Eigenverantwortung braucht Solidarität

Wolfgang Huber: Wir leben aus grundloser Güte

Die Eigenverantwortung des Einzelnen, zu der die politischen Reformvorhaben dieses Herbstes aufrufen, könne nur in einer Atmosphäre der Solidarität und der Anerkennung gedeihen, so der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber, in seiner Predigt zum Buß- und Bettag am heutigen Mittwoch in der Christuskirche in Mannheim. "Zutrauen zu uns selbst haben wir nur, so lange wir uns auf eine Solidarität verlassen können, die uns auch in Schwäche und Hilflosigkeit nicht allein lässt."

Das Gleichnis vom Feigenbaum aus dem Lukasevangelium (Kapitel 13, Vers 6 bis 9) mache deutlich: "Wir leben alle aus grundloser Güte." Der Eigentümer eines Weingartens will einen Baum fällen lassen, der seit drei Jahren keine Frucht gebracht hat. Doch der Weingärtner erbittet eine Gnadenfrist: "Lass ihn noch dies Jahr."  Bei Menschen ginge es nicht viel anders zu, so der Ratsvorsitzende. Wir selbst und andere fragten danach, "welchen Ertrag unser Leben hat, ob wir den Raum nutzen, der uns zur Verfügung steht." Versagensängste seien weit verbreitet. Junge Leute ohne Ausbildungsplatz zweifelten am Nutzen ihrer Existenz, ältere Arbeitnehmer verlören durch Rationalisierungsmaßnahmen oder die schlechte Konjunktur ihren Arbeitsplatz und fühlten sich entwertet. "Zu hören, wie über die Rente mit 67 geredet wird, und selbst schon fünfzehn Jahre vorher nicht mehr zu den Beitragszahlern zu gehören: Für die Betroffenen klingt das wie Hohn."

Beim Lesen des biblischen Gleichnisses könne man meinen, dass auch Gott Rechenschaft fordert. Ihm gegenüber habe man zu verantworten, ob das eigene Leben Frucht bringe. "Aber das volle biblische Gottesbild ist das nicht", erklärte Huber. Im Weingärtner begegne die Autorität des bittenden Christus, der für uns bei Gott eintrete. In ihm erkenne man "die grundlose Güte, die bedingungslose Liebe, Kern und Stern des Evangeliums." Das Gleichnis drohe und verurteile nicht, sondern richte auf.

"Barmherzigkeit bringt Frucht", fasste Huber zusammen. Der Mut zu neuen Schritten brauche einen solchen Geist der Barmherzigkeit. Die Eigenverantwortung, "zu der wir in allen denkbaren Hinsichten ermahnt werden", habe ja auch einen guten Sinn. Denn zur Solidarität werde unsere Gesellschaft nur fähig bleiben, wenn "jeder von uns das, wofür er selber sorgen kann, auch selbst in Angriff nimmt." Damit seien aber auch Ängste und Unsicherheit verbunden. Die Bereitschaft, Reformen anzunehmen, wachse, wenn die Atmosphäre in der Gesellschaft von einem solchen Geist der Barmherzigkeit geprägt sei: "dem Geist der Anerkennung und nicht der Versagensangst, dem Geist des Zutrauens und nicht des Alleingelassenwerdens."

Hannover, 19. November 2003

Pressestelle der EKD
Silke Fauzi

Wortlaut der Predigt