"Trendwende zur ´nachhaltigen Entwicklung´ steht noch aus"

Präses Kock zu aktuellen Fragen aus Gesellschaft und Kirche

"Die Lage ist zu ernst, als dass es Sinn macht, um 10 Cent mehr oder weniger Ökosteuer endlose politische Streitigkeiten anzuzetteln", so der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, in seinem Ratsbericht zum Synodenauftakt. Die nötige Trendwende zur ´nachhaltigen Entwicklung´ stehe noch aus, die Reichtümer der Erde würden von den Industriegesellschaften über ein erträgliches Maß hinaus in Anspruch genommen.

In seinem Bericht für die Tagung der 9. Synode der EKD vom 3. bis 8. November in Timmendorfer Strand äußert sich der Ratsvorsitzende zu aktuellen gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen. "Eine Gesellschaft, die Fragen nach der Grundlage ihres Menschenbildes nicht mehr stellt, stirbt an Verantwortungslosigkeit. Jedenfalls gibt es neben der Botschaft von Gottes Liebe in Jesus Christus nicht sehr viele Ressourcen, die sich als fähig erwiesen haben, der Bedrohung der Menschenwürde standzuhalten" so der Ratsvorsitzenden zum christlichen Glauben. Der gemeinsame Grund, die Grundlage dieses Glaubens, sei Gottes Liebe zum Menschen. Der Bericht trägt den Titel "Einen andern Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus".

In der einen Welt verantwortlich leben

Zu dem Aspekt "Schöpfung bewahren - Verantwortung für kommende Generationen tragen" sagt er: "Die Naturkatastrophen machen deutlich, dass wir es hier auch mit den Folgen menschlichen Handelns gegenüber Gottes Schöpfung zu tun haben. Wir müssen unser Verhältnis zur Natur, zu Gottes Schöpfung von neuem auf den Prüfstand stellen." Die nötige Trendwende zur nachhaltigen Entwicklung stehe noch aus, etwa bei der Bekämpfung der Armut, der Entwicklungsfinanzierung, dem Klimaschutz und dem Aufbau einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft.

Die Reichtümer der Erde würden "über ein verträgliches Maß hinaus in Anspruch genommen", stellt der Ratsvorsitzende fest. "Gerechtigkeit und Fairness im globalen Maßstab können auf dem Konsumniveau der Dienstleitungs- und Industriegesellschaften nicht erreicht werden." Der Ratsvorsitzende Kock sieht auch Konsequenzen für die Kirche: ´Nachhaltige Entwicklung´ als Ziel, müsse in allen Bereichen kirchlichen Lebens verankert werden.

In unserer Welt verantwortlich zu leben bedeute auch, jungen Menschen eine Herausforderung zu bieten, so Kock. Viele von ihnen würden heute das Gefühl gebraucht zu werden, nicht mehr kennen. Dabei seien gerade sie besonders gut zu motivieren und interessierten sich etwa für das Thema Gerechtigkeit. "Die Chancen einer aktiven, von jungen Menschen gestalteten kirchlichen Kinder- und Jugendarbeit sind offensichtlich."

Mit Blick auf die "eine Welt" thematisiert der Ratsvorsitzende die Strukturreform des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED). Sie habe unter anderem die Zusammenführung von EED und Brot für die Welt bewirkt. Eine Satzung für ein gemeinsames Werk werde nach reiflicher Prüfung folgen.

Im Frieden miteinander leben

Berichte über Gewalt gegen einzelne Kinder würden uns erschüttern, so Kock. Jüngste traurige Beispiele: "Jennifer und Jakob. Zwei Namen, die bekannt geworden sind durch das, was man ihnen angetan hat." Und doch sei Gewalt in unserer Gesellschaft etwas Alltägliches und verstecke sich oft im Schutz des familiären Schweigens. Die Aufforderung zum Gewaltverzicht durch Jesu Bergpredigt müsse "heute wieder aufgenommen und gestärkt werden überall, wo es zu lernen gilt, Gewalt und Aggressionen abzubauen". Solche Orte seien zum Beispiel Schulen und Familien. "Kinder und Jugendliche sind Seismographen unserer Gesellschaft. Sie sind Täter und Opfer gleichermaßen." Es gelte, mit eigenen Beispielen Vorbilder für gewaltfreie Lösungen zu geben.

Wie verwundbar die Welt geblieben sei, so Kock, das zeigten "die Attentate auf die Synagoge in Djerba und die Vergnügungsviertel auf Bali, die Geiselnahme von Moskau, die Serie der schweren Ausschreitungen gegen internationale Entwicklungs-Einrichtungen in Pakistan, die Übergriffe auf christliche Gemeinden in einigen islamischen Staaten, der fortgesetzte Terror in Nordirland, die Morde der ETA und gewaltsame Übergriffe gegen Minderheiten in vielen Ländern".

Der Krieg in Afghanistan habe zwar dem Terror-Netzwerk eine seiner Stützen entzogen, so urteilt Kock, doch "wenn vor Jahresbeginn unsere Bedenken gegen ein militärisches Vorgehen groß waren, so scheinen sie im Rückblick eher gerechtfertigt als ausgeräumt". Es werde vor allem auf eine breite internationale Zusammenarbeit ankommen und darauf, das Bündnis im Kampf gegen den Terror zusammenzuhalten. "Ein Krieg gegen den Irak - erst recht ohne UNO-Mandat - wäre ein Rückschlag für den gesamten Mittleren Osten." Auch aus Gründen der Verfassung und des Strafrechts sei eine deutsche Beteiligung an einem Präventivkrieg nicht möglich.

Im Konflikt Israel und Palästina könne es nur eine gemeinsame Zukunft beider Völker geben. Nach gemeinsamer Überzeugung mit dem Zentralrat der Juden könnten kritische Fragen und Widerspruch gegenüber der israelischen Regierung durchaus geäußert werden.
In Frieden miteinander leben stehe auch in Zusammenhang damit, wie man fremden Menschen begegne. In der Integration liege, so der Ratsvorsitzende, "eine zentrale Zukunftsaufgabe für unser Land, um Vorurteile, Ängste und feindselige Haltungen gegenüber Fremden abzubauen". Der Islam stehe in Europa vor der Frage, ob er bereit und in der Lage sei, sich auf die Bedingungen einer freiheitlichen Demokratie einzulassen. Bei über drei Millionen Muslimen in Deutschland sei Dialog der einzig vorstellbare Weg in die Zukunft.

Mehr Gemeinschaft wagen

Unter dem Stichwort "Strukturdebatte" werde in der Kirche lebhaft über kirchliche Strukturen diskutiert. "Es sind die Gliedkirchen der EKD und ihre konfessionellen Bünde, die diese Strukturdebatte führen und führen müssen." Sie hätten zu entscheiden, wie sich die EKD verändern solle und welche Zusammenschlüsse notwendig seien.

Gemeinschaft habe sich auch bei der EKD-Initiative 2002 gezeigt. Getragen von allen Landeskirchen sei sie "ein Signal für die immer enger werdende Gemeinschaft in der EKD". Das Konzept habe große Anerkennung in der Werbebranche gefunden und sei zum Beispiel auch im Internet lebhaft diskutiert worden. Gemeinschaft im ökumenischen Sinne werde im kommenden Jahr auch beim ersten gemeinsamen Kirchentag in Berlin praktiziert. "Wir Christen sind überall in der Welt zu einem gemeinsamen Glaubenszeugnis herausgefordert."

Weiteres Thema: Der Abschlussbericht der Sonderkommission des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK). Zum Beschluss, den Begriff "ökumenischer Gottesdienst" nicht mehr zu verwenden und stattdessen von "interkonfessionellem gemeinsamem Gebet" zu sprechen heißt es: "Der Beschluss des Zentralausschusses ist für das evangelische Verständnis eines ökumenischen Gottesdienstes nur schwer nachvollziehbar. Es ist gerade auch aufgrund der vielen positiven Erfahrungen mit den orthodoxen Geschwistern in unserem Land nicht einzusehen, warum nicht auch andernorts mit orthodoxen Kirchen ökumenische Wortgottesdienste gefeiert werden können." Nach wie vor sei aber das Interesse an einem starken ÖRK groß.
"Die christlichen Wurzeln Europas gemeinsam bekennen", diese Notwendigkeit sieht der Ratsvorsitzende im Hinblick auf den Entwurf eines europäischen Verfassungsvertrags. Die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten dürfe in Europa rechtlich nicht vereinheitlicht werden. In der Präambel solle der Anteil des Christentums an der Prägung Europas deutlich zum Ausdruck kommen.

Das Jahr der Bibel 2002

"Wir dürfen uns im Blick auf uns selbst, im Blick auf unsere Wirkung auf die Gesellschaft keine Illusion machen", formuliert Kock kritisch. Statt die Ansprüche zu hoch zu stellen, mache es Sinn, hinabzusteigen zum tragenden Grund. Das Jahr der Bibel diene dazu "in dem Haus Gottes aus lebendigen Steinen immer auch das Fundament im Blick zu behalten. Denn aus dieser Orientierung am Grund des Glaubens können alle Beunruhigungen unserer Zeit ausgehalten, alle Abgründe des Menschen ausgelotet, alle Gleichgültigkeit erschüttert werden."


Timmendorfer Strand, 03. November 2002
Pressestelle der EKD
Anita Hartmann

 

Hinweis: Der Ratsvorsitzende wird an einer Stelle seines Berichts von seinem ursprünglichen Text abweichen. Wir werden Sie darüber informieren, sobald uns die Änderung vorliegt.