Huber fordert „Mut zu Reformen“

Schere zwischen Arm und Reich nicht größer werden lassen

Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber fordert in der heutigen Ausgabe der Allgemeinen Zeitung Mainz zu „Mut zu Reformen“ auf. Nach den ersten Entscheidungen kurz vor Weihnachten müsse nun „weiter gesprungen werden“ schreibt der Berliner Bischof: „Wir können die Schere nicht größer werden lassen – weder zwischen unseren Ansprüchen und den Möglichkeiten der nächsten Generation noch zwischen Reich und Arm. Wir werden nicht umhin kommen, soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten wollen. Aber das darf nicht auf Kosten derer geschehen, die schon jetzt Not leiden.“

Der Kommentar des Ratsvorsitzenden im Originalwortlaut:

Mut zu echten Reformen

Nach den hitzigen Reformdebatten des zu Ende gegangenen Jahres muss Ruhe einkehren, so mahnen die einen; denn die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht durch ständige Reformankündigungen überfordert werden. Die eigentlichen Reformen stehen noch aus, so erwidern andere. Denn der wirklich zukunftsfähige Umbau unseres Sozial- und Steuersystems hat noch nicht begonnen. Recht haben beide. Eine permanente Reformdebatte, die dann doch immer nur in Reparaturen von kurzer Haltbarkeit mündet, höhlt die Zukunftssicherheit aus, die jeder Mensch und jedes Gemeinwesen braucht. Und trotzdem: Was vor Weihnachten – glücklicherweise! – zustande gekommen ist, verdient den Namen der Reform eigentlich nicht. Die Folgerung heißt: Bei einem nächsten Anlauf muss weiter gesprungen werden. Es muss zu Reformen kommen, die diesen Namen wirklich verdienen.

Dabei wird von allen gefordert, was wir in Deutschland seit rund fünfzig Jahren nicht mehr lernen mussten: Wir müssen einen kleiner werdenden Kuchen fair verteilen. Diejenigen, die heute Arbeit haben, Geld verdienen und Ruhestandsbezüge in Anspruch nehmen, müssen ihre Ansprüche so bemessen, dass die Lasten für künftige Generationen verkraftbar bleiben. Die, die heute Gehaltssteigerungen fordern, müssen das denen gegenüber verantworten, die Lohnkürzungen oder den Wegfall der Arbeitslosenhilfe hinnehmen müssen. Wir können die Schere nicht größer werden lassen – weder zwischen unseren Ansprüchen und den Möglichkeiten der nächsten Generation noch zwischen Reich und Arm. Wir werden nicht umhin kommen, soziale Errungenschaften einzuschränken, wenn wir sie erhalten wollen. Aber das darf nicht auf Kosten derer geschehen, die schon jetzt Not leiden.

Bei all diesen Veränderungen stellt sich also die Frage der Gerechtigkeit: Soziale Konflikte der Gegenwart dürfen nicht auf Kosten der Schwächeren gelöst werden. Bei der Frage nach dem Rentenniveau und den Gesundheitsleistungen für Ältere ist das genauso zu bedenken wie bei der Frage nach der finanziellen Situation junger Familien. Weder das Leben im Alter noch das Leben mit Kindern darf zu einem Armutsrisiko werden. Aber auch wenn wir Handlungsspielräume in Anspruch nehmen, von denen unsere Nachfahren nicht einmal mehr werden träumen können, verstößt dies gegen das Gebot der Gerechtigkeit.

Bei den anstehenden Veränderungen ist die Frage nach einem gerechten Steuer- und Sozialsystem drängend. Beides ist nicht zu trennen: Die Finanzierung der Sozialsysteme auf der Beitragsseite und der Umgang mit unserem Steuersystem sind aufeinander bezogen. Wenn wir Gerechtigkeit erreichen wollen, brauchen wir ein einfaches, durchschaubares Steuersystem, das die Lasten gerecht verteilt. Es muss aber zugleich so gestaltet sein, dass Menschen es verstehen und deshalb wissen können, was sie erwartet.

Das gegenwärtige Sozial- und Steuersystem ist vor allem deshalb ein so unangenehmes Herrschaftssystem, weil niemand durchschauen kann, was einem eigentlich blüht. Abhängigkeit wird von Menschen am intensivsten erlebt, wenn sie nicht durchschauen können, was das Geflecht für sie und ihr Leben bewirkt, in dem sie sich gefangen fühlen. Die entscheidende Hoffnung in diesem Zusammenhang heißt: Wenn wir so schnell wie möglich zu größerer Durchschaubarkeit der Strukturen kommen, dann wird auch die Verunsicherung der Menschen abnehmen. Die größte Behinderung politischer Handlungsfähigkeit ist dadurch gegeben, dass Menschen sich verunsichert fühlen und deswegen eine Scheu vor Veränderungen entwickeln, wo diese dringend nötig wären – und für sie Vorteile brächten. Deshalb bleibt dies für die Kirche auch im Jahr 2004 ein zentrales Thema: der Mut zu echten Reformen.

Hannover, 10. Januar 2004

Für die Richtigkeit
Pressestelle der EKD
Christof Vetter