Leitartikel für DIE WELT, Ausgabe 24. Dezember 2004

Bischof Wolfgang Huber

"Fürchtet Euch nicht!“ So grüßen die Engel in der Weihnachtsgeschichte die Hirten auf dem Feld bei Bethlehem. Sie geben dieser Aufforderung eine klare Begründung: „denn euch ist heute der Heiland geboren.“ Diese Botschaft der Engel steht in der Mitte des Weihnachtsfests. Es ist eine Botschaft des Vertrauens. Sie ruft dazu auf, Vertrauen zu wagen.

Die Botschaft trifft in unserem Land auf eine Stimmung, die durch Zweifel und Unsicherheit geprägt ist. Die Debatte über Reformen, die Spannungen zwischen sozialen Gruppen, die Verschiebungen zwischen den Generationen und die Bedrohung durch den Terror haben im zu Ende gehenden Jahr viele Menschen beunruhigt. Diese Unsicherheit kann eine Lebenshaltung hervorrufen, die es nicht mehr wagt, ohne Furcht ins neue Jahr zu blicken. Dabei soll es nicht bleiben.

Endlich hat die Reformdebatte in unserem Land klare Konturen gewonnen. Alle gesellschaftlichen Kräfte wissen, dass Reformen nötig sind. Die anstehende Reform hat ihren Sinn darin, auch für nachkommende Generationen Freiheiten zu bewahren, die vielen heute selbstverständlich sind. Sie soll sicherstellen, dass weder heute noch morgen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind, diese Hilfe entbehren müssen. Sie soll sich daran ausrichten, dass auch morgen noch Armen geholfen wird und Kranke versorgt werden. Sie soll Bildung ermöglichen und den Zugang zu Arbeit eröffnen, Familien fördern und das Verhältnis der Generationen gerechter gestalten. Sie soll Menschen dazu befähigen, ihren Beitrag in der Gesellschaft zu leisten und ihnen dabei helfen, dass sie in Würde alt werden können. Für diese Reform immer wieder einzutreten, dazu ermutigt die Botschaft des Vertrauens, die uns an Weihnachten entgegentritt.

In diesem Jahr ist mit neuer Eindringlichkeit bewusst geworden, dass sich der Altersaufbau der Gesellschaft wandelt. Was schon seit Jahren bekannt ist, wird jetzt endlich bewusst wahrgenommen. Auch wenn die Worte, die dafür benutzt wurden – wie etwa. „Krieg der Generationen“ – oft unangemessen sind, ist das Erwachen zu begrüßen, auch wenn es spät kommt. Die Zuwendung zu den Lebensmöglichkeiten der nächsten Generation muss als Thema erster Ordnung begriffen werden. Generationengerechtigkeit bedeutet, die Potenziale jeder Generation wahr zu nehmen, zu stärken und zusammen zu führen. Menschen aller Generationen sollen an Bildung und sozialer Sicherheit teilhaben und zu gesellschaftlichem Engagement befähigt werden. Der Mut zu Kindern und die Freude an Kindern müssen das gesellschaftliche Klima wieder prägen. Ohne das Kind gäbe es Weihnachten gar nicht!

Das Vertrauen ist in diesem Jahr auf mancherlei Wiese erschüttert worden. In Erinnerung werden die zerstörten Eisenbahnwaggons in Madrid bleiben, die Gesichter der Kinder aus Beslan oder das Bild des ermordeten holländischen Regisseurs Theo van Gogh. Auch solche Bilder der Gewalt zeigen; wie nötig wir die Botschaft der Engel haben! Jede einzelne Terrortat verstärkt die Angst vor neuem Terror. Fassungslos stehen Menschen vor den Zeugnissen der Gewalt. Allen Fanatikern muss deutlich widersprochen werden: Gewalt ist keine Lösung. Ein aufrichtiger, auch kritische Punkte berührender Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser und kultureller Prägung ist vonnöten.

Die Krise des Vertrauens in unserer Gesellschaft wie die Erfahrung von persönlichen Vertrauenskrisen lassen genauer nachfragen, worin denn ein Vertrauen begründet ist, das in Anfechtungen nicht zerbricht und aus der Krise herauszuführen vermag.

Vertrauen ist ein Grundwort christlicher Existenz und der Kern der weihnachtlichen Botschaft. „Euch ist heute der Heiland geboren“ verweist auf den, der niedergedrückte Menschen mit dem Vertrauen, das er in ihnen wachrief, wieder aufgerichtet hat: „Dein Glaube hat dir geholfen; geh hin in Frieden!“ Der Glaube, den Jesus Christus den Menschen zusprach, ist in seinem Kern Vertrauen. „Fürchtet euch nicht“, rufen die Engel den Hirten zu. Auch das heißt nichts anderes als: „Habt Vertrauen.“ Vertrauen ist immer damit verbunden, dass Menschen sich verlassen – und zwar in einem doppelten Sinn: Sich-verlassen bedeutet sowohl, von sich selbst abzusehen, als auch, sich auf einen anderen ganz einzulassen. Wer bei sich bleibt, muss sich mit der Unbeständigkeit der eigenen Person abfinden. Wer nicht vertraut, bleibt in einem unguten Sinn des Wortes eigen-verantwortlich und letztlich überfordert. Wer sich nicht verlässt, fühlt sich verlassen. Deshalb rufen die Engel auf zum Vertrauen auf Gott. Vertrauen, das auf Gottvertrauen beruht, vermittelt einen Standpunkt im Leben. Zu diesem Vertrauen laden die Engel die Hirten auf den Feldern bei Bethlehem und mit ihnen alle Menschen „guten Willens“ ein. Weihnachtliches Vertrauen ermutigt dazu, aufgrund der Heiligen Nacht von Gott Gutes zu erhoffen. So kann Weihnachten einen Vertrauenspaktes begründen: Einen Pakt zur Erneuerung des Vertrauens im Jahr 2005.

Bischof Dr. Wolfgang Huber
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland


Hannover, 23. Dezember 2004
Pressestelle der EKD
Christof Vetter