Huber und des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, zum 60. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetz

Die Geschichte des Grundgesetzes ist eine Erfolgsgeschichte in Frieden und Freiheit. Dankbar blicken wir heute auf diesen Zeitraum von 60 Jahren zurück. Aus den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und des Zweiten Weltkrieges heraus haben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates mit dem Grundgesetz eine Verfassung geschaffen, die eine wesentliche Grundlage der demokratischen und freiheitlichen Entwicklung Deutschlands darstellt.

Die Hervorhebung der Grundrechte am Beginn des Grundgesetzes und die Garantie von unveränderbaren Grundsätzen (Artikel 79 Absatz 3) waren keine beliebigen Entscheidungen, sondern eine programmatische Ansage. Der Grundrechtskatalog, an dessen Spitze die unantastbare Würde des Menschen steht, ist nicht nur für die Bürger unseres Landes identitätsstiftend, sondern wirkt darüber hinaus. So lautet auch der erste Artikel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“

Die Frage nach der inneren Begründung der Menschenwürde stellt sich aber – gerade ange¬sichts aktueller politischer und technischer Entwicklungen – immer wieder neu. Die Präambel des Grundgesetzes weist auf den Kontext dieser Frage, wenn sie die Verantwortung des deutschen Volkes vor Gott und den Menschen unterstreicht. Sie macht damit deutlich, dass staatliches Handeln nie absolut gesetzt werden darf und sich der Mensch vor einer Instanz zu verantworten hat, die über die staatliche Ordnung hinausgeht. Das Grundgesetz bildet mit seiner Bindung an eine so bestimmte Verantwortung, an Menschenwürde und Rechtsstaatlichkeit eine Wertordnung, die Wertvorstellungen der Gesellschaft nicht allein aufnimmt, sondern ihrerseits prägt.

Das Grundgesetz hat sich nicht nur im politischen Alltag bewährt, sondern auch in den Krisenzeiten unserer Demokratie sowie in Zeiten des Aufbruchs wie zum Beispiel bei der Wiederherstellung der deutschen Einheit als tragfähig erwiesen. Damit symbolisiert es zum einen politische und verfassungsrechtliche Stabilität; auf der anderen Seite hat es aber auch bewiesen, dass es neue gesellschaftliche Entwicklungen aufnehmen kann.

Diese Balance von Kontinuität und Wandel erfordert einen verantwortungsvollen Umgang mit den verfassungsrechtlichen Bestimmungen. Dies gilt für die Verfassungsorgane genauso wie für Bürger und gesellschaftliche Akteure. Das Grundgesetz erlaubt und ermöglicht eine behutsame Fortentwicklung und Fortschreibung, jedoch immer mit Augenmaß, um aus dem Grundgesetz nicht ein Stückwerk der Beliebigkeit zu machen, das die bewährte Verfassungsgrundlage unserer freiheitlich-demokratischen Ordnung entwertet.

Zum Verhältnis von Staat und Kirche hat das Grundgesetz Regelungen getroffen, die – im Wissen um die Verschiedenheit beider und ihre grundsätzliche Trennung – ein fruchtbares Miteinander ermöglichen. Die Verfassungswirklichkeit stellt unter Beweis, dass die staatskirchenrechtlichen Regelungen auch in einer religiös pluralen Gesellschaft tragfähig sind und Grundlage einer positiven Ausgestaltung der rechtlichen Rahmenbedingungen auch für andere Religionsgemeinschaften bilden können. Eine wichtige Herausforderung für Gesetzgeber und Rechtsprechung bleibt es jedoch, auch in Zukunft die verschiedenen Dimensionen der Religionsfreiheit miteinander in Einklang zu bringen. Die Religion muss sich im öffentlichen Raum frei entfalten können, und die Freiheit des religiösen Bekenntnisses darf nicht hinter der negativen Religionsfreiheit zurücktreten.

Auch im Hinblick auf die Europäische Union hat sich das Grundgesetz in seinen Grundaus¬sagen als für die Integration des Kontinents wegweisend erwiesen. Wir sind überzeugt, dass der Vertrag von Lissabon die Europäische Union demokratischer, transparenter und effizienter machen wird.

Gerade weil sich die Wertordnung des Grundgesetzes nicht selbst erhält, sondern auf Voraussetzungen aufbaut, die der Staat nicht selbst gewährleisten, aber durchaus fördern kann, bekräftigen wir aus Anlass des 60. Jahrestages der Verkündung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, was der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz im November 2006 in ihrem gemeinsamen Wort „Demokratie braucht Tugenden“ formuliert haben: „Die Kirchen werden auch in Zukunft für die freiheitliche Demokratie des Grundgesetzes eintreten, weil diese in besonderer Weise dem christlichen Menschenbild entspricht.“


Hannover, 20. Mai 2009

Pressestelle der EKD
Silke Römhild