"Kiew verwandelt sich in eine Festung"

Deutscher Auslandspfarrer schreibt aus der Ukraine

Seine Kirche sei voll von erschöpften Menschen, erklärt Pfarrer Peter Sachi am Telefon. Er hat es eilig, will sich wieder um die Leute kümmern. Sachi ist Pfarrer der Deutschen Evangelischen Gemeinde St. Katharina in Kiew. In den Unruhen nach den ukrainischen Präsidentschaftswahlen bemühe sich die Kirchengemeinde Herberge und Schutzraum zu sein, so der Pfarrer.

Das Leben funktioniere, schrieb Sachi in einem offenen Brief nach Deutschland am 25. November. Die Innenstadt sei voller Menschen, aus allen Generationen, aus den verschiedenen Schichten. Äußerlich herrsche ein Anschein von Normalität: "Sie flanieren wie an Neujahr, sind zuvorkommend, höflich, halten Ordnung." Noch widerstünden sie der "Provokation, die von einigen Seiten gezielt auf sie einströmt". Zugleich verwandele sich Kiew in eine Festung.

Der Kirchenvorstand, der Wachdienst, Gemeindeangehörige und er als Seelsorger seien bemüht, die täglichen Gottesdienste und Veranstaltungen aufrecht zu erhalten. Die Unterstützung aus Deutschland, Briefe, Anrufe sei dabei sehr wichtig. "Denn wir haben auch Angst, wir sind müde, die Nerven sind dünner geworden." Die Kirche sei eine "Herberge am Weg". Hier könnten die Menschen durchatmen, ausruhen, Kerzen entzünden und beten. Sachi berichtet von gegenseitigem "Hören und Verstehenlernen".

Botschaft und andere Institutionen kümmerten sich nach Kräften. Dennoch könne vieles schnell und unvorhergesehen geschehen. "Wir hoffen auf den Advent."


Hannover, 25. November 2004

Pressestelle der EKD
Silke Fauzi 

 

Informationen zur Deutschen Evangelischen Gemeinde St. Katharina


Es folgt der Brief im Wortlaut



In den Tagen nach dem Ewigkeitssonntag,
zwischen den Jahren
nach dichtem Schneefall
und heute bei strahlendem Sonnenschein
schreibe ich euch und Ihnen,

liebe Schwestern und Brüder,
liebe Freunde und Bekannte,

werden die Hoffnungen der Menschen angenommen und gehört?
Die Verantwortlichen haben keinen Hunger. Sie sind nicht gezwungen, ihre Armut einzugestehen und einen Antrag auf Hilfe zu stellen.
Seit Jahren ist bekannt, welche Personen die staatliche Verantwortung übernommen haben.
Das Traurige ist, dass die Verantwortlichen sich nicht schämen vor dem eigenen Volk.
Die Autos mit den gedunkelten Scheiben verhindern, sich in die Augen schauen zu lassen.
Dass viele der Verantwortlichen kein Interesse haben, die Gegenwart der Menschen erträglich zu gestalten, um die Zukunft eines Volkes zu fördern. An die Kinder und Jugendlichen zu denken.
Die Menschen wussten und wissen, wer die Verantwortung trägt.
Das die Ukraine zum großen Teil umgebende Europa weiß das auch, seit Jahren.
Die offizielle Bestätigung des „Wahlergebnisses“ der Stichwahl braucht keinen zu erstaunen. Nach dem 31.10. stand es auch schon fest.
Solange die Administration, der Verwaltungsapparat zwischen dem Parlament und dem Ministerrat aus alten und neuen Kadern bestehend, funktioniert, wird sich nicht viel ändern.
Jetzt gibt es den „ukrainischen Moment“. Wieder einmal.
Die Ukraine bildet keine Einheit. Das ist nicht möglich aufgrund ihrer Geschichte. Es genügt nicht, die Sprache und eine Person als Instrumente für eine Identitätsbildung zu benützen. Kiew und Krim sind nicht nur geografisch weit voneinander entfernt.
Jedoch, es ist beeindruckend und berührend, die Geduld und der innere Drang, endlich aufzustehen und etwas zu tun.
Der Krestshatik, einer der Boulevards in Kiew ist voller Biwaks und Autobusse. Die Innenstadt ist offen und zugleich auch voller Menschen. Aus allen Generationen, aus den verschiedenen Schichten.
Es wird ein Fest gefeiert, ein Fest in Orange. Die Menschen flanieren wie an Neujahr, sind zuvorkommend, höflich, halten Ordnung.
Die Menschen widerstehen (noch?) der Provokation, die von einigen Seiten gezielt auf sie einströmt. Der Geheimdienst verfügt über viele ausgetüftelte Strategien und wird von anderen Institutionen unterstützt. Kiew ist eine große Stadt. Nun verwandelt sie sich in eine Festung.
Das Leben geht weiter. Das Leben funktioniert. Die Kaufhäuser, die unterirdischen Einkaufspassagen, die Supermärkte werden schon adventlich, weihnachtlich geschmückt. Freilich verharren die Menschen auch. Ihr Training zu überleben kommt ihnen auch zugute.
Wie lange werden die Kräfte reichen? Es ist schon vieles an inneren Werten zerstört. Die Verunsicherungen in der mittleren Generation sind mit Händen zu greifen.
Noch einmal: werden die Hoffnungen der Menschen aufgenommen? Oder wird für die kommenden 30 bis 40 Jahre der Pessimismus herrschen und werden die verschiedenen Fluchtweisen sich weiter verstärken?

Deshalb ist es unser Platz als Kirche inmitten der Menschen und bei den Menschen zu sein. Mit den Kräften, die uns anvertraut sind.
Die Türen offen zu halten.
Die Menschen spüren es, dass in dieser Kirche jeden Tag seit Jahren gebetet wird, seit Jahren auch für Stadt und Land, für die Menschen.
Wir dürfen christliche Gastfreundschaft bezeigen (mit Tee und Kaffee, mit einer Toilette – auch das gehört alles dazu) und bezeugen unsere Hoffnung, JESUS CHRISTUS.
Wir dürfen unsere Kirche als Herberge am Weg öffnen. Für die Menschen, die vorbeikommen, die hereinkommen, die hier durchatmen, ausruhen können, die ihre Gedanken mit den Gedanken GOTTES zusammenbringen. Kerzen entzünden. Die schauen und anbeten. Wir läuten die Glocken zu den täglichen Gottesdiensten. Wir dürfen Gastgeber sein. Ein Raum des Schutzes und des Bergens. Und es ist ein gegenseitiges Hören und Verstehenlernen. Das Leben geht weiter. Wir haben unsere täglichen Veranstaltungen.

Und das tun wir, der Kirchenvorstand, der diensthabende Wachdienst, andere Gemeindeangehörige, in der unterstützten Gewissheit, dass ihr und Sie für uns beten, an uns denken, uns in eurem und Ihrem Herzen halten und mittragen.
Denn wir haben auch Angst, wir sind müde, die Nerven sind dünner geworden. Die Tränen müssen geweint werden. In all dem bin ich mittendrin. Am Tag und in der Nacht. Als Seelsorger, Hirte, als ein Getragener und Empfangender.
In diesem Sinne danke ich euch und Ihnen für alle Anrufe, für die schriftlichen Zeichen des Dabeiseins. Mehr denn je wird es für die kommende Zeit notwendig sein, dass ihr und Sie als Engel um uns seid, um diese Stadt, um dieses Land.
Freilich sind wir auch in der Stadt nicht allein. Botschaft und andere Institutionen kümmern sich nach Kräften.
Denn schnell und vorhergesehen kann vieles geschehen.
Wir hoffen auf den Advent.

Bleibt allesamt behütet,

euer/Ihr
Peter Sachi

Kiew, nach dem Ewigkeitssonntag