Schlusswort des Ratsvorsitzenden der EKD zum Zukunftskongress

Wolfgang Huber

1.

„Der Kongress tanzt.“ Das kann man von diesem Zukunftskongress nicht gerade behaupten. Aber aufgebrochen sind wir. Wir sind unterwegs. Wir bewähren uns als wanderndes Gottesvolk. „Kirche im Aufbruch“ – dieses Thema der EKD-Synode später im Jahr strahlt schon voraus. Gemeinsam sind wir Kirche Jesu Christi. Gut evangelisch streiten wir um den richtigen Weg. Aber wir lassen uns nicht auseinanderdividieren. Wir sind doch Brüder und Schwestern. Die haben eigene Meinungen, wie wir heute morgen gehört haben. Aber sie halten zusammen – aus Vernunft und Gottvertrauen. Wir sind aufgebrochen. Zurück geht es nicht mehr.

Mein Dank gilt allen, die uns den Weg bereitet haben und hier in Wittenberg die entsprechenden Vorbereitungen getroffen hatten. Ich meine dabei die vielen inhaltlichen Diskussionsprozesse in den Gemeinden, in den kirchlichen Werken und Verbänden, in den Landeskirchen und gliedkirchlichen Zusammenschlüssen – all diese Diskussionen, von denen wir während dieser Tage gezehrt und die wir weitergeführt haben. Ebenso meine ich das Vordenken, die Planung bis hin zur organisatorischen Feinjustierung und hervorragenden Durchführung dieses Kongresses. Manchmal wurden wir in ein enges Korsett gesteckt. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben das mit sportlichem Geist genommen und dadurch das Beste daraus gemacht. Mein Dank gilt allen Mitwirkenden, allen Gästen, allen Berichterstatterinnen und Berichterstattern, allen, die diesen Kongress im Gebet begleitet haben. Die Begegnung zwischen Menschen, die an vergleichbaren Projekten arbeiten, war ein hohes Gut.

Man hat diesen Kongress als ein erstmaliges Ereignis bezeichnet. Das stimmt. Aber was erstmalig war, braucht nicht einmalig zu bleiben. Die Veränderungen, die nötig sind, werden uns über die nächsten Jahre beschäftigen. Bei diesen Veränderungen wollen wir auch weiterhin voneinander lernen. In allen Gliedkirchen der EKD gibt es wichtige Reformvorhaben und hoch motivierte Multiplikatoren. Ausgehend von Wittenberg werden bestimmte Projekte zu den Themen in Gang kommen, die in den zwölf Leuchtfeuern beschrieben sind. Wir werden konkreter und praktischer werden. Bestimmte Ansätze werden dabei verändert. Auch zu den quantitativen Angaben, die das Impulspapier enthält, werden wir neue Einsichten gewinnen. Die Perspektivkommission hat keine Bibel geschrieben und auch kein Bekenntnisbuch. Nach absehbarer Zeit sollten wir eine Ortsbestimmung vornehmen und uns fragen: Wo sind wir vorangekommen? Was können wir voneinander lernen? Wie geht es weiter? Deshalb bin ich davon überzeugt: Auf diesen Zukunftskongress werden weitere Schritte folgen. Und da wir uns gern von den Stätten inspirieren lassen, an denen unserer Kirche wichtige Einsichten zugewachsen sind, könnte das doch eine Idee sein: eine Zukunftswerkstatt, beispielsweise in Barmen. Wir wollen damit keine Dauerinstitution schaffen. Denn es geht um eine Arbeit, die es dann den verantwortlichen Gremien ermöglicht, die nötigen Entscheidungen zu treffen. Aber es geht zugleich darum, dass der nötige Schwung entsteht auf dem Weg zu einer nächsten großen Begegnung hier in Wittenberg – nämlich beim Reformationsjubiläum 2017. Wir haben die ganze Dekade bis 2017 im Blick; aber wir lassen uns nicht  bis dahin Zeit. Unsere gemeinsamen Bemühungen um die Reform unserer Kirche verbinden unser Tun jetzt – jetzt sind wir „Kirche im Aufbruch“. Dabei wollen wir die Menschen mitnehmen. Wir freuen uns vor allem über die Beteiligung junger Menschen an diesem Prozess. Beteiligung setzt Transparenz voraus. Deshalb wollen wir uns um Öffentlichkeit und Verständlichkeit unserer Vorhaben und Strukturen noch stärker bemühen.

2.

Wir sind kritisch miteinander umgegangen – und das ist auch dringend nötig. Wir müssen uns insbesondere wechselseitig davor bewahren, dass unsere Problembeschreibung zu harmlos wird. Denn wir neigen immer wieder zu einem binnenkirchlichen Blick. Dann stehen uns zuerst die Menschen vor Augen, die uns ohnehin in unseren Gemeinden begegnen. Aber sie sind nur ein Teil derjenigen, die zu unserer Kirche gehören. Aus dem Blick geraten aber rasch auch diejenigen, die außerhalb der Kirche stehen. Das aber genügt nicht. Auch wenn wir sagen, dass die Kirche im Dorf bleibt, muss sie Kirche für das ganze Dorf sein. Das gilt auch dort, wo derzeit nur zwanzig Prozent der Dorfbewohner zur Kirche gehören. Und die Kirche in der Stadt muss „der Stadt Bestes suchen“ – und darf erst recht den biblischen Zusatz nicht vergessen: „und betet für sie zum Herrn“. Auch wegen dieses Auftrags ist die Zusammengehörigkeit von Kirche und Diakonie so wichtig und so zentral, wie dieser Kongress zu Recht gesagt hat.

3.

Unsere Aufgabe ist es, auf die Menschen zuzugehen, die Halt und Orientierung suchen. Mit einer großen Einhelligkeit haben wir das festgestellt. Die Bedeutung von Religion und Glaube verändert sich. Auf eine Phase der Privatisierung von religiösen Einstellungen und der Abwendung von Glaubensfragen folgt eine Zeit, in der die Suche nach der eigenen religiösen Bindung, die Suche nach spirituellen Erfahrungen, die Ausschau nach einer Kraftquelle für das eigene Leben viele Menschen bestimmt. Zugleich wächst der gesellschaftliche Klärungsbedarf. Auskunftsfähigkeit ist gefragt. Darin haben wir immer eine evangelische Stärke gesehen. Sie müssen wir erneuern. Die veränderte Bedeutung von Religion und Glaube ist keine Eintagsfliege, keine modische Erscheinung; sondern in ihren guten wie in ihren problematischen Seiten entwickelt sie sich nachhaltig. Darauf zu antworten, ist für uns als Kirche eine elementare Pflicht. Wenn wir unsere Fähigkeit dazu stärken, beschäftigen wir uns nicht einfach mit uns selbst. Wenn eine Religionsgemeinschaft sich kompetent mit Religion befasst, wenn die Kirche Jesu Christi den Menschen den Glauben an Jesus Christus nahe bringt, dann ist sie bei ihrer Sache; aber sie beschäftigt sich nicht einfach mit sich selbst. Demographische und finanzielle Veränderungen haben wir dabei zu berücksichtigen. Sie sind Rahmenbedingungen, aber nicht der entscheidende Bezugspunkt unseres Reformprozesses. Manche können es schier nicht glauben, aber es ist so: Unsere Kirche starrt nicht auf Zahlen, sondern es geht ihr um ihre großartige Aufgabe: die Botschaft von Gottes Liebe zu den Menschen zu bringen, ihnen Jesus Christus vor Augen zu stellen, Gottvertrauen, Daseinsgewissheit und Nächstenliebe in ihnen zu wecken. Wo immer das geschieht, ereignet sich Kirche. Dafür, dass es – soweit es an uns liegt – besser geschieht, wollen wir arbeiten.

4.

In Wittenberg, der Stadt der Reformation haben wir uns miteinander auf den Weg gemacht. Unterschiedliche Auffassungen hatten Raum oder sind auch einmal aufeinander geprallt. Wir waren zusammen, Kardinal Lehmann hat daran erinnert, am Tag des Apostels Paulus. Papst Benedikt XVI. hat aus diesem Anlass daran erinnert, wie beherzt Paulus dem Petrus entgegentrat, den er auf einem falschen Weg sah. Mit dieser Kontroverse begann die missionarische Bewegung, der wir es zu verdanken haben, dass wir Christen sind. Als evangelische Kirche schätzen wir deshalb den konstruktiven Sinn von Kontroversen. Wir beenden diesen Kongress an dem Tag des Gedenkens an den Holocaust. Schon das wird uns daran hindern, die Verantwortung für unsere Geschichte hintanzustellen und unsere Pflicht gering zu schätzen, für die gleiche Würde jedes Menschen in der Gesellschaft einzutreten und allen Diskriminierungen mit Nachdruck zu widerstehen.

Bestimmend in diesem Kongress, das wird aus allen Foren berichtet, war die gemeinsame Suche nach der evangeliumsgemäßen Gestalt unserer Kirche im 21. Jahrhundert. In diesem Geist haben wir unsere Kontroversen ausgetragen. Eine besonders wichtige Kontroverse galt der Frage nach der Zukunft der Gemeinde. Der Gedanke, dass der Anteil von Profil- und Netzwerkgemeinden in unseren Kirchen steigt, stößt auf viel Skepsis. Die Warnungen haben Gewicht. Aber wir sollten auch nicht verkennen: Die heutige Form der parochial verfassten Ortsgemeinde war nicht zu allen Zeiten der Christenheit bestimmend; und sie prägt das Gemeindeleben auch nicht in allen anderen Ländern und Kontinenten. Dass Menschen sich heute in Sozialräumen orientieren, kann auch für die Zukunft der Gemeinde wichtig sein. In manchen Landeskirchen sind schon Pilotprojekte im Gange, die in der nächsten Zeit verstärkt entwickelt und ausgewertet werden können. Citykirchen und Jugendkirchen oder – um auch Entwicklungen auf dem Land anzusprechen – Fahrradkirchen und Dorfkirchensommer zeigen die Entwicklung unterschiedlicher Profile an. Ich halte es für richtig, diese Entwicklungen gründlich auszuwerten und bin dankbar dafür, dass es dazu erste Verabredungen gibt, insbesondere orientiert an dem Grundsatz: „zu Profilbildung ermutigen auf der Grundlage der Parochie.“In diese Entwicklung lässt sich auch das schöne Vorhaben einer „Landkarte der Kraftorte“ einfügen.

Umstritten war bis in diesen Kongress hinein die Frage nach der Qualität im Kernbereich kirchlichen Handelns. Gibt es dafür Kriterien? Kann man diese Qualität gar messen? Da tobt der Streit. Aber zugleich ist allen klar, dass wir etwas für die Wiedererkennbarkeit des evangelischen Gottesdienstes tun müssen – und zwar dafür, dass er nicht an seiner Formlosigkeit, sondern an seiner Form wieder erkannt wird. Die situationsbezogene Gestaltung von Gottesdiensten in großer Vielfalt wird dadurch nicht ausgeschlossen; aber gerade eine solche situationsbezogene und situationsgerechte Gestaltung setzt Stilsicherheit und Formbewusstsein voraus.

Umstritten war bis in diesen Kongress hinein die Frage, was denn mit der Rede vom Pfarrberuf als Schlüsselberuf gemeint sei. Verwiesen wurde ganz zur Recht auf die vielen anderen wichtigen Berufe im kirchlichen Handeln, von den Kirchenmusikern bis zum Diakonat. Doch dass der Beruf der Pfarrerin und des Pfarrers für den Gesamtbereich des deutschen Protestantismus ein gemeinsam erkennbares Profil braucht, wurde als zutreffend anerkannt. Und es wurde auch festgestellt, dass wir dahin streben sollten, dass Pfarrerinnen und Pfarrer sich im Gesamtbereich der Evangelischen Kirche in Deutschland um Pfarrstellen bewerben können. Das bedeutet aber zugleich, dass die Weiterentwicklung dieses Berufs und die Standards für Aus-, Fort- und Weiterbildung eine gemeinsame Aufgabe sind.

Das Verhältnis zwischen ehrenamtlicher und beruflicher Arbeit in der Kirche ist ein Schlüsselthema der weiteren Entwicklung. Der evangelische Ausgangspunkt ist dabei die gemeinsame Verantwortung aller Getauften. Die Sprachfähigkeit des Glaubens und die theologische Grundkompetenz aller Mitarbeitenden ergeben sich aus diesem evangelischen Ausgangspunkt. Die Stärkung evangelischer Eliten, die hier zur Sprache kam, ergibt sich gerade aus der gemeinsamen Verantwortung aller Getauften.

Auch neue Fragen sind aufgetaucht, darunter viele, die im Impulspapier gar nicht behandelt werden. Ehrenamtlich engagierte Mitchristen machen uns beispielsweise darauf aufmerksam, dass wir mit den unterschiedlichen Benennungen unserer Leitungsämter nicht nur anderen, sondern auch uns selbst das Leben schwer machen. Gibt es an dieser Stelle einen Schritt nach vorn?

Wir haben keinen Masterplan zu Zahl oder Struktur der Landeskirchen. Aber wir wollen sowohl das Eigengewicht als auch das Zusammenwirken der Landeskirchen in der EKD stärken.Dazu gehört auch, dass die Landeskirchen je für sich und wir gemeinsam darüber nachdenken, was eine Landeskirche ausmacht und wie sie sich mit ihren jeweiligen Stärken in die Gemeinschaft einbringt.

In unserem Zukunftsprozess werden nun Landeskirchen Themen wählen und ihre Prioritäten setzen. Die Gremien der EKD – Synode, Kirchenkonferenz und Rat – werden sich auf einzelne Pilotprojekte verständigen – ich hoffe übrigens: auf wenige Projekte, die wir dann auch mit der nötigen Kraft verfolgen können. Wir werden nicht alles gleichzeitig machen.

5.

Es geht uns darum, Glauben zu wecken und Glauben zu stärken. Dazu sind geistliche Erfahrungen nötig. Wir wurden in solche Erfahrungen hineingenommen, als wir miteinander sangen: „Nun lasst uns Gott dem Herren Dank sagen und ihn ehren für alle seinen Gaben, die wir empfangen haben.“ Wir werden es erfahren, wenn wir gleich in Martin Luthers Kirche Gottesdienst feiern und am Tisch des Herrn zusammen sind.

Gelacht hat dieser Kongress in vielen Foren, in denen die Teilnehmenden das strenge Metaplan-Verfahren mit sportlicher Heiterkeit nahmen. Ja, gelacht haben wir sogar bei der Bibelarbeit.

Wir wissen: Gott zu loben, ist die Aufgabe für alle Sinne. Deshalb wollen wir die liturgische Qualität unserer Gottesdienste stärken, wollen wir einladende Räume und neue Anlässe zur Begegnung mit dem Heiligen schaffen. Der Mut zum Ritus wird sich in unserer Kirche weiter entfalten, der Ergriffenheit beim Abendmahl werden wir uns nicht schämen.

6.

Die Kirche Jesu Christi ist eine Gemeinschaft von Gemeinschaften. Deshalb ist, wie Landesbischof Johannes Friedrich in seinem Beitrag für diesen Kongress formuliert hat, keine Gemeinde und keine Kirche sich selbst genug. Unser Glaube vernetzt uns miteinander, unser Bekenntnis verbindet, unsere Verantwortung weist uns aneinander. Aus diesem Verständnis ergibt sich meiner Auffassung nach die Folgerung, dass Aufgaben jeweils an dem Ort und auf der Ebene gelöst werden, auf denen dies am besten möglich ist. Sich darüber zu verständigen und abzusprechen, hat nach meiner tiefen Überzeugung mit Zentralisierung und Zentralismus nichts zu tun. Sehr viel zu tun hat es aber mit verantwortlicher Haushalterschaft sowie dem Nutzen von Kompetenzen und gemeinsamen Möglichkeiten. Deshalb bin ich dankbar dafür, dass für die angemessene Zuordnung bestimmter Aufgaben während dieses Kongresses wichtige Vorschläge gemacht worden sind. Die zuständigen Gremien werden nun daran gehen, diese Vorschläge zu prüfen und Vorschläge zur Verwirklichung zu machen.

Die Foren haben konkrete Themen identifiziert. Verantwortliche Personen oder Institutionen, die diese Themen vorrangig behandeln können, wurden in den Blick genommen. Die Stärke dieses Kongresses, dass landeskirchen-, werke- und institutionenübergreifend Gespräche in Gang kamen, ist auch nach den Tagen von Wittenberg fruchtbar zu machen.  Dass wir einander an den Fortschritten in diesen Diskussionen teilnehmen lassen, ist ein unabdingbarer nächster Schritt. In diesem Sinn und in diesem Geist werden wir uns wieder sehen und miteinander unterwegs bleiben.

7.

Dieser Kongress stand unter einem Motto. Das Motto war ihm vorgegeben durch die Jahreslosung: „Gott spricht: Siehe, ich will ein neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?“ Das ganze Jahr über verkündigen wir die gute Nachricht von Gottes verlässlicher Treue zu den Menschen und von den guten Absichten, die er mit uns hat. Das ganze Jahr über bestimmt dieser Ton unsere Predigten. Wir wollen diese Predigt auch für uns selbst als Evangelische Kirche in Deutschland gelten lassen. Wir wollen Zutrauen entwickeln zu dem Neuen, das Gott unter uns aufwachsen lässt. Das Vertraute wird uns ja nicht geraubt, wenn wir dem Neuen Raum geben. Gestern haben wir es in der Morgenandacht gehört: „Gott ist sehr gespannt auf das, was uns gelingen wird. Es liegt was in der Luft. Nicht Frust, sondern neu Lust und Liebe, Christen und Kirche zu sein, neue Wege zu gehen.“ Dieser Lust und Liebe will ich am Ende Sprache geben mit Worten – nun ja und jetzt wirklich – von Paul Gerhardt, sommerliche Worte im winterlichen Wittenberg:

"Mach in mir deinem Geiste Raum, dass ich dir werd ein guter Baum, und lass mich Wurzel treiben. Verleihe, dass zu deinem Ruhm ich deines Gartens schöne Blum und Pflanze möge bleiben, und Pflanze möge bleiben."

Ich danke Ihnen allen von Herzen und wünsche Ihnen Gottes Geleit auf dem Weg zu unserem gemeinsamen Gottesdienst und nach Hause. Bleiben Sie behütet.

Lutherstadt WIttenberg, 27. Januar 2007

Pressestelle der EKD
Christof Vetter