Catholica-Beauftragter der VELKD kommentiert Enzyklika „Caritas in veritate“

Die Stellungnahme von Landesbischof Prof. Dr. Friedrich Weber im Wortlaut:

Besser konnte der Termin für die Veröffentlichung der Sozialenzyklika von Benedikt XVI. nicht gewählt werden: Einen Tag vor dem Beginn des G-8-Gipfels in Italien, der sich mit der Wirtschaftskrise, dem Hunger in der Welt und dem Kampf gegen die Erderwärmung beschäftigen wird. Der Papst ruft angesichts der dramatischen Bedrohungen nach einer „neuen Ethik“ und fordert dringend, eine „echte politische Weltautorität“ zu bestimmen. Die Enzyklika kann so durchaus als eine Kritik des Systems verstanden werden, das solche Krisen nicht verhindert.

Caritas in veritate (Liebe in Wahrheit) – so lautet der Titel der dritten Enzyklika von Benedikt XVI. Im Anschluss an Eph. 4,15 beschreibt er die Wahrheit in der Liebe komplementär als Liebe in der Wahrheit. Mit dieser Formulierung soll die christliche Liebe jenseits aller emotionalisierten Engführungen als die Kraft sozialer Empathie entfaltet werden. Diese vermag im Licht des Glaubens wie auch der Vernunft über ihre Inhalte und Ziele in allgemeingültiger und dialogfähiger Weise Rechenschaft zu geben. Die untrennbare Verbindung von Liebe und Logos, Glaube und Rationalität, die bereits die Regensburger Vorlesung deutlich machte, wird damit in sozialethischer Hinsicht fortgeführt und vertieft. In dieser Perspektive soll die christliche Liebe in ihrer orientierungsbildenden und damit zugleich ideologiekritischen Erschließungskraft transparent werden. Sie ist Benedikt XVI. zufolge unverzichtbar, um die gesellschaftspolitischen und sozialethischen Herausforderungen in der globalen Gesellschaft bewältigen zu können. Vor diesem Hintergrund unternimmt die Enzyklika den Versuch, auf anthropologischer Grundlage ein kulturelles Leitbild zu entwickeln, das im Sinne eines „neuen Humanismus“ Menschen befähigen und ermutigen will, sich in grenzüberschreitender Solidarität miteinander und Verantwortung füreinander als Geschöpfe und Ebenbilder Gottes wahrzunehmen und zu achten.

Anders als ihre Vorgängerin Spe salvi ist die neue Enzyklika kein binnentheologisches Dokument, sondern sie reagiert auf einen gesellschaftspolitischen Anlass. Sie tut dies mit dem selbstbewussten Anspruch, über den Kreis der karitativen Zuständigkeit hinaus die katholische Soziallehre als kompetente und richtungsweisende Stimme in den öffentlichen gesellschaftspolitischen Diskurs einzubringen. Dabei bezieht sie sich nicht nur auf die Weltwirtschaftskrise, sondern verhält sich auch zu den ökologischen, kulturellen und wissenschaftlichen Herausforderungen, die den Prozess der Globalisierung gegenwärtig bestimmen. Benedikt XVI. behandelt Themen wie Gerechtigkeit und Gemeinwohl, Entwicklung, Migration, Sexualität und Bevölkerungswachstum in einem angesichts vorangegangener Sozialenzykliken veränderten politischen, sozialen  und gesellschaftlichen Umfeld.

Die Ausführungen des Papstes verstehen sich als aktualisierende Fortschreibung der sozialethischen Intentionen der Enzyklika Populorum progressio von Paul VI. aus dem Jahr 1967. Deren zentrale anthropologische Kategorien sind auch für Benedikt XVI. leitend: Den Angelpunkt bildet der Begriff der Entwicklung des einzelnen Menschen, der Völker und der gesamten Menschheit. Dabei wird immer wieder betont, dass diese Entwicklung als eine ganzheitliche, d.h. als geistiger, geistlicher und materieller Fortschritt verstanden und realisiert werden muss. Die humane Entwicklung findet ihren letztgültigen Grund und ihr Ziel in der göttlichen Berufung eines jeden Menschen, seiner Bestimmung zur Liebe und Wahrheit entsprechend zu leben. Möglich wird Entwicklung aufgrund der dem Menschen von Gott geschenkten Freiheit zum selbstverantwortlichen Denken und Handeln.

Angesichts der Verbindung der Ausführungen von Populorum progressio mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil tritt der Papst der Unterscheidung einer vor- und nachkonziliaren Soziallehre entgegen und lässt keinen Zweifel daran, dass das Konzil nur als Vertiefung der „eine(n) einzige(n) kohärente(n) ... Lehre“ und in „der Kontinuität des Lebens der Kirche“ recht verstanden werden kann.

Kritisch ist anzumerken, dass vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Pius-Bruderschaft eine explizite Würdigung des Zweiten Vatikanums in diesem Kontext ein politisch wünschenswertes Signal gewesen wäre.

Hinsichtlich seiner zeitdiagnostischen Ausführungen besticht das Dokument durch eine differenzierte Sicht der ökonomischen, kulturellen, politischen und ökologischen Herausforderungen, die um eine sachgemäße Wahrnehmung der hochkomplexen Realität der modernen Welt bemüht ist. Die Phänomene der Globalisierung werden in ihrer Ambivalenz als potenzielle Chance wie auch Gefährdung der humanen Entwicklung wahr- und ernstgenommen und – entgegen aktuell beobachtbaren Tendenzen zur Fatalisierung – sehr klar in die ebenso sachliche wie moralische Verantwortung der menschlichen Freiheit gestellt. Der Umgang mit den ökonomischen und ökologischen Krisen der Gegenwart wird damit dezidiert als eine kulturelle Gestaltungsaufgabe benannt, an der sich Kirche maßgeblich beteiligen will.

Ebenso bemerkens- und anerkennenswert ist der das gesamte Papier prägende Geist einer kulturellen Unvoreingenommenheit und Aufgeschlossenheit, der die Vielfalt der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und technologischen Entwicklungen als legitime Ausdrucksformen der menschlichen Natur respektiert – sofern sie bereit sind, den „Grundnormen des natürlichen Sittengesetzes“, das Gott dem Menschen „ins Herz geschrieben hat“, zu folgen. Dem entspricht die zuversichtliche Bereitschaft, die aktuellen Herausforderungen als Chance zur humanen Weiterentwicklung zu nutzen und zu meistern. Indem Benedikt XVI. theologisch das Leitmotiv von Spe salvi aufgreift, wird diese Bereitschaft als eine solche beschrieben, die sich in der Hoffnung auf Gottes Berufung zur Liebe und seiner Verheißung des Lebens verankert.

Dass konkrete Hinweise, wie die Probleme beispielsweise der Finanzmärkte zu lösen sind, fehlen, entspricht dem Charakter einer Enzyklika, ist aber dennoch bedauerlich. 

Dennoch mindert das aber meinen bereits vor zwei Jahren beschriebenen – und seitdem wiederholt geäußerten – Eindruck, dass die lutherische und römisch-katholische Kirche mehr eint als trennt, nicht. Die neue Enzyklika Caritas in veritate bestätigt ihn vielmehr. Ich bin davon überzeugt, dass die Enzyklika von ihrer kulturhermeneutischen Intention, den anthropologischen Kategorien her wie auch aufgrund einzelner Problemanalysen sehr geeignet ist, die gerade begonnene Arbeit der III. Bilateralen Arbeitsgruppe zwischen der Kirchenleitung der VELKD und der Deutschen Bischofskonferenz, die sich unter dem Thema „Die Würde des Menschen“ Fragen der Anthropologie widmen wird, zu befruchten und zu fördern. Wir sehen dem Dialog mit spannungsvoller Erwartung entgegen.

Hannover, 08. Juli 2009

Udo Hahn
Pressesprecher