Sozialstaat braucht mehr Eigeninitiative

EKD-Kammer fordert Weiterentwicklung sozialer Dienste

Arbeitslosigkeit auf der einen Seite – brachliegende Arbeit im Bereich der sozialen Dienstleistungen auf der anderen: Die Ursachen für dieses Missverhältnis und die Suche nach Lösungen beschreibt die Kammer für soziale Ordnung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) in der Studie „Soziale Dienste als Chance“. Der Rat der EKD veröffentlicht diese Studie als „EKD-Text Nr. 75“ am 13. Dezember. In der Studie werden Entwicklungstrends bei den sozialen Diensten analysiert, die Herausforderungen benannt und Reformen vorgeschlagen.

„Es ist wichtig, daran zu erinnern, dass hohe Arbeitslosigkeit und nicht getane Arbeit im Dienst am Menschen in Spannung zueinander stehen,“ so der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Manfred Kock, in seinem Vorwort zu dem Text. „Die Studie will deswegen auch einen Beitrag zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit leisten.“

Soziale Dienste im Wandel

Die Veränderung der Arbeitsgesellschaft etwa durch individuell unterschiedliche Tagesstrukturen, veränderte Familiensituationen und steigende Mobilität mache ein größeres Angebot an sozialen Dienstleistungen in Erziehung, Betreuung und Pflege notwendig, heißt es in der Kammerstudie. Zwei besondere Herausforderungen stellten die Ganztagsbetreuung von Kindern und die Versorgung von behinderten Menschen dar. Die demographische Entwicklung führe auch zu neuen Aufgabenstellungen im Bereich der Versorgung älterer Menschen. Als Folge der Überalterung der deutschen Gesellschaft sei mit mehr Zuwanderung zu rechnen. „Integration wird zu einer Zukunftsaufgabe der Gesellschaft, auch der sozialen Dienste.“ Defizite in den sozialen Diensten bestünden auch bei der Integration von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt.

Angesichts der gesellschaftlichen Veränderungen seien die sozialen Dienste im Wandel: Wettbewerb und Konzentrationsprozesse bei den Trägern sozialer Arbeit und mehr soziales Engagement und Eigenhilfe seien die Folgen. „Dort, wo staatliche Angebote nicht vorhanden sind, haben sich auch privat finanzierte Humandienste entwickelt. Die Gefahr, dass soziale Dienstleistungen eher produktorientiert als beziehungsorientiert ausgerichtet sind, nimmt zu.“ Das Auseinanderdriften von hohen und niedrigen Einkommen verstärke sich. Um wettbewerbsfähig zu sein, müsse auch außertariflich entlohnt werden.

Moderner Sozialstaat braucht Eigeninitiative

Die beiden Kirchen seien in ihrem gemeinsamen „Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage“ (1997) bereits auf diese Situation eingegangen. Sie forderten "aber gerade nicht den Abbau, sondern eine Stärkung der Sozialkultur, mehr Eigenverantwortung und eine Verwirklichung wahrer Subsidiarität,“ die den Hilfsbedürftigen zur Selbsthilfe befähige, ihn aber nicht auf sich allein gestellt lasse.

Der moderne Sozialstaat habe sich bewährt, aber dabei Eigeninitiative zu wenig gefördert. „Zum sozialen Rechtsstaat gehört die Eigenverantwortung der Bürgerinnen und Bürger ebenso wie ihre Mitverantwortung für andere. An die Stelle des Versorgungsstaats soll der aktivierende Sozialstaat treten,“ heißt es im Kammertext. Initiativen auf lokaler Ebene, Einbeziehung der Betroffenen und freiwillige Arbeit trügen zur Weiterentwicklung sozialer Dienste bei. Eine solche Zivilgesellschaft dürfe jedoch keinen Ersatz für den Sozialstaat sein: „Der Staat darf sich nicht auf Anregungen und Rahmensetzung beschränken, er hat als aktivierender Sozialstaat eine wichtige Gestaltungs- und Finanzierungsaufgabe.“

Schaffung eines eigenen Tarifsystems

Ein Wettbewerb auf der Grundlage von Qualitätsstandards sei erforderlich. Außerdem müssten die Fähigkeit zur Selbsthilfe und das Engagement Freiwilliger gestärkt werden. „Gerade die Kirche muss hier eine besondere Aufgabe sehen.“ Das Lernen sozialer Verantwortung und die Entwicklung sozialer Grundkompetenz als Teil jeder beruflichen Bildung seien ein wichtiges Ziel. Bei der Bezahlung in sozialen Diensten sei das öffentliche Tarifsystem „eigentlich nicht geeignet, die spezifischen Gegebenheiten sozialer Dienste zu berücksichtigen. Ein wichtiger Reformschritt wäre deshalb die Schaffung eines eigenen Tarifsystems für soziale Dienste.“ Problematisch sei etwa die Bindung der Entgelte an Ausbildungsabschlüsse und Alter. Die Möglichkeiten zu einer leistungsorientierten Entlohnung seien im öffentlichen Tarifrecht sehr beschränkt. „Sinnvoll wäre eine Neustrukturierung der Entlohnung, wobei, ausgehend von den heutigen Gehältern, eine Aufteilung in eine Grund- und eine Leistungskomponente vorgenommen werden sollte.“ Im Bereich niedrigerer Einkommen müsse die soziale Sicherheit der Betroffenen gewährleistet sein.

Finanzierung sozialer Dienste

Für das Angebot sozialer Dienste insgesamt gelte, „dass geklärt werden muss, welche sozialen Dienste öffentlich finanziert, von den Nutzern mitfinanziert oder rein privat finanziert werden sollen.“ Das Engagement in der Gesellschaft solle sich auch in der Mobilisierung von Spenden und Stiftungen zum Ausbau sozialer Dienste zeigen. Auch die Möglichkeiten des Sponsoring seien nicht ausgeschöpft.

Die Kirchen als Trägerinnen soziale Dienste machten deutlich, dass das christliche Menschenbild seine Wurzel im Gottesbild Jesu Christi hat. „In der Anteilnahme am Leiden anderer, in Pflege und Anwaltschaft versuchen Menschen eine Antwort zu geben auf menschliche Trost- und Hilfsbedürftigkeit, auf die Sehnsucht nach Heil und Erlösung. In diesem Sinne muss die Diakonie der Kirche ihr spezifisches Profil wiedergewinnen. Darum tritt sie gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Kräften für die Gestaltungsmöglichkeiten bürgerschaftlichen Engagements und privater Finanzierung ein.“

Hannover, 13. Dezember 2002
Pressestelle der EKD
Anita Hartmann

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Hinweis: EKD-Text 75