Eugen Gerstenmaier zum 100. Geburtstag

Wolfgang Huber: Maßgeblicher Gestalter der Kirche und der Politik

Als wichtigen Verantwortungsträger der evangelischen Kirche nach 1945 und als eine der prägenden Gründergestalten der Bonner Republik hat der Vorsitzende des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, den ehemaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaier gewürdigt. Im Blick auf Gerstenmaiers 100. Geburtstag am 25. August 2006 schreibt der Ratsvorsitzende, der Theologe habe entscheidend zu einem neuen Verhältnis von Protestantismus und Demokratie in Deutschland beigetragen. Er habe die Neuformung des diakonischen Profils der evangelischen Kirche im Nachkriegsdeutschland mitgeprägt und habe damit den Protestantismus über einen eng verstandenen kirchlichen Horizont hinaus geöffnet. Wolfgang Huber schreibt: „Seine politische Erfahrung, seine persönliche Integrität und seine überzeugte evangelische Position haben ihm einen Respekt erworben, der auch das Gedenken zu seinem 100. Geburtstag prägt.“ Eugen Gerstenmaier ist im März 1986 mit knapp 80 Jahren gestorben.

Hannover, 23. August 2006

Pressestelle der EKD
Silke Fauzi


Im Wortlaut:

Bischof Dr. Wolfgang Huber, Vorsitzender des Rates der EKD

Würdigung des 100. Geburtstags von Eugen Gerstenmaier am 25.08.2006

Mit Eugen Gerstenmaier kann schnell Der lange Eugen in Verbindung gebracht werden. Tatsächlich geht das 117 Meter und 30 Stockwerke hohe Gebäude in Bonn auf die Initiative des engagierten Protestanten und damaligen Bundestagspräsidenten Eugen Gerstenmaiers zurück. Er war Mitglied der Bekennenden Kirche, beteiligt am Widerstand des Kreisauer Kreises gegen die NS-Herrschaft, engagiert bei der Gründung der EKD und ihre Hilfswerks, Über 15 Jahre war er Präsident des deutschen Bundestags – so lange wie nach ihm keiner mehr.

Eugen Gerstenmaier gehörte zu den frühesten Verantwortungsträgern der evangelischen Kirche nach 1945; zu Recht ist er als eine der prägenden Gründergestalten der Bonner Republik, ja eine der Symbolfiguren Nachkriegsdeutschlands bezeichnet worden. Er hat entscheidend zu einem neuen Verhältnis von Protestantismus und Demokratie in Deutschland beigetragen. In seinen 1981 veröffentlichten Memoiren unter dem Titel Streit und Frieden hat seine Zeit kommentierte er dies mit den Worten: Ich habe mein Leben, mit Luther zu sprechen, in zwei Reichen gelebt, in dem Reich Gottes zur rechten und in dem zur linken Hand, auf den Schnittlinien von Kirche und Staat.

Eugen Gerstenmaier wurde am 25.08.1906 in Kirchheim/Teck geboren. Nach einer kaufmännischen Lehre und einer Berufstätigkeit als kaufmännischer Angestellter holte er 1931 sein Abitur nach und begann nach einem kurzen Studienaufenthalt in Tübingen 1932 in Rostock das Studium der evangelischen Theologie. Besonders prägte ihn der Rostocker Professor der Systematischen Theologie Friedrich Brunstäd,  bei dem er 1935 promovierte und sich 1937 habilitierte. Da Gerstenmaier sich jedoch als scharfer Kritiker von Reichsbischof Ludwig Müller und den DC hervorgetan hatte und wiederholt mit der Rostocker NS-Studentenschaftsführung aneinander geraten war, wurde ihm die Lehrerlaubnis aus politischen Gründen verweigert. Als Mitglied der Bekennenden Kirche arbeitete Gestenmeier nach kurzer Vikariatszeit in Württemberg ab April 1936 als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter im Außenamt der Deutschen Evangelischen Kirche. Damit war er Teil einer Institution, deren Aktivitäten viele Mitglieder der Bekennenden Kirche, beispielsweise Dietrich Bonhoeffer, für zu staatsnah hielten. Kirchenpolitische Gegner sahen in dem konservativen Lutheraner Gerstenmaier deshalb einen Vertreter der Reichskirche. 1942 schloss sich Eugen Gerstenmaier dem Kreisauer Kreis an. Im Zusammenhang mit dem gescheiterten Hitler-Attentat vom 20. Juli 1944 wurde er verhaftet und am 11. Januar 1945 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach 1945 wurde Gerstenmaier wegen seiner Tätigkeit im Außenamt weiterhin angegriffen. Selbst dass er nach dem 20. Juli 1944 „nur“ zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, gab Anlass, seine Rolle bei dem Umsturzversuch ins Zwielicht zu ziehen.

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft beteiligte sich Gerstenmaier maßgeblich an der Neukonstituierung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Auf der Treysaer Kirchenführerkonferenz im August 1945 wurde er zum Leiter des Hilfswerks der EKD, eines Vorläufers des heutigen Diakonischen Werkes der EKD, berufen, das er bis 1951 leitete. Sein Verständnis von Diakonie war durch die unmittelbare Not der Nachkriegszeit geprägt. Das Hilfswerk verteilte internationale Spendengelder und setzte die eingehenden Mittel so ein, dass Hilfe zur Selbsthilfe unter den Flüchtlingen geleistet wurde; der drohenden Massenverelendung suchte Gerstenmaier durch die Schaffung von Arbeitsplätzen entgegenzuwirken. Durch dieses Engagement wirkte Gerstenmaier prägend an der Neuformung des diakonischen Profils der evangelischen Kirche in Deutschland mit.

Es war Gerstenmaiers Absicht, den Protestantismus über einen eng verstandenen kirchlichen Horizont hinaus zu öffnen. Darum bemühte er sich auch als Gründer und Mitherausgeber der konservativen evangelischen Wochenzeitung Christ und Welt. In der ersten Ausgabe schrieb er 1948: Wir wollen in dieser Zeitung nicht predigen, sondern Informationen geben, in denen sich die Weite und Vielfalt christlicher Wirklichkeitserfahrung abzeichnet. Wir wollen nicht nur freundliche Schilderer der Zeitgeschichte sein, vielmehr eine deutsche Stimme im lauter werdenden politischen Konzert.

Insofern war es folgerichtig, dass Gerstenmaier begann, sich unmittelbar in der Politik zu engagieren – auch wenn die Kirchenkonferenz der EKD mit Zustimmung Gerstenmaiers im Mai 1949 beschlossen hatte, dass im Dienst stehende Pfarrer sich um der rechten Ausübung des Dienstes willen, den sie alle ohne Ansehen der parteipolitischen Zugehörigkeit schuldig sind, von der aktiven Beteiligung an Parlamenten und Parteien fernhalten sollten. Dennoch erklärte der damalige Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Otto Dibelius, dass Gerstenmaier unserer Kirche und dem, was sie zu verantworten hat, in der Politik Dienste werde leisten können, die kein anderer so zu leisten imstande wäre.

 Ab 1949 Bundestagsabgeordneter für die Christlich-Demokratische Union, wurde Gerstenmaier 1954 Nachfolger von Hermann Ehlers als Bundestagspräsident. In seiner Amtszeit trug er maßgeblich dazu, dass sich im Deutschen Bundestag ein parlamentarischer Stil etablierte, der mithalf, die junge deutsche Demokratie zu festigen. Als einer der prominenten Protestanten in der CDU bejahte Gerstenmaier die staatliche Einheit Deutschlands, aber auch die Wiederbewaffnung. Dies waren zwei Themen, die in der EKD seit 1950 besonders heftig umstritten waren. In diesen Themen vertrat Gerstenmaier eine deutlich andere Position als beispielsweise prominente Adenauer-Kritiker wie Gustav Heinemann oder Martin Niemöller. Die Außenpolitik Adenauers kritisierte er intern, da die von diesem forcierte Westbindung die Wiedervereinigung in weite Ferne rückte. Ebenso stand er Adenauers Sozialpolitik kritisch gegenüber, auch in seiner Zeit als stellvertretender Parteivorsitzender der CDU ab 1956. 1969 trat er als Bundestagspräsident aufgrund des Vorwurfs zurück, er sei selbst einer der Hauptnutznießer des Wiedergutmachungsgesetzes für Angehörige des öffentlichen Dienstes; mit dem Ende der Legislaturperiode schied er auch als Abgeordneter aus dem Deutschen Bundestag aus.

Der EKD-Synode gehörte Gerstenmaier bis zu seinem Ausscheiden aus Altersgründen über 25 Jahre an und war mit seinen Beiträgen ein geschätzter und nie unumstrittener Synodaler. Seine politische Erfahrung, seine persönliche Integrität und seine überzeugte evangelische Position haben ihm einen Respekt erworben, der auch das Gedenken zu seinem 100. Geburtstag prägt. Obwohl ihm sowohl ein erhofftes akademisches als auch das erträumte politische Amt des Außenministers verwehrt blieben, hat Gerstenmaier mit dem ihm eigenen Streben nach Unabhängigkeit die deutsche Politik und die Evangelische Kirche in Deutschland nachhaltig geprägt. Als konservativer Theologe fand er den Weg in den Widerstand und war zum Tyrannenmord bereit; als pragmatischer Gestalter half er der Kirche, die Not der Nachkriegsjahre zu lindern; als Politiker prägte er ein Schlüsselamt der parlamentarischen Demokratie.