Bischof Huber: Religionsunterricht unverzichtbar für umfassendes Bildungsverständnis

Kultusministerkonferenz und Kirchen stellen Berichte zum Religionsunterricht vor

Der Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Wolfgang Huber, hat auf die Rolle des Religionsunterrichtes bei der Debatte um Bildungsstandards hingewiesen. In ein umfassendes Bildungsverständnis müsse auch die Vermittlung kultureller und religiöser Fundamente einbezogen sein, sagte Huber am Dienstag, 18. März, in Berlin. "Dazu leistet der Religionsunterricht einen unverzichtbaren Beitrag."

Bei der Vorstellung der Berichte über die Situation des evangelischen und katholischen Religionsunterrichtes, die von der Kultusministerkonferenz und den beiden Kirchen erarbeitet wurden, wies der evangelische Bischof darauf hin, dass der Religionsunterricht bisher in den PISA-Studien nur unzureichend berücksichtigt worden sei. Dabei sei "mit Händen zu greifen, welche Rolle übergreifende Wert- und Lebensorientierungen" für die Ausbildung einer Lesekultur oder zur gesellschaftlichen Integration beitragen könnten. "Was wir brauchen, ist ein Bildungsverständnis, das mehr umfasst als Wissen und technologische Intelligenz", so Huber.

Besonders in den ostdeutschen Bundesländern habe der Religionsunterricht - nach anfänglichen Vorbehalten - eine bemerkenswerte Entwicklung vollzogen. Dort nähmen häufig mehr Kinder am evangelischen Religionsunterricht teil, als nach dem Bevölkerungsanteil zu erwarten wäre. "In manchen Unterrichtsgruppen finden sich fünfzig Prozent oder mehr konfessionslose Schülerinnen und Schüler, die sich aus eigenem Antrieb an diesem Unterricht beteiligten." Auch in den alten Bundesländern sei der Religionsunterricht gut besucht: Die Abmeldungen lägen bundesweit unter fünf Prozent.

Für das Bundesland Brandenburg wünscht sich Huber eine Gleichstellung des Religionsunterrichtes mit dem staatlichen Unterrichtsfach "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde". Man habe sich nach den Vorschlägen des Bundesverfassungsgerichtes auf einen Modus vivendi geeinigt, die Gleichberechtigung des Religionsunterrichtes sei aber noch nicht erreicht. Umso bemerkenswerter sei es, dass die Teilnahme an diesem Unterricht "prozentual - bei insgesamt abnehmenden Schülerzahlen - ansteigt". Auch in Berlin sei eine Anpassung an die Standards der anderen Bundesländer "dringend zu wünschen". In Berlin gilt die sogenannte "Bremer Klausel", was dazu führt, "dass es nach wie vor überhaupt kein ordentliches Lehrfach im Bereich von Ethik und Religion gibt".

Insgesamt hätten sich die Regelungen des Grundgesetzes als zukunftsoffen und pluralismusfähig erwiesen. "Der konfessionelle Religionsunterricht ist weder eine großzügige Geste des Staates noch ein Privileg der Kirchen", so Huber. "Er befähigt Schülerinnen und Schüler vielmehr zur Wahrnehmung eines wichtigen Grundrechtes, nämlich des Grundrechtes auf Religionsfreiheit." Damit sei er ein elementarer Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule.

Hannover, 18. März 2003
Pressestelle der EKD
Silke Fauzi


Das Statement von Bischof Huber im Wortlaut:

Pressekonferenz zur Vorstellung der Fachberichte der Kultusministerkonferenz zum evangelischen und zum katholischen Religionsunterricht am 18. März 2003 in Berlin

Statement von Dr. Wolfgang Huber, Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD)

Es gilt das gesprochene Wort.

Die Fachberichte der Kultusministerkonferenz, die heute vorgelegt werden, machen deutlich: Der Religionsunterricht ist ein ordentliches Lehrfach; er ist ein anerkannter Bestandteil des schulischen Fächerkanons. Den Schülerinnen und Schülern ist der Religionsunterricht wichtig, er ist ein lebendiges Fach. In den westlichen Bundesländern wird der evangelische wie auch der katholische Religionsunterricht in der Regel gut besucht. Die Abmeldungen vom Religionsunterricht sind insgesamt gering; sie liegen bundesweit unter 5 %. Etwa 5 - 15% der Schülerinnen und Schüler im Evangelischen Religionsunterricht sind keine Mitglieder einer Religionsgemeinschaft oder Angehörige einer anderen Konfession bzw. Religion (meist Muslime).

Die gewichtigsten Veränderungen seit den letzten Fachberichten aus dem Jahr 1992 haben sich in den neuen Bundesländern vollzogen. Den damaligen Berichten waren die – teilweise noch vorläufigen – Rechtsgrundlagen für den Religionsunterricht in den neuen Ländern lediglich als „Annex“ angefügt. Heute ist der Religionsunterricht auch in den neuen Ländern in die schulische Wirklichkeit integriert; die Berichterstattung über diese Länder ist in den Bericht dementsprechend eingefügt.

Darin spiegelt sich eine bemerkenswerte Entwicklung. In den neuen Bundesländern hat der Religionsunterricht trotz erheblicher Vorbehalte bei Beginn seiner (Wieder-)Einführung inzwischen eine konsolidierte und akzeptierte Stellung gewonnen. Oft nehmen viel mehr Kinder am evangelischen Religionsunterricht teil, als es dem prozentualen Bevölkerungsanteil entspricht. In manchen Unterrichtsgruppen finden sich 50 % oder mehr konfessionslose Schülerinnen und Schüler, die sich aus eigenem Antrieb am evangelischen Religionsunterricht beteiligen. Diese Entwicklung ist bemerkenswert.

In Brandenburg gilt das Gesagte nach wie vor nur mit Einschränkungen. Auf der Grundlage von Vorschlägen des Bundesverfassungsgerichts hat man sich hier auf einen Modus vivendi geeinigt. Die schulische Gleichberechtigung des Religionsunterrichts ist aber noch nicht erreicht. Dabei wäre die Gleichstellung mit dem staatlichen Unterrichtsfach „Lebensgestaltung – Ethik – Religionskunde“ an sich nahe liegend. Umso bemerkenswerter ist, dass die Teilnahme am Religionsunterricht prozentual – bei insgesamt abnehmenden Schülerzahlen – ansteigt.

Vergleichbares kann man auch über Berlin sagen. Hier wird die „Bremer Klausel“ so angewandt, dass es nach wie vor überhaupt kein ordentliches Lehrfach im Bereich von Ethik und Religion gibt. Das ist in der ganzen Bundesrepublik Deutschland ein völlig einmaliger Fall. Eine Anpassung der Berliner Schulwirklichkeit an die Standards der anderen Bundesländer wäre dringend zu wünschen.

Die Besonderheiten der beiden Bundesländer, für die ich als evangelischer Bischof zuständig bin, haben mich persönlich dazu veranlasst, mich kontinuierlich mit dem Thema des Religionsunterrichts zu beschäftigen. Das trägt mir die Freude ein, heute einen Bericht zu kommentieren, der insgesamt die Tragfähigkeit der in Deutschland für den Religionsunterricht gefundenen Regelungen eindrucksvoll bestätigt. Die Regelungen des Art. 7 Abs. 3 des Grundgesetzes und ihre Fortentwicklung haben sich bewährt; sie haben sich zugleich in hohem Maße als zukunftsoffen und pluralismusfähig erwiesen. Auf ihrer Grundlage lässt sich der Religions- und Ethikunterricht auf dem Hintergrund der jeweiligen pädagogischen und religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen in den verschiedenen Teilen Deutschlands in einer Weise gestalten, in der positive und negative Religionsfreiheit in der Schule optimal zum Ausgleich kommen. Das gilt auch für die Regionen in Deutschland, in denen die Schülerinnen und Schüler in ihrer Mehrheit gegenwärtig keiner Konfession oder Religion angehören.

Der Fachbericht zitiert hinsichtlich der Grundsätze und Aufgaben des evangelischen Religionsunterrichts die Feststellungen der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) von 1997, in denen es heißt: "Die Kultur, die unsere Lebenssituation prägt, verdankt sich mit ihren freiheitlichen Überzeugungen wie ihrem sozialen, diakonischen Verantwortungsbewusstsein gerade auch christlich begründeten Überzeugungen. Nur in intensiver Auseinandersetzung mit diesen Wurzeln, mit dem breiten Strom erzählter und gestalteter Lebens- und Glaubenserfahrung, lassen sich die Geschichte verstehen, heutige Erfahrungen und Problemzusammenhänge deuten und überzeugende Zukunftsperspektiven entwickeln. Auch in einer pluralen Gesellschaft ist deswegen religiöse Bildung in der Schule ein unverzichtbarer Faktor allgemeiner und individueller Bildung. Das gilt insbesondere in einer Situation, in der interkulturelle Erziehung zum Auftrag der Schule gehört.“

Der konfessionelle Religionsunterricht ist also weder eine großzügige Geste des Staates noch ein Privileg der Kirchen. Er befähigt Schülerinnen und Schüler vielmehr zur Wahrnehmung eines wichtigen Grundrechts, nämlich des Grundrechts auf Religionsfreiheit. Er ist dadurch ein elementarer Beitrag zum Bildungsauftrag der Schule.

Stellung und Leistungen des Religionsunterrichts können über aktuelle Sorgen nicht hinwegtäuschen. Der Religionsunterricht lebt von denen, die das Fach unterrichten. Sie tun das qualifiziert und engagiert. Der Religionsunterricht braucht hier Vergleiche mit anderen Fächern nicht zu scheuen. Aufgrund der Altersstruktur der Religionslehrerschaft ist in den nächsten Jahren allerdings mit einem Mangel an Fachlehrkräften und in der Folge mit einer erheblichen Verschlechterung der Unterrichtsversorgung zu rechnen. Dieser Entwicklung muss aktiv gegengesteuert werden. Das halten auch die Fachberichte fest. Die Ausbildung und Anstellung neuer Religionslehrkräfte kostet Geld, das nicht zur Verfügungsmasse im Bildungsetat werden darf. Leider ist an den Berufs- und Sonderschulen schon seit Jahren ein erheblicher Unterrichtsausfall zu verzeichnen - meist weil die entsprechenden Lehrkräfte fehlen. Ferner ist im Zuge der Reform der gymnasialen Oberstufe darauf zu achten, dass der Religionsunterricht auch in Zukunft als gleichwertiges Fach (und das heißt ebenso: als Prüfungsfach in Bezug auf das Abitur) erhalten bleibt.

Abschließend ist festzuhalten: Der Religionsunterricht kann und will sich auch in die aktuelle Schulentwicklung aktiv einbringen. Die pädagogische Arbeit ist gegenwärtig von Lernansätzen geprägt, in denen sich traditionelle Schulfächer zugunsten von Lernfeldern beziehungsweise Lernbereichen öffnen und reformpädagogische Methoden an Gewicht gewinnen. Nahezu alle Länder erweitern ferner den Gestaltungsspielraum der einzelnen Schule durch die Möglichkeit, in einem bestimmten Rahmen individuelle Schulprogramme zu erstellen. Es wäre eine Fehlentwicklung, wenn der Religionsunterricht und die mit diesem Fach verbundenen Anliegen dabei nicht angemessen berücksichtigt würden.

Außerdem ist es wichtig, dass der Religionsunterricht ebenso in die Debatte um die Bildungsstandards einbezogen wird. Dazu gehören Evaluation und Qualitätssicherung. Bisher kommen religiöse und ethische Erziehung zum Beispiel in den PISA-Studien nicht oder nur am Rande vor. Dabei ist mit Händen zu greifen, welche Rolle übergreifende Wert- und Lebensorientierungen beispielsweise für die Ausbildung einer „Kultur des Lesens“ spielen. Eine solche Kultur lässt sich eben nicht durch eine spritzige Didaktik allein herbeizaubern. Auch die fehlende gesellschaftliche Integration von Migrantinnen und Migranten kann durch Sprachkurse allein nicht erreicht werden. Was wir brauchen, ist ein Bildungsverständnis, das mehr umfasst als Wissen und technologische Intelligenz. Es muss vielmehr die kulturellen und religiösen Fundamente von schulischem Lernen, vor allem aber auch von gesellschaftlicher Orientierung einbeziehen. Dazu leistet der Religionsunterricht einen wichtigen Beitrag; er bleibt auch in Zukunft unverzichtbar.