Besonderer Respekt für den "Spion Gottes"

Ratsvorsitzender würdigt zum 60. Todestag Kurt Gerstein

Mit „besonderem Respekt“ würdigt der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, Kurt Gersteins Widerstand gegen die Judenvernichtung. Anlässlich des 60. Todestags des 1905 in Münster/Westfalen Geborenen, erinnert Wolfgang Huber an den „Spion Gottes“. So bezeichnete sein französischer Biograph Pierre Joffroy den, der als Mitglied der NSDAP und der SS einen umstrittenen Weg des Widerstands gegangen ist. Kurt Gerstein nahm sich am 25. Juli 1945 im Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi das Leben. Als „Zeuge des Holocausts“, so sein deutscher Biograph Jürgen Schäfer, habe er bis ins Gefängnis versucht, das Schlimme, das geschah, zu verhindern und aufzudecken. Erst vor 40 Jahren wurde Kurt Gerstein rehabilitiert, nachdem seinem Leben und Handeln in Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“ eine zentrale Rolle zugeschrieben wurde. Der Ratsvorsitzende rückt den, der in den „Künsten der Verstellung“ einen einsamen Weg gegangen ist, in die Nähe des evangelischen Theologen Dietrich Bonhoeffer, der wenige Monate nach Kurt Gerstein geboren und wenige Monate vor ihm gestorben ist.

Anlässlich des 60. Todestags von Kurt Gerstein und im Blick auf seinen 100. Geburtstag am 11. August schreibt der Vorsitzende des Rates:

„Das Jahr 2005 bietet zwei besondere Anlässe, sich bedeutender protestantischer Widerstandskämpfer in der Zeit des NS-Regimes zu erinnern: Am 25. Juli jährt sich zum 60. Mal der Todestag Kurt Gersteins, am 11. August wäre er 100 Jahre alt geworden. Mit diesen Daten steht er Dietrich Bonhoeffer nahe (60. Todestag am 9.4.2005, 100. Geburtstag am 4.2.2006). Wie der Theologe Dietrich Bonhoeffer, so erkannte auch der Bergassessor Kurt Gerstein schon früh und sehr klarsichtig die grundsätzliche Unvereinbarkeit von Christentum und Nationalsozialismus; beide verließen damit den vorsichtigen Kompromisskurs von Teilen der Bekennenden Kirche zwischen Anpassung und Protest. Durch seinen besonderen Weg, der die Mitgliedschaft nicht nur in der NSDAP, sondern sogar in der SS einschloss, war Gersteins Widerstand besonders heftig umstritten. Die Erinnerungsdaten des Jahres 2005 sind ein Anlass, seinen Beitrag zum Widerstand mit dankbarem Respekt zu würdigen.

Kurt Gerstein wurde am 11. August 1905 in Münster/Westfalen geboren. Als Schüler in Neuruppin und Bergbaustudent in Aachen, Marburg und Berlin fand er den Weg zu einem sehr persönlichen Christentum und zur evangelischen Jugendarbeit. Hier engagierte er sich 1933 gegen deren Zwangseingliederung in die HJ und führte verstärkt die Arbeit der Schülerbibelkreise fort. Dies und sein Einsatz für die Bekennende Kirche führten 1936 und 1938 zu zwei Inhaftierungen durch die Gestapo; der Ausschluss aus der NSDAP, der er im Mai 1933 beigetreten war, bedeutete zugleich das Ende seiner Berufskarriere als Diplomingenieur (1931) und preußischer Bergassessor (1935). Gerstein begann in Tübingen Medizin zu studieren und meldete sich 1940/41 freiwillig zur SS; diesen Schritt begründete er gegenüber Freunden damit, einen Blick ‚hinter die Kulissen’ auf die Verbrechen der Nationalsozialisten tun zu wollen. Dies gelang ihm wider alles Erwarten: Als Leiter der Abteilung Gesundheitstechnik im Hygiene-Institut der SS machte er sich mit Desinfektionsanlagen für die Wehrmacht und Epidemienbekämpfungen in den Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagern einen Namen und lernte das Schädlingsbekämpfungsmittel Zyklon B kennen. Als so ausgewiesener ‚Experte’ erlebte er im August 1942 in Belzec und Treblinka Mordtaten an Jüdinnen und Juden sowohl mit Kfz-Abgasen als auch mit Zyklon B. Sofort begann er mit einer verdeckten Informationstätigkeit, indem er Vertreter der neutralen schwedischen und später der Schweizer Botschaft unterrichtete und um Weiterleitung seines Berichts an die Alliierten bat. Er informierte evangelische Kirchenführer, unter anderem Otto Dibelius, aber auch katholische Geistliche. 1943 gelang es ihm unter Lebensgefahr, über einen holländischen Studienfreund und dessen Verbindungen zum Widerstand einen Bericht nach London zu senden. Daneben versuchte er Zyklon B-Lieferungen über sich selber zu leiten, um sie zu sabotieren. Befehlen, sich an der Vernichtung der Juden zu beteiligen, hat er sich entzogen.

Seine Tarnung als ‚Spion Gottes’ (so sein französischer Biograf Pierre Joffroy) hielt er bis Kriegsende aufrecht; in französischer Internierung schrieb er den berühmten ‚Gerstein-Bericht’, einen Augenzeugenbericht über die erlebten Massaker an Juden. Selbst als Kriegsverbrecher angeklagt, nahm er sich am 25. Juli 1945 im Pariser Militärgefängnis Cherche-Midi das Leben.

Lange stand Gerstein, der sich selbst als ‚Zeuge des Holocaust’ (so sein deutscher Biograph Jürgen Schäfer) berufen fühlte, unter der Diskriminierung als SS-Offizier und Beteiligter an den Judenmorden. Erst 1965 wurde er juristisch rehabilitiert; voran ging Rolf Hochhuths Drama „Der Stellvertreter“, in dem der Figur Kurt Gersteins eine zentrale Bedeutung zukommt. Noch immer ist er einer der unbekannteren Widerstandskämpfer aus christlicher Gesinnung, ein protestantischer Einzeltäter mit dem Ursprung in der Bekennenden Kirche. Zu dieser Verwurzelung bekannte er sich schon 1934 angesichts der bewusst antireligiösen Ausrichtung der HJ den Konflikt vorhersah: ‚....unter allen Umständen sich zäh anklammern an die Bekenntnisgrundlagen der Kirchen und da – ohne Rücksicht auf irgend eine äußere Macht oder auch Entwicklung ... nicht auch nur um Fingerbreite nachgeben.’ Und ebenfalls 1934: ‚In mir erwächst, im Gegensatz zu mancher früheren Feigheit, Schüchternheit und Zurückhaltung, mehr und mehr der Mut, jedermann ein ganz klares Zeugnis abzulegen: Jesus Christus der Herr: Das zu bezeugen wird mir ein immer mehr unausweichbares Muß.’ Dagegen unternehme der Nationalsozialismus einen Frontalangriff auf den christlichen Glauben und halte „jede ernsthafte Bindung an Gott für höchst überflüssig und schädlich“. Damit korrumpiere er Moral und Recht in Deutschland; Widerstand sei geboten: ‚So wird das Gewissen der Nation doch einigermaßen wachgehalten und Schlimmeres verhütet’ (1938).

Um das Schlimme, das geschah, aufzudecken und Schlimmeres zu verhüten, ging Kurt Gerstein einen sehr einsamen Weg. Er übte die „Künste der Verstellung“, von denen Dietrich Bonhoeffer in einem solchen Zusammenhang sprach. An den ungerechtfertigten Vorwürfen, die er deshalb auf sich zog, zerbrach sein Leben. Die Evangelische Kirche in Deutschland bewahrt die dankbare Erinnerung an Kurt Gerstein, der auf seine Weise zum evangelischen Widerstand gegen das NS-Regime beigetragen hat.“

Hannover / Berlin, 23. Juni 2005

Pressestelle der EKD
Christof Vetter