Deutsche und polnische Kirchen gedenken der "Ostdenkschrift"

Erinnerung fordert weitere Schritte im Versöhnungsprozess

Gemeinsam erinnern die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und der Polnische Ökumenische Rat (PÖR) an die vor 40 Jahren erschienene Denkschrift des Rates der EKD: „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“. Sie ist als so genannte „Ostdenkschrift“ bekannt geworden und hat den Weg zu einer politischen Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen geebnet. Der PÖR und die EKD stellen dabei fest, „dass die Impulse aus der Ostdenkschrift trotz einer so reichen Wirkungsgeschichte noch nicht an ihr Ende gekommen sind. Eine Reihe von Herausforderungen ist geblieben. Solche Herausforderungen stellen sich in veränderter Form und fordern zu weiteren Schritten im Versöhnungsprozess heraus.“

Es gelte auch für die Zukunft, das Schicksal der Vertriebenen in allen Bereichen der Gesellschaft und europaweit wahrzunehmen und zu würdigen. Deshalb äußern sich EKD und PÖR in der gemeinsamen Erklärung kritisch zu dem Konzept des in Deutschland und Polen diskutierten „Zentrums gegen Vertreibung“, denn das Schicksal aller Vertriebenen müsse in das gemeinsame Gedächtnis der Völker Europas eingeschrieben werden. Da nur noch wenige Menschen aus der damaligen Generation lebten, sei es höchste Zeit für diese Erinnerung. Wörtlich erklären EKD und PÖR: „Die Einrichtung eines einzigen ‚Zentrums gegen Vertreibung’ in Berlin würde den bisherigen positiven Schritten auf dem deutsch-polnischen Weg der Versöhnung und der europäischen Dimension dieser Herausforderung nicht gerecht. Dabei wollen weder die polnischen Kirchen noch die EKD aus dem Blick verlieren, „dass die gemeinsame Erinnerung an das Unrecht der Vertreibungen nicht die Schuld des nationalsozialistischen Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges relativieren darf.“

Als europäische Herausforderung bezeichnen die Autoren der Erklärung, dass die deutsch-polnische Verständigung in die Gemeinschaft der europäischen Völker hinein wirken solle und der Gedanke der Versöhnung nicht an der Ostgrenze der Europäischen Union (EU) Halt machen dürfe. Darüber hinaus blieben auf dem Weg der Versöhnung zwischen Deutschen und Polen noch wichtige Aufgaben, denn durch „die schwierigen Herausforderungen der wirtschaftlichen Angleichung in der EU und die durch den Druck der Globalisierung“ seien Verunsicherungen schmerzlich bewusst geworden. Das gegenseitige Wahrnehmen sei noch stark von Stereotypen und Vorurteilen geprägt. „Diese klischeehaften Vorstellungen müssen in beiden Ländern öffentlich aufgearbeitet werden.“

Am 5. Oktober werden EKD und PÖR in einer gemeinsamen Veranstaltung in Warschau der Ostdenkschrift gedenken. Im Warschauer Zentrum der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen werden bei einem um 10 Uhr beginnenden Symposium der Münsteraner Kirchenhistoriker, Martin Greschat, und der Direktor des PÖR, Andrzej Woitowicz, das „Echo der Ostdenkschrift“ in Deutschland und Polen darstellen. Irena Lipowicz, die Beauftragte der polnischen Regierung für die deutsch-polnischen Beziehungen, und Reinhard Schweppe, der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Polen, werden über den aktuellen Stand der Beziehungen beider Nachbarländer berichten. Abschließend wird der Vorsitzende des Rates der EKD, Bischof Wolfgang Huber, über den „Auftrag der Kirchen in einem zusammenwachsenden Europa“ sprechen und mit den Teilnehmenden des Symposiums diskutieren.

Hannover, 14. September 2005

Pressestelle der EKD
Christof Vetter

Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und des Polnischen Ökumenischen Rates (PÖR) aus Anlass des 40. Jahrestages des Erscheinens der "Ostdenkschrift"

Am 1. Oktober 1965 hat die Evangelische Kirche in Deutschland die Denkschrift "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" veröffentlicht, die später kurz als "Ostdenkschrift" bekannt wurde. Sie wollte – 20 Jahre nach Kriegsende – einerseits ein neues Nachdenken über die Lage der Vertrieben und ihre Integration in die noch junge Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland befördern. Andererseits wollte sie einen neuen Anfang im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn ermöglichen. Neue Schritte zur Versöhnung sollten die bis dahin im Beharren auf Rechtspositionen festgefahrene Ostpolitik ablösen.

Die Ostdenkschrift hat von Anfang an intensive, teils sehr emotionale Reaktionen in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland ausgelöst. Sie öffnete den Weg zu einer Neuorientierung der deutschen Politik im Verhältnis zu den östlichen Nachbarn und ermutigte viele Menschen, vor allem in den Kirchen, aber auch darüber hinaus, eigene Schritte der Versöhnung und Verständigung zu gehen.

Dankbar blicken wir heute darauf zurück, welchem Neuanfang die Ostdenkschrift gerade für das deutsch-polnische Verhältnis den Weg bereitet hat. Der deutsch-polnische Vertrag von 1970, der Kniefall Willy Brandts in Warschau, die Entstehung der Gewerkschaft Solidarnosc, die deutsch-polnische Solidarität während der Geltung des Kriegsrechts, die Grenzöffnung, der Fall der Mauer und zuletzt der Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union - alle diese Ereignisse haben zu dem geführt, was die Verfasser der Denkschrift zwar erhofften, aber kaum erahnen konnten: eine Neuordnung Europas in Frieden und Freiheit und eine gleichberechtigte Nachbarschaft zwischen einem wieder vereinigten Deutschland und seinen östlichen Nachbarn, ohne dass die Schrecken der Vergangenheit und die in deutschem Namen aufgehäufte Schuld vergessen oder verdrängt worden wären.

Dankbar blicken wir auch zurück auf die Entwicklung der Beziehungen zwischen unseren Kirchen seit 1965. Obwohl ursprünglich an die westdeutsche Öffentlichkeit und nicht an Polen oder andere östliche Nachbarn Deutschlands gerichtet, fand die Ostdenkschrift dort eine intensive und offene Aufnahme. Sie ermutigte Verantwortliche in den Kirchen beider Länder, sich für die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen zu engagieren. So konnte es 1974 zur Gründung des Kontaktausschusses zwischen dem Polnischen Ökumenischen Rat und der Evangelischen Kirche in Deutschland kommen, der bis heute wesentlich zu einer intensiven Wahrnehmung der Kirchen in beiden Ländern beiträgt. Schon vor dem Jahr 1989 und erst recht nach der Öffnung der Grenzen hat sich eine Reihe von Partnerschaften auch im Bereich der Kirchen gebildet; der Austausch zwischen ihnen - insbesondere auch der Jugendaustausch – hat zugenommen. Viele Hilfsprojekte - auch von Vertriebenengruppen – konnten umgesetzt werden.

40 Jahre später gilt der Dank den Verfassern der Denkschrift, die in schwieriger politischer Situation ein wegweisendes Wort fanden, so dass die Denkschrift zu einem bleibenden Vorbild für die Wahrnehmung des politischen Wächteramtes der Kirche nach evangelischem Verständnis geworden ist.

Genauso gilt der Dank all jenen, die in den folgenden Jahren das Anliegen aufgenommen und die Versöhnung zwischen Deutschen und Polen durch ihr persönliches Engagement gefördert haben.

Zugleich stellen wir fest, dass die Impulse aus der Ostdenkschrift trotz einer so reichen Wirkungsgeschichte noch nicht an ihr Ende gekommen sind. Eine Reihe von Herausforderungen ist geblieben. Solche Herausforderungen stellen sich in veränderter Form und fordern zu weiteren Schritten im Versöhnungsprozess heraus.

Dies gilt etwa für das erste Anliegen der Denkschrift, das Schicksal der Vertriebenen in allen Bereichen der Gesellschaft wahrzunehmen und zu würdigen. Gegenwärtig nimmt die öffentliche Erinnerung an das Geschehen der Vertreibung viele Anliegen der Verfasser der Denkschrift auf und zeigt zugleich, wie wegweisend ihre Absichten waren.

Dabei hat sich diese Aufgabe gegenüber 1965 in zweifacher Weise erweitert hat. Zum einen ist nach der Wiedervereinigung Deutschlands zu bedenken, dass die Vertriebenen in der Geschichte der DDR an den Rand gedrängt worden waren und ihr Schicksal als "Umsiedlung" verharmlost wurde. Zum andern schließt eine Erinnerung an die Vertreibungen nach dem II. Weltkrieg notwendig auch die Erinnerung an das Schicksal all jener ein, die etwa als Polen aus Galizien und anderen Gebieten vertrieben und in die ehemaligen deutschen Ostgebiete deportiert wurden.

Wir sind der Überzeugung, dass das Schicksal aller Vertriebenen in das gemeinsame Gedächtnis der Völker Europas eingeschrieben werden muss. Angesichts der Tatsache, dass nur noch wenige Menschen aus der damaligen Generation leben, ist es höchste Zeit für diese Erinnerung. Die Einrichtung eines einzigen "Zentrums gegen Vertreibung" in Berlin würde den bisherigen positiven Schritten auf dem deutsch-polnischen Weg der Versöhnung und der europäischen Dimension dieser Herausforderung nicht gerecht. Mit den Verfassern der Denkschrift treten wir nachdrücklich dafür ein, dass die gemeinsame Erinnerung an das Unrecht der Vertreibungen nicht die Schuld des nationalsozialistischen Deutschlands am Ausbruch des Weltkrieges relativieren darf.

Für die Diskussion der europäischen Werte und des europäischen Selbstverständnisses bleibt theologisch bis heute richtungsweisend, was die Denkschrift schon vor 40 Jahren über das "Recht auf Heimat" gesagt hat: " Alles christliche Reden von Heimat wäre unzulänglich und irreführend, wenn es nicht für die Erkenntnis offen und durchscheinend bliebe, dass dem Menschen in Jesus Christus das Vaterhaus Gottes verheißen und angeboten ist, in dem er für sein Leben Geborgenheit findet, die ihm keine irdische Heimat geben kann."

Eine andere weiter bestehende Herausforderung ist die Integration der deutsch-polnischen Verständigung in die Gemeinschaft der europäischen Völker. Gerade weil Polens Ostgrenze heute die Ostgrenze der Europäischen Union darstellt, darf nicht in Vergessenheit geraten, dass das Geschehen der Vertreibung über diese Grenze hinausreicht und die Völker in der Ukraine, in Belarus, Moldawien und der Russischen Föderation, aber auch in den baltischen Ländern mit einschließt. Der Prozess der Versöhnung darf an dieser Grenze nicht halt machen. Es gilt, die Prozesse der Verständigung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk sowie zwischen dem polnischen Volk und seinen östlichen Nachbarn miteinander zu verbinden. Dabei wissen sich die Kirchen beider Länder der großen Bedeutung einer klaren Wertorientierung für die europäische Entwicklung verpflichtet.

Für die Zukunft bleiben für die Kirchen beider Völker auf dem mit der "Ostdenkschrift" begonnenem deutsch-polnischen Weg der Versöhnung wichtige Aufgaben. So machen die schwierigen Herausforderungen der wirtschaftlichen Angleichung in der Europäischen Union und die durch den Druck der Globalisierung ausgelösten Verunsicherungen schmerzlich bewusst, in welch hohem Masse die gegenseitige Anschauung von "den Deutschen" und "den Polen" noch von sehr alten Stereotypen und Vorurteilen geprägt ist. Diese klischeehaften Vorstellungen müssen in beiden Ländern öffentlich aufgearbeitet werden. Vordringlich ist auch die verstärkte Förderung des gemeinsamen Austausches von Jugendlichen und Erwachsenen. Insbesondere jungen Menschen sollten die Bedeutung der deutsch-polnischen Nachbarschaft und die Möglichkeiten zur Begegnung kompetent und attraktiv nahe gebracht werden. In Aufnahme der Impulse der Ostdenkschrift wollen die Kirchen in Deutschland und Polen weiterhin beispielhaft auf dem Weg zu einem versöhnten Miteinander vorangehen.