„Die Einsichten Luthers sind nicht überholt“

Leitender Bischof der VELKD betont aktuelle Bedeutung der Rechtfertigungsbotschaft

„Die Einsichten Martin Luthers sind im Kern nicht überholt.“ Darauf hat der Leitende Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD), Landesbischof Dr. Johannes Friedrich (München), hingewiesen. In seiner Predigt in der Schlosskirche der Lutherstadt Wittenberg sagte er am 2. März anlässlich des 60-jährigen Bestehens der VELKD, ihm liege daran, „dass wir Luthers Einsichten auch heute aufnehmen, denn sie helfen uns“. Dies gelte insbesondere für die biblische Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen allein aus der Gnade Gottes. Diese „Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes könnte auch heute noch so vielen Menschen gut tun“. Luther habe durch das Studium der Bibel herausgefunden, dass das, was uns und unser Leben eigentlich ausmache, nicht von unserer eigenen Leistung abhänge. „Wir alle sind Gott recht – egal ob arm oder reich, klein oder groß, alt oder jung, krank oder gesund, ob erfolgreich oder nicht.“ Die Menschen könnten wohl auch nur deswegen mit all den Tiefschlägen im Leben umgehen, weil sie der Liebe Gottes gewiss sein können.

Was die Rechtfertigungslehre heute bedeute, formulierte der Leitende Bischof so: „Weil wir Gott recht sind, können wir voller Zuversicht die nötigen Umbauarbeiten in unserer Kirche vorantreiben, ... haben wir keinen Grund zum Jammern, sondern Anlass zu großer Freude, ... können wir unbeirrt den Weg der Ökumene weiter gehen.“ In dieser Botschaft wüssten sich die Lutheraner auch mit den katholischen Glaubensgeschwistern einig. Dies sei in der Bestätigung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen Lutherischem Weltbund und der römisch-katholischen Kirche im Jahre 1999 zum Ausdruck gekommen.

Hannover, 02. März 2008

Udo Hahn
Pressesprecher

 

Predigt des Leitenden Bischofs der VELKD,
Landesbischof Dr. Johannes Friedrich,

in der Schlosskirche zu Wittenberg am 2. März 2008
im Festgottesdienst anlässlich des 60-jährigen Bestehens der VELKD

über Römer 3,21-28

 

Es gilt das gesprochene Wort!

Liebe Gemeinde,

 

vor 60 Jahren, am 8. Juli 1948 wurde in Eisenach die Vereinigte  Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands, kurz, die VELKD oder die V E L K D gegründet. Was – und die gibt es immer noch – so wird es mir zwar nie gesagt, aber so meine ich manchmal aus die Mienen  von  Menschen zu lesen, die nicht direkt aus den inneren Kirchenkreisen kommen. Und so manche Kollegen aus Nicht-VELKD-Kirchen fragen manchmal lächelnd: Na, wie lange wird es sie noch geben?

 

Bis 120! So wünscht man in Israel zum Geburtstag, ganz besonders gerne zum 60. Geburtstag. Ich meine zwar nicht, dass damit ein Endpunkt genannt sein soll, aber ich gehe davon aus, dass – gleich, wie lange mich der liebe Gott noch leben lässt – ich auch immer eine lebende und vor allem eine lebendige VELKD erleben werde. Denn ich werde auch in diesem Jahr 60 und möchte keine 120 Jahre alt werden.

 

Ja, aber warum braucht Ihr denn noch eine VELKD, wenn es doch eine starke EKD gibt? So fragen manchmal auch Menschen aus inneren Kirchenkreisen. Das verwundert deshalb nicht, weil unsere Arbeit der Natur der Sache nach nicht so öffentlichkeitswirksam ist – über mangelnde Bedeutung unserer Arbeit ist damit aber nichts gesagt.

 

In 10 Thesen habe ich aus Anlass dieses Jubiläums formuliert, warum mir die VELKD wichtig ist, In der letzten These fasste ich zusammen: „Die VELKD geht in all ihren Tätigkeitsfeldern wirksam von der Grundlage des lutherischen Bekenntnisses aus. Die Einsichten Luthers sind im Kern nicht überholt. „Luther ist uns weit voraus“ hat mein Vorvorgänger, der frühere Leitende Bischof D. Hirschler formuliert, Luthers Einsichten haben sich noch nicht erschöpft.“

 

Mir liegt daran, dass wir Luthers Einsichten auch heute aufnehmen, denn sie helfen uns. Und deshalb ist es wichtig, darüber nachzudenken, worum es Martin Luther und den anderen Reformatoren ging, als sie vor bald 500 Jahren ihre Kirche reformieren wollten.

 

Für den Mönch Martin Luther ging es damals um alles. Er war reichlich verzweifelt, weil er immer das Gefühl hatte, es seinem Gott nicht recht machen zu können. Die Frage „Wie werde ich gerecht vor Gott?“ hat den jungen Luther so stark gequält und gepeinigt, dass er sich selbst nicht mehr ins Gesicht sehen wollte. Für ihn war klar: Ich kann mich noch so sehr anstrengen – und werde es trotzdem nie schaffen, ein wirklich rechtschaffenes Leben vor Gott zu führen. Gebeutelt vom eigenen Unvermögen, gezeichnet vom Scheitern an den eigenen Ansprüchen sucht er Hilfe in der Heiligen Schrift. Und tatsächlich: Einige Zeilen aus dem Brief des Apostels Paulus an die Römer bringen die Wende. Die Botschaft aus dem Römerbrief ist für Luther so umwerfend, dass er am Liebsten gleich die ganze Kirche damit umgestaltet hätte. Denn da steht: Wir sind Gott recht, so wie wir sind – ohne wenn und aber. Auch wenn wir immer wieder Fehler  machen – wir sind Gott recht. Auch wenn wir den Willen Gottes immer wieder verfehlen – wir sind Gott recht. Auch wenn wir die Ansprüche, die wir selbst und andere an uns stellen, nicht erfüllen können – wir sind Gott recht. In den Worten des Paulus aus dem Römerbrief im 3. Kapitel, Verse 21-28, klingt das so:

 

21 Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. 22 Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: 23 sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, 24 und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. 25 Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher26 begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. 27 Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. 28 So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

 

Das sind für uns heute vielleicht schwierige Worte und komplizierte Sätze. Für Martin Luther war es das Herz der Bibel und das Zentrum seiner Kraft. Nicht durch „des Gesetzes Werke“, sondern „allein durch den Glauben“ werden wir gerecht. Es liegt also nicht an unserem Wollen und Laufen, sondern allein an Gottes Erbarmen, wie es an einer anderen Stelle im Römerbrief heißt. Oder anders gewendet: Das, was uns und unser Leben eigentlich ausmacht, hängt nicht von unserer eigenen Leistung ab. Wir alle sind Gott recht – egal, ob arm oder reich, klein oder groß, alt oder jung, krank oder gesund, ob erfolgreich oder nicht.

 

Dass wir Gott recht sind, war für Luther die absolut erlösende Erkenntnis. Das können wir heute vielleicht schlechter nachvollziehen – denn was hilft es, zu wissen, dass ich Gott recht bin, wenn in meinem Leben so viel schief läuft? Was hilft es, zu wissen, von Gott geliebt zu sein, wenn mir in meinem Leben Verachtung und Hass entgegenschlägt? Die Fragen könnten noch lange weitergeführt werden. Meine Antwort lautet: Ich meine, dass es mehr hilft, als es vielleicht scheint. Ich meine sogar, dass wir nur deswegen, weil wir der Liebe Gottes gewiss sein können, mit all den Tiefschlägen im Leben umgehen können. Und ich meine, dass wir erst dann Liebe schenken können, wenn wir uns selbst geliebt fühlen.

 

Ein Kollege hat mir dazu einmal eine eindrückliche Episode erzählt. Es saß an einem Abend zu Hause bei seiner Familie mit seinen zwei kleinen Kindern. Es war ein ruhiger Herbstabend, draußen war es schon dunkel und kalt. Jeder ist seiner eigenen Beschäftigung nachgegangen, ohne große Worte. Auf dem Schoß des Kollegen saß die etwas ältere Tochter und ließ sich von ihrem Vater, der nebenbei ein Buch las, ruhig streicheln. Eine friedliche Szene. Dann aber, nach einem Weilchen, stand die Tochter plötzlich auf, ging ein paar Schritte weiter zur Wiege, in der ihr kleiner Bruder lag, und streichelte den voll Hingabe genauso, wie sie selbst gerade gestreichelt wurde.

 

Das, liebe Gemeinde, ist für mich die Kraft, die unser Glaube an einen gütigen Gott freisetzen kann: Weil die Tochter ohne besonderen Anlass Hingabe und Liebe erfahren hat, ist sie unaufgefordert aufgestanden und hat dieselbe Hingabe und Liebe auch ihrem kleinen Bruder entgegengebracht. Und so kann es auch für uns sein: Weil wir wissen, dass wir von Gott so geliebt sind, wie wir sind, können wir auch anderen Liebe schenken. Weil wir Gott recht sind, können wir das Richtige tun. Am Anfang steht der Zuspruch. Nicht die Leistung oder die quälenden Selbstzweifel, sondern der Zuspruch.

 

Darum singen wir, feiern wir, hören dankbar Gottes Wort und teilen das Abendmahl miteinander: um den Zuspruch Gottes hörbar und spürbar zu machen. Wir schauen dabei auch auf das Kreuz, das nicht das Ende, sondern der Anfang eines neuen Lebens war. Dann wissen wir: Gott will nicht den Tod der Schuldigen, sondern das Leben der Menschen, die ihn dringend brauchen. Wir sind Gott recht. Wer diesen Zuspruch hört, der erkennt dann auch, was er doch immer wieder falsch macht. Wir sind Gott recht – und bekommen dadurch die Kraft, uns immer wieder dafür zu entscheiden, das Richtige zu tun.

 

Dem jungen Martin Luther hat dieser Zuspruch die Kraft gegeben, seine Kirche gehörig umzukrempeln. Mit dem legendären Anschlag seiner 95 Thesen an die Türe dieser Kirche hier in Wittenberg hat er eine Diskussion losgetreten, von deren Folgen er letztendlich selbst überrascht war.

 

Was könnten heute solche Thesen sein, die aus dem Zuspruch Gottes folgen?

 

Lassen Sie mich etwas phantasieren. Für unsere Kirchen könnten solche Thesen vielleicht lauten: Weil wir Gott recht sind, können wir voller Zuversicht die nötigen Umbauarbeiten in unserer Kirche vorantreiben. Weil wir Gott recht sind, haben wir keinen Grund zum Jammern, sondern Anlass zu großer Freude. Weil wir Gott recht sind, können wir unbeirrt den Weg der Ökumene weiter gehen. Weil wir Gott recht sind, brauchen wir nicht immer Erfolgserlebnisse in der Ökumene, sondern können den   ökumenischen Partner auch dann annehmen, wenn wir meinen, uns über ihn ärgern zu müssen. Weil wir Gott recht sind, brauchen wir auch im Reigen unserer Kirchen und kirchlichen Zusammenschlüsse nicht dauernd unsere Existenz zu rechtfertigen, sondern können uns fröhlich daran machen, gemeinsam die Voraussetzungen zu schaffen, dass Gottes Wort von der Annahme des Menschen, des Sünders möglichst viele Menschen in unserem Land erreicht.


Dass wir Gott recht sind, hängt nicht davon ab, in welchem Kirchenbund wir uns engagieren, wie viele Stellen und Finanzen uns zur Verfügung stehen, sondern allein an Gottes Gnade. Weil wir das wissen, können wir uns mit unserer ganzen Kraft den Sorgen und Nöten unseres Nächsten widmen.

 

Weil das so ist, werden wir uns auch nach wie vor denen widmen können, die unsere Hilfe brauchen. Gott sei Dank – denn die Botschaft von der bedingungslosen Liebe Gottes könnte auch heute noch so vielen Menschen gut tun. Da sind all diejenigen, die sich nutzlos vorkommen, weil sie keine Arbeit haben. Da sind die, die sich wertlos fühlen, weil sie von einer Krankheit geplagt werden. Da sind all die, die sich als Versager fühlen, weil sie mit dem Tempo der heutigen Zeit nicht mithalten können. Da sind all die, die sich überfordert fühlen, weil das Schicksal ihnen harte Prüfungen auferlegt haben. Da sind all die, die kein Selbstwertgefühl mehr haben, weil sie die Anforderungen, die sie selbst oder andere an sie stellen, nicht erfüllen können. Alle diese Menschen brauchen dringend die gute Nachricht, dass sie von Gott so geliebt sind, wie sie eben sind. Die Zeilen aus dem Römerbrief sagen uns: Du bist mir recht. Ohne wenn und aber, einfach so. Das befreit davon, sich immer mehr von den Mühlen der Leistungsgesellschaft zermalmen zu lassen. Es befreit uns von der Last, immer und überall Höchstleistungen vollbringen zu wollen.

 

In dieser Botschaft wissen wir uns gerade heute auch mit den katholischen Glaubensgeschwistern einig. Im nächsten Jahr können wir am Reformationstag 2009 ein wichtiges 10-jähriges Jubiläum feiern. 1999, wurde die Gemeinsame Erklärung der Rechtfertigungslehre von Vertretern der evangelischen und der katholischen Kirche unterzeichnet. Ich bin sehr froh, dass sich die beiden großen christlichen Kirchen in diesem wichtigen Punkt der Rechtfertigungslehre einig geworden sind und hoffe, dass wir die zentrale Botschaft mit vereinten Kräften noch besser kundtun können. Du bist Gott recht – das ist die gute Nachricht, die wir eifrig weiter sagen sollten.

 

Das ist das Ganze, die Mitte des Lebens – auch wenn wir das vielleicht nicht immer gleich erkennen können. Wir sind Gott recht. Ihm müssen wir nicht Geld, Ruhm, Reichtum, Erfolg oder Schönheit zu Füßen legen. Davon hat er uns erlöst.

 

Mein Vorvorgänger LB Hanselmann hat mit einer schönen Geschichte erläutert, was das für uns bedeutet, ich möchte Sie Ihnen am Schluss erzählen:

 

Ein Chinese der Christ geworden war, beschrieb im Gespräch mit anderen, wie er die Rechtfertigung des Sünders durch Christus versteht und sagte das folgende Gleichnis: Ich war tief in Sünden gefallen, wie in eine tiefe Grube, die in Morast endete. Der erste, der mich beim Vorübergehen in dieser Grube entdeckte, war Konfuzius, unser großer Lehrer der Moral. Er rief mir zu „Armer Mann, Du tust mir wirklich leid. Aber wie konntest Du so töricht sein und in diese Grube fallen? Solltest Du hier jemals wieder herauskommen, so sorge bitte dafür, dass Du nicht ein zweites Mal hineinfällst“. Kurz darauf kam Buddha vorbei und sah mich in meiner erbarmungswürdigen Lage. Der sagte mir, ich solle mindestens die Hälfte der Tiefe empor klettern, dann könne er mich vollends herausholen. Aber ich konnte aus eigener Kraft keinen Zentimeter vorankommen. Schließlich kam Christus. Er hat mir zunächst überhaupt keinen guten Rat ge­geben. Vielmehr stieg er selbst in die Grube hinab und zog mich mit seinen starken Armen heraus.

 

Wir sind Gott recht, liebe Gemeinde, denn er hat uns durch Christus erlöst. Daran dürfen wir uns freuen – heute und allezeit. Amen.