Vortrag des Ratsvorsitzenden zu „Glauben in der Welt“

Nachfrage nach geistlicher Orientierung wächst

Die Stärkung des persönlichen, inneren Glaubens und die Erneuerung des Verhältnisses zur eigenen Kirche sind nach Ansicht des Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, vordringliche Aufgaben evangelischer Christen in der heutigen Zeit. In einem Vortrag zum Thema „Glauben in der Welt – Die Säkularisierung und die Zukunft der Kirchen“ auf der 215. Tagung der Johanniter-Arbeitsgemeinschaft für Gegenwartsfragen der Baden-Württembergischen Kommende des Johanniterordens sagte Huber am Samstag, den 22. Oktober, in Maulbronn, auch heute „stehen wir für einen Glauben, der seine gesellschaftliche Verantwortung ernst nimmt. Doch zugleich stoßen wir neu auf die spirituelle Dimension des Glaubens.“ Die Einheit von Aktion und Kontemplation, von Beten und Arbeiten habe „auch in der evangelischen Kirche Heimatrecht“. In aller nötigen Kritik müsse zugleich immer die Liebe zur Kirche erkennbar sein. „Viele unter uns reden von der eigenen Kirche sehr viel schlechter, als sie es verdient.“

Die evangelische Kirche sei eine „Gestalt und Konkretion der einen, heiligen, allgemeinen und apostolischen Kirche wie andere Kirchen auch“, erklärte Huber. Sie habe Anteil an der gesamten Geschichte der Christenheit, nicht nur an den letzten fünfhundert Jahren. „Wir haben keinen Grund, uns für eine verspätete Kirche zu halten.“ Dies tue dem Respekt vor anderen Kirchen keinen Abbruch. Dass die Stellvertretung Christi beim Nächsten allen evangelischen Christen anvertraut sei, komme überzeugend in der Leitungskultur der protestantischen Kirche zum Ausdruck. Wer meine, die hierarchische Leitungsstruktur der römisch-katholischen Kirche entspreche der Bildersehnsucht unseres Medienzeitalters besser, dem halte er selbstbewusst entgegen: „Eine Kirche, die öffentlich von mehreren Personen und dabei besonders wirkungsvoll von Frauen in Leitungsämtern vertreten wird, braucht sich nicht zu verstecken.“ Die synodale und konziliare Struktur der evangelischen Kirche habe große Vorteile.

Die Kirchen befänden sich unverkennbar in einer Spagatsituation. Während die finanziellen Spielräume enger würden und damit die faktischen Handlungsmöglichkeiten zurückgingen, wachse zugleich die Nachfrage nach geistlicher Orientierung. Es gebe kaum einen kulturellen oder gesellschaftlichen Bereich, so der Ratsvorsitzende, in dem man nicht Zeichen für eine Wiederkehr des Religiösen beobachten könne. Großereignisse wie der Weltjugendtag in Köln oder der Deutsche Evangelische Kirchentag, aber auch viele kleinere Begebenheiten zeigten: „Kirche wird wieder gefragt.“ Zugleich wandele sich der deutsche Protestantismus: er „zieht aus mancher vertrauten Wohnung aus und benutzt auch wieder einfachere Zelte und Unterstände.“ In diesen Zeiten des Wandels „brauchen wir vor allem eines, nämlich die Orientierung an der Mitte des eigenen Auftrags, das Eintauchen in das Zentrum des Glaubens.“

Die evangelische Gestalt des christlichen Glaubens stehe in besonderer Weise für verstandenen Glauben. „Das Thema Glauben und Verstehen ist genauso wichtig wie das Thema Glauben und Handeln.“ Ohne Verstehen gebe es auch keine Toleranz, so Huber weiter. Man müsse den inneren Kern in den Überzeugungen eines andern begreifen, wenn man wirkliche Toleranz für ihn aufbringen wolle: „Alles andere ist verschleiertes Desinteresse“. Im Bereich der Religionen gebe es wirkliche Toleranz nur auf der Grundlage gelebter Religion. Dies habe Auswirkungen bis hin zum Religionsunterricht: „Wenn er dem Verstehen von Religion dienen soll, sind Lehrerinnen und Lehrer vonnöten, denen Religion selber wichtig ist.“ Die Pläne des Landes Berlin-Brandenburg für ein staatliches Pflichtfach Ethik bezeichnete Wolfgang Huber, der auch Berliner Bischof ist, als Irrweg. Wenn alle Religionen aus dem gleichen Abstand betrachtet werden, entstehe kein wirkliches Verstehen und keine wirkliche Toleranz. „Beides aber brauchen wir. Deshalb finden wir uns als Kirchen mit den Berliner Plänen nicht ab.“

Am Sonnabend Nachmittag um 15 Uhr wird der Ratsvorsitzende anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Stiftes Urach einen Vortrag zum Thema „In deinem Lichte schauen wir das Licht – Quellen und Perspektiven christlicher Spiritualität“ halten.

Hannover, 21. Oktober 2005

Pressestelle der EKD
Silke Fauzi

Der Vortrag des EKD-Ratsvorsitzenden im Wortlaut