Predigt zum Neuen Jahr in der Dresdener Frauenkirche (Johannes 14, 4-6)

Bischof Dr. Wolfgang Huber, Ratsvorsitzender der EKD

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt. Amen.

I.

Dieser Morgen, liebe Gemeinde, öffnet unsere Herzen für den Gottesdienst in dieser wunderbaren Kirche. Zugleich öffnen sich die Pforten des Neuen Jahres; sie geben den Blick frei auf den unverstellten Morgen des unverbrauchten Jahres 2008. Vor unseren Augen erstreckt sich das Panorama einer offenen Landschaft. Weit ist der Blick. Einzelne Orte kennen wir schon, zu denen uns die Wege dieses Jahres führen werden. Zaghafte oder mutige Ideen für Verabredungen und Verpflichtungen bilden das Bett, durch das der Strom dieses Jahres fließen wird, so wie die Elbe, gemächlich bald, bald lebhaft bewegt. Der Blick auf das Neue Jahr lässt Berge der Hoffnung und Täler von Befürchtungen vor Augen treten.

Nicht nur mit Hoffnungen, sondern auch mit Sorgen gehen wir auf das Neue zu. Auch diese Jahreswende ist wieder von Gewalt überschattet. Die Ereignisse in Pakistan stehen uns allen vor Augen. Wer findet den Ausweg aus dem Teufelskreis der Gewalt? So fragen wir und wissen: Ein einzelner kann es nicht sein. Die Überwindung der Gewalt ist eine Aufgabe der Völkergemeinschaft. Aber jeder einzelne muss seinen Beitrag leisten, auch hier in unserem eigenen Land.

Wir alle haben auch im persönlichen Leben mit Ungewissheiten zu kämpfen. Scheinbar bekanntes Terrain enthält unerforschte Teile. Manchmal wünschten wir uns, wir könnten erst einmal einen Erkundungstrupp in das Land von Morgen schicken, bevor wir uns selbst auf den Weg machen. Doch das Leben wird vorwärts gelebt und rückwärts verstanden. Vertraut ist uns nur, was schon war. Vertrauen brauchen wir für das, was kommt. Jeder Tag erwartet uns so, wie Gott ihn uns schenkt.

Viele haben sich in der vergangenen Nacht über ihre Vorhaben und Vorsätze für das neue Jahr ausgetauscht. Mit diesem Silvesterbrauch wollen wir dem neuen Jahr zumindest eine Überschrift geben; wir wollen es so früh wie möglich mit einem eigenen Akzent versehen. Am liebsten wäre uns, wir hätten für den Weg durch das neue Jahr ein Navigationssystem, nach unseren eigenen Vorstellungen programmiert, das uns mit freundlicher Stimme auch durch unwegsames Gelände sicher hindurchleitet.

Doch die entscheidende Gewissheit für das neue Jahr gewinnen wir durch solche Vorstellungen nicht. Sie wächst aus der Zuversicht des Glaubens. Er hält sich an das Wort Jesu, das uns durch dieses Jahr leitet. Jesus sagt: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“

Auch biblische Texte liefern keine detaillierte Karte von dem, was vor uns liegt. Sie bieten etwas anderes: die Gewissheit, dass Gott im Morgen wartet. Die Orientierung, die wir in Jesus Christus finden, geht über alle noch so sinnvollen technischen Errungenschaften unserer Zeit hinaus. Sie stellt unseren Weg unter eine besondere Verheißung. Auf diese Verheißung hören wir.

Zu seinen Jüngern sagt Jesus nach dem Bericht des Johannesevangeliums: „Wo ich hingehe, den Weg wisst ihr. Spricht zu ihm Thomas: Herr, wir wissen nicht, wo du hingehst; wie können wir den Weg wissen? Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.

II.

Thomas meldet sich mit einer Frage zu Wort.

Typisch Thomas, wird der Bibelkundige denken. Immer ist es Thomas, der zweifelt. Der „ungläubige Thomas“ wird er genannt, weil er auch bei der Begegnung mit dem auferstandenen Christus zusätzliche Beweise haben will. In unserer Episode kann er sich nicht damit abfinden, dass der Weg, den Jesus gehen wird, klar vor Augen liegt. Jerusalem ist das Ziel, das Kreuz ist das Zeichen für diesen Weg. Doch Thomas tritt Jesus mit einer Frage entgegen. Er bestreitet, dass die Jünger den Weg Jesu kennen: „Wie können wir den Weg wissen?“

Thomas nimmt die Dinge nicht einfach hin; er fragt nach. Er will den Weg seines Lebens nicht von einem anderen vorgeschrieben bekommen – nicht einmal von Jesus.

Es ist auch nicht so, als ob Jesus seinen Nachfolgerinnen und Nachfolgern einfach eine Lehre hinterlassen hätte, die keinen Raum für eigene Entscheidungen bietet. Der Glaube an ihn engt nicht ein, sondern macht frei. Er lädt uns dazu ein, mit erhobenem Haupt die Weite zu sehen, in die Gott uns stellt: die Weite seiner Welt, mit der er es gut meint.

Nur weil er fragt, bekommt Thomas eine Antwort. Nur weil er sucht, findet er. Nur weil er anklopft, wird ihm aufgetan. Ich will dieses beharrliche Suchen und Nachfragen den Thomasweg nennen. Mir sind Menschen, die so suchen, besonders wichtig. Sie erinnern mich an das biblische Wort: „Erbarmt euch derer, die zweifeln“. Dieses Wort ist mir im Lauf der Jahre immer kostbarer geworden. Es zeigt, dass Gott selbst sich in seiner Barmherzigkeit den Zweifelnden zuwendet. Thomas ist ein Beispiel dafür.

Wer mit dem Fragen aufhört, verfängt sich leicht in einem selbstgenügsamen Christentum oder in einem selbstgenügsamen Atheismus. Wer aber um Gott ringt, begibt sich auf einen Weg, auf dem ihm Gott selbst entgegen kommt. Er begibt sich auf den Thomasweg. Ich glaube, dieser Weg hat es vielen jungen Leuten heute angetan. Sie wollen nicht auf ausgetretenen Wegen hinterherlaufen, auch nicht auf ausgetretenen Wegen des Glaubens. Sie wollen selbst auskunftsfähig werden über die Zuversicht, die sie trägt. Sie wollen ihre eigene Sprache für die Hoffnung finden, von der sie sich leiten lassen. Ich freue mich darüber, dass die Frauenkirche im neuen Jahr zum Symbol für diese Suche der jungen Generation wird. EVA2008, das pfingstliche Jugendfestival hier in Dresden, bietet dafür Raum.

III.

Ich preise die Nachfrage des Thomas – auch deshalb, weil sie die großartige Antwort Jesu hervorruft: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Diesen Kernsatz und „Dreischritt“ unseres Glaubens gibt es nicht ohne das beharrliche Nachfragen des Thomas.

„Ich bin der Weg.“ Das ist mehr als jede Landkarte oder irgendeine Wegbeschreibung. Gemeinschaft wird verheißen. Wenn Jesus der Weg ist, dann ist niemand auf diesem Weg allein. Selbst wenn ich mich von allen anderen verlassen fühle, geht er an meiner Seite. Und wenn ich meine, nicht einmal seine Spuren im Sand zu erkennen, dann deshalb, weil er mich trägt.

Gemeinschaft wird verheißen. Wer sollte dabei nicht an die Geschichte dieser Kirche denken, vor allem an das Wunder ihres Wiederaufbaus. Eine gewaltige Gemeinschaftsleistung im Namen Jesu. Der „Ruf aus Dresden“ brachte viele Menschen auf einen gemeinsamen Weg. Wer die Geschichte dieser Kirche bedenkt, schöpft daraus Mut auch für andere Ideen und Pläne, die zuerst als tollkühn verworfen werden. Entscheidend ist, ob es der Weg Jesu ist, der Weg des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe. Auf diesem Weg sind wir nicht allein.

„Ich bin die Wahrheit.“ Von Jesus bekommen wir eine Nachricht ohne schnelles Verfallsdatum. Sein Wort bleibt. Wie oft rauschen die täglichen Nachrichten an uns vorbei; sie wecken kein Engagement. Jesus aber ist die Wahrheit in Person. Wer sich an ihn hält, kann die Spreu vom Weizen unterscheiden. Er findet Maßstäbe in der Informationsflut unserer Tage, Maßstäbe für einen Einsatz, der sich lohnt.

Selbst wenn unser Lebensweg durch tiefe Täler führt, bleibt die Wahrheit, dass Gottes Güte uns trägt. In Gottes Güte ist unser ganzes Leben eingeschlossen. Klarheit wird verheißen. Wir sind in das Licht seiner Wahrheit getaucht. Wir lassen dieses Licht hinein in unsere Verhältnisse. Wir finden uns nicht damit ab, dass Menschen gedemütigt, als Fremde verspottet, als Arbeitslose ausgeschlossen werden. Das Licht dieser Wahrheit scheint auf alle.

Und schließlich: „Ich bin das Leben.“ Jesus Christus bürgt für ein Leben, das nicht an den Grenzen unseres eigenen Daseins endet. Er stärkt und bewahrt uns zum ewigen Leben. Jesus sagt, was über alle Zeiten hinaus, auch über jeden Jahreswechsel hinaus Gültigkeit hat: „Ich lebe, und ihr sollt auch leben.“ Das ist die entscheidende Überschrift für das Jahr 2008. Zuversicht ist das Navigationssystem der Christenheit.

„Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben, niemand kommt zum Vater denn durch mich.“ Die Antwort Jesu führt uns in die Gemeinschaft, in der wir die Pakete unseres Lebens gemeinsam öffnen und die uns auferlegten Päckchen gemeinsam tragen können. Jesu Antwort zeichnet den Weg des neuen Jahres ein in die Verheißung von Gottes Ewigkeit. Folgen wir Thomas auf dem Weg des Glaubens: fragend, getrost und unverzagt.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserem Herrn.

Amen.

Für die Richtigkeit:

Hannover / Berlin, 28. Dezember 2007

Pressestelle der EKD
Christof Vetter