Arme fühlen sich ausgegrenzt und abgefunden

EKD-Insitut präsentiert Ergebnisse einer Studie zum subjektiven Erleben von Armut

„Gerechte Teilhabe“ aller Menschen an den gesellschaftlichen Prozessen forderte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) im Jahr 2006. Wie Teilhabe konkret aussehen kann und wodurch sie verhindert wird, fragt die Studie „Teilhabe von unten“ des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD (SI), deren Ergebnisse am heutigen Montag in Hamburg der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Nach ihrer Lebenssituation wurden Menschen befragt, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind.

Am Beispiel von Menschen, die in Hamburg-Wilhelmsburg in Gruppendiskussionen befragt wurden, erforscht und systematisiert das Projekt nicht nur Aspekte des Leids, sondern ebenso Ressourcen, Perspektiven und Träume verschiedener Gruppen armer Menschen und ihre Wünsche nach Teilhabe. Dabei deckt die Studie des SI Bruchstellen des Teilhabe-Ideals auf. „Die Strategien, die den Betroffenen helfen, als ‚Deutungsgemeinschaft’ ihre Situation zu bewältigen, verstärken zugleich die Ausgrenzung“ erläutert Claudia Schulz, die im Auftrag des SI des Kirchlichen Dienstes in der Arbeitswelt, der Diakonischen Werke Harburg und Hamburg sowie der Koordinierungsstelle Bildungsoffensive Elbinseln der IBA Hamburg GmbH die Studie erarbeitet hat. Der finanzielle Aspekt der Ausgrenzung mache dies besonders deutlich: „Die Betroffenen gehen davon aus, auch zukünftig von staatlicher Unterstützung leben zu müssen. Sie halten ihre momentane Bedürftigkeit für unüberwindbar, weshalb die Unterstützung als eine Art ‚Abfindung’ fungiert: Die Überflüssigen, Unbrauchbaren und Nichtintegrierbaren werden in ihrer Wahrnehmung versorgt – und entsorgt. Sie verlieren damit nach eigener Wahrnehmung ihren Anspruch, auch mit Kindern oder einem Alter jenseits der Lebensmitte in den Arbeitsmarkt integriert zu werden.“

In drastischer Weise bestätigen die Ergebnisse laut Professor Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, die vorrangige Bedeutung der Armut als Perspektivarmut: „Wem ‚gefühlt’ etwas offen steht, wer das Potenzial hat, sich Optionen vorzustellen und positive Veränderungen für möglich zu halten, der ist einer verstärkten Teilhabe und damit dem Weg aus der Armut deutlich näher.“ Die Studie zeige deutliche Unterschiede zwischen Betroffenengruppen auf. Die Dynamik der Ausgrenzung werde am ehesten dort durchbrochen, wo sich Menschen über einen Arbeitsplatz oder aber die Verantwortung für ihre Kinder neue Netzwerke und Perspektiven von Teilhabe erschließen. Diese Deutung der Teilhabe durch Arbeit sei jedoch kein selbstverständlicher Effekt. „Wer nur zeitlich begrenzt, etwa im Ein-Euro-Job für einige Monate tätig ist, hat zwar das Gefühl, kurzfristig ‚Glück gehabt’ zu haben, entwickelt aber keine neue Einstellung zu Erwerbstätigkeit und einer dem entsprechenden Lebenssituation. Möglicherweise erschweren derartige Hilfen die Teilhabe sogar insofern, als sie die Sichtweise verfestigen, es gebe ‚in Wirklichkeit’ keine angemessene Arbeit und darum keine echte Chance auf mehr Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen. Dagegen wirkt eine Mitarbeit offenbar dort für die Teilhabe förderlich, wo sie als ehrenamtliche Arbeit stattfindet und eine Einbindung in ein soziales Netzwerk der Aktiven bedeutet,“ erklärt Claudia Schulz. Die Frage nach der gerechten Teilhabe, nach Hindernissen und effektiver Hilfe stelle sich so neu – sie gilt es im Dialog mit Theologie, Diakonie, Sozialpolitik, Bildungs- und Sozialarbeit zu bearbeiten.

Hannover, 8. Oktober 2007
Pressestelle der EKD
Christof Vetter


Hinweis:

Die Ergebnisse der Studie sowie erste weiterführende Überlegungen werden im Winter 2007 unter dem Titel „Ausgegrenzt und abgefunden? Innenansichten der Armut. Eine empirische Studie“ als Buch veröffentlicht. Mehr zum Projekt erfahren Sie im Internet unter http://www.ekd.de/swi/54412.html