Gottesdienst im Vorfeld zur Bundespräsidentenwahl

Prälat Reimers: "Fürbitte ist Wachsein für Andere"

Mit einem Gottesdienst in der Französischen Friedrichstadtkirche am Berliner Gendarmenmarkt wird die Wahl des Bundespräsidenten eröffnet. Eingeladen sind alle Wahlmänner und Wahlfrauen zu dem Gottesdienst, zu dem auch der Kandidat und die Kandidatin erwartet werden. Gestaltet wird der Gottesdienst von Prälat Stephan Reimers, dem Bevollmächtigten des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäischen Union, und von Prälat Karl Jüsten, dem Leiter des Kommissariates der deutschen Bischöfe – Katholisches Büro in Berlin.

Prälat Stephan Reimers von der Evangelischen Kirche erinnert in seiner Ansprache daran, dass Christen Gott für andere bitten. An diesem Tag gelte die Fürbitte besonders denen, die politische Verantwortung übernehmen.

Nachfolgend der Wortlaut der Ansprache von Prälat Stephan Reimers:

Predigttext Epheserbrief 3,14-21

"Vor wem beugen wir unsere Knie? Kräfte gibt es ja genug, die uns einordnen und beherrschen wollen. Wer sind die Mächte in unserem Leben, denen wir uns unterwerfen?

Der Verfasser des Epheserbriefes hat sich entschieden: „Deshalb beuge ich meine Knie vor dem Vater“. Er kniet vor Gott, um Fürbitte zu halten für die Gemeinde, also für uns. Er wünscht uns, dass Christus in unseren Herzen wohne und wir in der Liebe eingewurzelt bleiben. Denn „wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (1. Joh. 4,16)

„Ich habe für Sie gebetet.“ Sind Sie schon einmal so angesprochen worden? Diese Anrede weckt unterschiedliche Gefühle in uns. Steht es so um uns, dass nur noch beten hilft? Und wenn es nicht um unsere Gesundheit geht, dann erzeugt dieser Satz „Ich habe für Sie gebetet“, doch Unsicherheit. Mein Leben, meine Sorgen werden fürbittend vor den lebendigen Gott gebracht? Ist so viel Zuwendung nötig? Bin ich sie wert? Will ich sie?

Um Fürbitte wirklich annehmen zu können, braucht es Demut. Es braucht Wissen um die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten und Kräfte, Einsicht in unsere Verführbarkeit und Schwäche. Einsicht in unser Angewiesensein auf Gottes guten Geist. Demut ist ein Gefühl für die Tiefe, für die „schlechthinnige Abhängigkeit unseres Seins“. So hat es Friedrich Schleiermacher genannt, vor 200 Jahren, als er Pastor in dieser Gemeinde war.

Ein Gefühl für die Tiefe, das wünschen wir Menschen, die wir in hohe Ämter über uns stellen. Neben fachlicher Kompetenz hoffen wir auf Menschlichkeit, Bescheidenheit und Humor.

Eine Kostprobe von dieser Mischung gibt ein Ferienerlebnis unseres Bundespräsidenten: An einem Herbsttag sitzt Johannes Rau mit seiner Familie vor einer Berghütte, zu ihnen gesellt sich ein Tourist mit Kniebundhose und Gamsbart. „Darf ich Sie etwas fragen?“, beginnt der Mann vorsichtig die Unterhaltung. „Passiert es Ihnen eigentlich oft, dass Sie mit dem Bundespräsidenten verwechselt werden?“ „Ja, das passiert mir in der Tat ziemlich oft“, antwortet Rau dem Mann. „Und - ist Ihnen das denn nicht manchmal schon peinlich?“, will der Tourist wissen. „Eigentlich nicht“, antwortet Rau, „denn ich bin es ja!“ Da springt der Mann auf und haut dem Bundespräsidenten kräftig und anerkennend auf die Schulter: „Mensch, Humor haben Sie ja auch noch!“

Die Fürbitte unseres Predigttextes wünscht uns, dass wir in der Liebe eingewurzelt und gegründet bleiben, denn dann können wir begreifen, welches die Breite und die Länge und die Höhe und die Tiefe ist. Oder anders gesagt: Wir gewinnen Unterscheidungssinn für den Raum, in dem wir leben, für seine Maße und seine Grenzen.

Die Grenzen zwischen Staat und Kirche mussten in einem mühsamen und schmerzhaften Prozess gelernt werden. Die Evangelische. Kirche in Deutschland erinnert sich in diesem Monat an den Mai 1934. Im Angesicht von Terror und Einschüchterung erklärten damals die Mitglieder der Bekenntnissynode von Barmen: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.“ Gleichzeitig verwarfen sie es als Anmaßung, wenn die Kirche ihrerseits staatliche Aufgaben übernehmen wollte.

Die Synodalen von Barmen haben ihre Knie nicht vor dem Führerkult jener Jahre gebeugt, sondern stattdessen in These 4 bekannt: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere, mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.“

Viele andere Christen und Kirchenvertreter haben sich damals angepasst oder waren selbst Ideologen. Durch Schuld und Schmerzen jener Zeit belehrt, begleiten die Kirchen den heutigen demokratischen Staat in kritischer Solidarität. Immer bereit, an den Grenzen mit zu wachen, über den Schutz des menschlichen Lebens an seinem Beginn und seinem Ende. Oder dort, wo soziale Kälte droht und alte, kranke oder behinderte Menschen ausgegrenzt werden könnten. Das Wachen gilt auch für das Selbstverständnis des neuen erweiterten Europas. Welche Werte sollen in der Gemeinschaft lebendig sein? Deshalb ist uns der Gottesbezug in der Präambel so wichtig. Wir wissen es alle doch noch aus der Schule: Man schreibt seinen Aufsatz, wenn man den ersten Satz weiß. Wir sehen in diesem Wachsein an den Grenzen einen wichtigen Dienst für unser Gemeinwesen.

Auch Fürbitte ist Wachsein für Andere. Der Predigttext aus dem Epheserbrief ist für den heutigen Wahltag wie geschaffen. Heute halten wir Fürbitte für die Menschen, die das politische Leben in unserem Land gestalten - manchmal ein mühsamer und undankbarer Dienst.

Wir bitten um Gottes Beistand  - insbesondere auch für die beiden Menschen, die heute bereit sind, sich einer großen Aufgabe für unser Land zu stellen: Frau Professor Schwan und Herr Professor Köhler. Seien Sie behütet."

Hannover/Berlin, 22. Mai 2004

Pressestelle der EKD
Christof Vetter