Karfreitagsbotschaft 2003 des Ratsvorsitzenden, Präses Manfred Kock

"Frieden ist noch nicht gewonnen"

Die Christen erinnern sich in dieser Woche an das Leiden und Sterben Jesu Christi. Viele lassen sich bewegen von den großen Werken der Musik, welche die Leidensgeschichte des Mannes aus Nazareth in unsere Zeit vermitteln. Die Christenheit hat den Tod am Kreuz nicht als Scheitern verstanden, sondern als den Sieg der Barmherzigkeit Gottes. Darum ist das Kreuz nicht im Dunkel der Geschichte verschwunden, sondern bis heute ein Signal geblieben. Es lässt uns auf die vielen Kreuze der Gegenwart aufmerken, auf die an Leib und Seele gequälten Opfer der Gewalt und die Toten der Kriege.

Die Welt steht noch unter dem Eindruck des Irak-Krieges, der eben zu Ende ging. Aber der Frieden ist noch nicht gewonnen. Die Leiden der Zivilbevölkerung, die Trauer um die Toten, die zerbombten Stadtteile, die Überfälle und Plünderungen sind noch unübersehbar. Die Hilfsorganisationen beginnen zu arbeiten, um das Leid der Schwächsten, der Kranken und Verletzten, der Kinder und der alten Menschen zu lindern. Sie fragen nicht, ob die Verursacher solcher Leiden Despoten, Demokraten oder kriminelle Nachbarn sind. Sie suchen Zeichen der Hoffnung zu setzen, wo das Leben amputiert wird, wo Angst vor neuer Ungewissheit die Seele zerfrisst.

Kein Krieg ist vor seinem Beginn so ausführlich diskutiert worden, wie der gegen den Irak. Nach dem amerikanischen Sieg steht es mit der Frage nach der Berechtigung dieses Krieges nicht besser. Er bleibt ethisch und politisch umstritten. Massenvernichtungsmittel wurden nicht entdeckt, geschweige denn eingesetzt. Die Zahlen der Opfer sind groß, durch "friendly fire" und Clusterbomben sind sie nicht beschränkt geblieben auf die kämpfenden Truppen und die Drahtzieher in Saddams Machtapparat. So traf es wieder einmal Unschuldige wie beim Embargo in den Jahren zuvor; da vor allem Kinder, die zu Tausenden an Mangelernährung und fehlender medizinischer Versorgung starben.

Noch ehe wir uns abwenden können, wie wir es sonst tun, um dem Leid auszuweichen, wird unsere Ratlosigkeit deutlich: Wir stehen als Sünder wie als Gerechte unter dem Kreuz und erkennen dort die Parteilichkeit Gottes für die Leidenden. Jesus Christus hielt das Sterben aus. Er wurde entehrt und ohne Würde ein Spott der Menschen. Die Christenheit hat in diesem Mann am Kreuz Gottes Nähe zum Leiden der Welt erkannt. Das gilt für alle Zeiten, bis heute.

Die schreckliche Koalition von Unfrieden und Ungerechtigkeit, fehlgeleitetem politischem Ehrgeiz und missbrauchter Macht ist mit dem Irak-Krieg nicht zu Ende. An mehr als dreißig Stellen in der Welt herrscht Krieg. Oft an Orten, von denen wir monatelang nichts durch die Medien vermittelt bekommen. Gegen dies alles steht die Botschaft von Karfreitag, die Botschaft vom Sieg am Kreuz: Gott sagt Ja zu seiner von Gewalt, Unrecht und Tod bedrohten Schöpfung. Diese Botschaft gilt allen Menschen, ganz gleich, ob sie an Gott glauben oder sich zu ihm bekennen, oder ob ihr Leiden die Frucht eigener oder fremder Bosheit ist. Die Spuren dieser Gottesnähe sind oft sehr verwischt. Aber wir können sie doch erkennen, wenn wir dafür einen Blick haben. Solche Spuren sind:

- Unsere Erfahrung von Schuld, Leid und Tod brauchen wir nicht zu verdrängen. Wir können sie annehmen und verarbeiten.
- Wir brauchen keine Sündenböcke mehr für eigenes Versagen.
- Wir können erkennen, wie das Kreuz die menschliche Niedertracht entlarvt.
- Wir brauchen die Machtstrukturen nicht mit Gewalt zu zerstören.

Nicht alles Leid sollen wir hinnehmen. Jesu Kreuz ist auch Protest gegen soziales Unrecht und menschenunwürdige Lebensbedingungen. Es ist darum unsere Pflicht, jedes von Menschen verursachte Leid zu bekämpfen mit allen Mitteln des Verstandes, der Politik, der Medizin.

Gleichwohl sind wir Leiden ausgesetzt, die wir nicht vermeiden können: Abschied, Trennung, Sterben. Diese Leiden bleiben Bestandteile unseres Lebens. Sie auszuhalten setzt voraus, dass wir Ja sagen zu unserer eigenen Endlichkeit. So erweist sich das Kreuz als lebendig. Die Kraft der Gottesliebe bleibt lebendig, wenn Menschen heute den Spuren dieser Liebe folgen.


Manfred Kock
Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland
Karfreitag 2003