Gesundheitspolittische Stellungnahme "Solidarität und Wettbewerb"

Statement des Vorsitzenden der EKD-Sozialkammer, Prof. Dr. Hans-Jürgen Krupp, auf der Pressekonferenz in Berlin

1994 hat die Sozialkammer der EKD eine Studie „Mündigkeit und Solidarität“ vorgelegt, in der sie Reformen im Gesundheitswesen anmahnte und sozial-ethisch begründete. Inzwischen sind einige Jahre ins Land gegangen. Es hat auch durchaus einige zaghafte Reformen gegeben, die mit den damals geäußerten Vorstellungen vereinbar waren. Der Wettbewerb zwischen Krankenkassen wurde grundsätzlich zugelassen, ein Wettbewerb durch Unterschiede in den Leistungen aber ausgeschlossen. So sind die erwarteten Erfolge ausgeblieben. Inzwischen hat man wieder Zuflucht zu einzelnen Interventionen gesucht, obwohl die Erfahrung der letzten Jahrzehnte zeigt, dass sich die Probleme so nicht lösen lassen.

Der Rat der EKD hat es deshalb als notwendig angesehen, daran zu erinnern, dass eine strukturelle Reform im Gesundheitswesen nach wie vor dringlich ist. Ausgangspunkt ist die damalige Studie, in der begründet wird, warum ein solidarisches Gesundheitssystem gerade in einer modernen Gesellschaft nötig ist, in der aber auch klar gemacht wird, dass es notwendig ist, das Dreiecksverhältnis von Leistungsanbietern im Gesundheitswesen, Krankenkassen und Patienten grundsätzlich neu zu bestimmen. Dabei muss man insbesondere auf den mündigen Patienten  setzen und seine Position  stärken.

Im ersten Abschnitt der heute vorgelegten Erklärung (Ziffer 1-10) werden noch einmal die wichtigsten Grundsätze der damaligen Studie, die immer noch aktuell ist , in Erinnerung zu rufen.

Im zweiten Abschnitt (Ziffer 11- 23) werden die Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte aufgezeigt, die inzwischen durch nationale und internationale Studien gut dokumentiert sind. Dies alles ist sicher auch Ihnen seit langem bekannt. Ich will es hier nicht im einzelnen darstellen, sondern verweise Sie auf das Papier.

Der dritte Abschnitt (Ziffer 24-33) geht über die damalige Studie hinaus. Er ist deutlich konkreter geworden. Zwar kann es nicht Aufgabe von Kirche sein, einzelne detaillierte Reformvorschläge vorzulegen. Sie kann nur Probleme aufzeigen und Richtungen angeben, in denen Lösungen erfolgen müssen. Die Erfahrung der letzten Jahre zeigt aber, dass man nicht zu allgemein bleiben darf, wenn man in der Diskussion wahrgenommen werden will. In der Ziffer 30 finden Sie daher sehr konkrete Überlegungen zu wichtigen Problemfeldern.

Bevor ich hierauf im einzelnen eingehe, noch einige Bemerkungen zu dem tragenden Grundgedanken. Ausgangspunkt ist die Überzeugung, dass sich so ein komplexes System wie unser Gesundheitswesen nicht auf bürokratischem, man könnte auch sagen,  planwirtschaftlichem Wege steuern lässt. Es bedarf einer Wettbewerbsorientierung um die notwendigen Innovationen zu erreichen und für einen sparsamen Umgang mit knappen Mitteln zu sorgen. Gesundheit ist freilich ein so wichtiges Gut für den Menschen, dass die sozialen Folgen einer derartigen Reform mit bedacht werden müssen. Eine solidarische Ausgestaltung des Gesundheitssystems gehört deswegen untrennbar zu einer stärkeren Wettbewerbsorientierung.

Wettbewerb im Gesundheitswesen ist freilich schwierig, weil der Patient oft nicht den Umfang der von ihm benötigten Leistungen beurteilen kann. Deswegen kommt den Krankenkassen und dem Wettbewerb zwischen ihnen eine besondere Bedeutung zu, wobei die Macht der Krankenkassen durch eine Stärkung der Patientensouveränität beschränkt werden muss.

Der Wettbewerb zwischen den Krankenkassen darf allerdings nicht auf Werbemaßnahmen und eher zufällige Beitragssätze beschränkt bleiben. Es muss einen Wettbewerb geben, der auch auf der Leistungsseite stattfindet. Bei den Leistungen muss eine Standardsicherung gewährleistet sein. Diese darf auch nicht abgewählt werden können. Allerdings wird man sie kaum ein für alle mal definieren können. Deswegen ist an dieser Stelle mit Bedacht auch nur eine sehr allgemeine Formulierung gewählt worden. Unter Standardsicherung werden alle medizinisch notwendigen Leistungen verstanden, die ein Leben in Würde ermöglichen. Es ist Aufgabe einer staatlichen Zertifizierungsagentur, bei der insbesondere die Patienten vertreten sein sollten, immer wieder erneut zu überprüfen, ob die Angebote der Krankenkassen diesem Kriterium genügen. Einige mögliche Unterschiede im Leistungsangebot werden konkret benannt.  So sollte der Patient zwischen Angeboten mit freier und mit eingeschränkter Arztwahl wählen können. Die Leitfunktion des Hausarztes könnte verbindlich gemacht werden. Der Patient könnte sich auch für zusätzliche Leistungen versichern. Dementsprechend sollte es auch Differenzen in der Beitragsgestaltung geben. Dabei wären insbesondere Gesichtspunkte der Prävention zu berücksichtigen.

Letztlich lassen sich unsere Vorschläge aus diesen grundsätzlichen Überlegungen ableiten. Lassen Sie mich noch einige dieser Vorschläge konkret aufgreifen.

Mit der Verzahnung von ambulanter und stationärer Versorgung können Kassenkosten gespart und Leistungen verbessert werden (Ziffer 30 c).

Die Pflicht zum Austausch aller Untersuchungsergebnisse könnte kostspielige Mehrfacharbeit vermeiden. Der Patient sollte generell über Untersuchungsergebnisse informiert werden (Ziffer 30 d).

Wichtig ist auch die Schaffung von Transparenz. So sollten Informationen über die Häufigkeit von Eingriffen  und  medizinische Leistungen einzelner Anbieter und die erreichten Ergebnisse den Patienten zugänglich gemacht werden (Ziffer 30 k).

Die Beseitigung der monopolistischen Strukturen von Kassen- und Anbieterverbänden ist besonders dringlich. Jede Kasse muss das Recht haben, mit einzelnen Anbietern oder Gruppen von Anbietern Verträge zu schließen (Ziffer 30 e).

Dazu gehört dann allerdings auch die Schaffung von Qualitätsstandards im medizinischen Bereich (Ziffer 30 f).

Zu prüfen ist auch, ob die auf Unfälle zurückzuführenden Krankheiten aus der Krankenversicherung heraus genommen werden können und mit einer Unfallversicherungspflicht abgedeckt werden sollten (Ziffer 30 j).

Ein besonderes Problem stellt die Finanzierungsseite dar. Auf Dauer kann ein solidarisches System nicht überleben, wenn sich gerade Personen mit höheren Einkommen oder ohne Kinder aus dieser verabschieden können. Eine Neuregelung der Versicherungspflicht ist deswegen unabdingbar. Die Pflegeurteile des Bundesverfassungsgerichts geben für diese Fragestellung wichtige Hinweise. Hiervon betroffen ist auch die Ausgestaltung der Krankenversicherung der Rentner, jedenfalls soweit es sich um Einkommen außerhalb der Rentenversicherung handelt (Ziffer 30 l, m).

Diese wenigen Bemerkungen sollen veranschaulichen, worum es uns geht: Ein solidarisches Gesundheitssystem, das den Wettbewerb nutzt und den eigenverantwortlichen und mündigen Patienten in die Steuerung des Systems einbezieht.

Die hier gemachten Vorschläge sollten konkret genug sein, um Diskussionen auszulösen. Sie lassen genügend Spielraum, um die Ergebnisse dieser Diskussion einzubeziehen. Wichtig ist, dass die Diskussion nun beginnt und schnell zu einer überfälligen Reform führt. Handeln ist angesagt.

Pressestelle der EKD
14. Oktober 2002


Mitglieder der Kammer der EKD für soziale Ordnung sind:

Professor Dr. Hans-Jürgen Krupp, Darmstadt (Vorsitzender)
Pfarrerin Cornelia Coenen-Marx, Düsseldorf (stellv. Vorsitzende)
Privatdozent Dr. Heinrich Bedford-Strohm, Ahorn
Ministerpräsident Professor Dr. Wolfgang Böhmer, Magdeburg
Professor Dr. Diether Döring, Frankfurt / Main
Dr. Ursula Engelen-Kefer, Berlin
Dr. Gerd Federlin, München
Oberkirchenrat Dr. Joachim Gaertner, Berlin
Jürgen Gansäuer MdL, Hannover
Staatsminister a.D. Dr. Hans Geisler, Radeberg
Dr. Fritz Himmelreich, Köln
Dr. Jürgen Hogeforster, Hamburg
Professor Dr. Traugott Jähnichen, Bochum
Rudi Job, Kaiserslautern
Dr. Ernst Kreuzaler, Bonn
Professor Dr. Heide Pfarr, Düsseldorf
Dr. Hartmut Przybylski, Bochum
Johannes Roscher, Zschopau
Senatorin Birgit Schnieber-Jastram, Hamburg
Uwe Schwarzer, Stuttgart
Professor Dr. Dr. Theodor Strohm, Heidelberg
Dr. Werner Tegtmeier, St. Augustin-Niederpleis
Professor Dr. Reinhard Turre, Magdeburg
Professor Dr. Gert G. Wagner, Berlin
Oberkirchenrätin Sabine von Zanthier, Brüssel
Kirchenrat Dr. Jens Kreuter (Geschäftsführer)