Die "Tugend des Glaubens" aus evangelischer Perspektive

Vortrag des Ratsvorsitzenden in der hannoverschen Marktkirche

Kirche dürfe nicht als "Bundesagentur für Werte" missverstanden werden, die zur Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnisse instrumentalisiert wird. Darauf hat der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, in einem Vortrag in der hannoverschen Marktkirche hingewiesen. Zur Eröffnung der Vortragsreihe "Moralische Reden über Sünden und Tugenden" am Mittwoch, den 25. August, erklärte Huber, wer die "Brauchbarkeit der Kirche" an der Vermittlung von gesellschaftlicher Orientierung messe, habe Glauben missverstanden: "Gott ist gesellschaftlich nicht funktionalisierbar." Wenn das Klagen über die allgemeine Orientierungslosigkeit automatisch mit der Erwartung an die Kirche einhergehe, diesem Misstand abzuhelfen, stelle sich für ihn die Frage, ob nicht ein neues Nachdenken über den Glauben notwendig sei.

Er nehme in machen Bereichen der Kirche eine "Frömmigkeit der Sehnsucht" wahr, die sich vom "siegesgewissen Glauben der Väter und Mütter" unterscheide und sich als "zögerliches, vorsichtiges, suchendes Sich-Ausstrecken nach Gott" äußere. Vor diesem Hintergrund über die Tugend des Glaubens zu sprechen bedeute, "der verbreiteten Selbstsäkularisierung in unseren Kirchen zu widersprechen und mutig für die Sehnsucht nach Gott einzustehen." Die damit einhergehende Konzentration auf den Glauben als "geistlichen Markenkern" der Kirche führe seiner Ansicht nach nicht zu einer Abwendung von gesellschaftlichem Engagement. "Ich sehe die größere Gefahr darin, dass es uns überhaupt an Glaubensmut gebricht; ich sehe sie nicht so sehr darin, dass uns die Themen gesellschaftlicher und politischer Art ausgehen", so Huber.

Die Frage nach Gott sei daher wichtiger als die Frage nach Tugenden, erklärte Huber im Blick auf das Thema der Vortragsreihe. Aus evangelischer Sicht gebe es ohnehin darauf eine "urreformatorische Antwort": "Keine unserer Tugenden reicht aus, die Kluft des Unglaubens und der Gottlosigkeit zu überbrücken." In der Überwindung dieser Kluft durch Gottes Gnade wurzele alles gute Tun und alle Tugendhaftigkeit. "Gottes grundlose Zuwendung zum Menschen bewegt ihn dazu, Tugenden für sich selbst als wichtig zu finden und Gutes zu tun, wo immer er kann."

In der Frage nach evangelischen Tugenden seien ihm vier Wesensmerkmale wichtig, so Huber: das Bewusstsein der eigenen Grenzen zu verteidigen, Positionen zu diskutieren und nicht per Dekret zu entscheiden, den Einzelnen zu würdigen und zu Reformen zu ermutigen. Gott als Gegenüber befreie vom Zwang zu grenzenloser Selbstüberschätzung. "Gottes Geist versöhnt uns mit unseren Grenzen, er ist kein Leistungsverdoppler, kein Medaillenspiegeloptimierer." Wo Mut zu Reformen gefordert werde, könne die evangelische Kirche "Zuversicht ausstrahlen, Klagen begrenzen und Wehklagen verhindern." Denn eines sei allen klar: "Nichtstun ist zur Zeit die schlechteste aller denkbaren Alternativen."

Hannover, 24. August 2004

Pressestelle der EKD
Silke Fauzi

Der Vortrag im Wortlaut