A. Zur aktuellen Situation

A.VI. Zunehmende Relevanz von Schnittstellenproblemen im Sozialsystem

  1. Die hohe Ausdifferenzierung des deutschen Sozialsystems mit den fünf Zweigen der Sozialversicherung und den ergänzenden Leistungen der Sozialhilfe hat Vor- und Nachteile. Ein wesentlicher Vorteil ist, dass Leistungen in einem relativ hohen Ausmaß auf Bedarfe des Einzelfalls zugeschnitten werden können; erst wenn Menschen aus verschiedenen Gründen durch das primäre Netz der Sozialversicherungen fallen, sichern in letzter Instanz die verschiedenen Leistungsformen der Sozialhilfe das Existenzminimum. Auch letztere sind wiederum untergliedert, um spezifischen Bedarfen - etwa im Rahmen der Hilfe zur Gesundheit, der Hilfe zur Pflege und der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen - Rechnung zu tragen. Ein Nachteil der Ausdifferenzierung ist, dass die Verzahnung der verschiedenen Systeme häufig nicht reibungslos funktioniert und Menschen mit grundsätzlich ähnlichen Bedarfen, je nach Zuordnung, zum Teil inhaltlich und qualitativ unterschiedliche Leistungen erhalten.
  2. Die Soziale Pflegeversicherung zeigt beispielhaft auf, wie die Hinzufügung eines neuen Sozialsystems neben positiven Wirkungen auch das Auftreten von Schnittstellenproblemen und damit verbundener negativer Folgeerscheinungen begünstigen kann. Ein wichtiger Grund für die Einführung der Pflegeversicherung bestand gerade darin, die mangelhafte Verzahnung der bis dahin für Pflegebedürftige zuständigen Sozialsysteme zu überwinden. Es ist ihr jedoch bislang nicht gelungen, bestehende Abgrenzungsprobleme im Sinne einer ineinandergreifenden, gesamtkonzeptionellen Lösung zu bewältigen und vorhandene Sicherungslücken vollständig zu schließen. Wichtige Schnittstellenprobleme der Pflegeversicherung bestehen zur im SGB V geregelten Gesetzlichen Krankenversicherung, zur im SGB XII geregelten Hilfe zur Pflege und zur im SGB IX und SGB XII (Eingliederungshilfe) geregelten sozialrechtlichen Sicherung behinderter Menschen.
  3. Besonders problematisch ist dabei die Schnittstelle zwischen der Pflegeversicherung und der sozialrechtlichen Sicherung behinderter Menschen nach dem SGB IX und SGB XII. Sie ist vor allem auf den Umstand zurückzuführen, dass die Pflegeversicherung in ihrem Leitbild das Ziel einer Befähigung der Leistungsempfänger zur Teilhabe an der Gesellschaft nicht kennt und das übergreifende Recht behinderter Menschen bislang nicht beachtet, während dieses Leitbild zugleich maßgeblich für Leistungen nach dem SGB IX und der Eingliederungshilfe des SGB XII ist. Gravierende Abstimmungsprobleme treten so beispielsweise beim Persönlichen Budget nach § 17 Abs. 2 SGB IX auf. Nach dieser Rechtsnorm besteht für behinderte oder von Behinderung bedrohte Personen ein Rechtsanspruch, Leistungen des SGB IX in Form eines trägerübergreifenden Budgets zu erhalten, in das auch Pflegeleistungen einbezogen werden können. Nach § 35a SGB XI können diese Pflegeleistungen aber beinahe ausschließlich in Form von Gutscheinen, die bei zugelassenen Pflegediensten einzulösen sind, erbracht werden. Damit wird der Einbezug von Pflegesachleistungen in das Persönliche Budget praktisch unmöglich, wenn der Budgetnehmer diese nicht in Gutscheinformen ins Budget einbringen will, was dem Ziel einer eigenverantwortlichen Inanspruchnahme notwendiger Leistungen und der durch die Pflegeversicherung angestrebten Stärkung häuslicher Pflege entgegensteht. Ein weiteres Problem ist darin zu sehen, dass für pflegebedürftige behinderte Menschen Teilhabe- und Eingliederungsleistungen häufig nicht erbracht werden, obwohl z.B. nach § 13 Abs. 3 S. 3 SGB XI Pflege- und Eingliederungsleistungen einander nicht ausschließen sollen; dies gilt vor allem für alte Menschen. Eine nicht sachgerechte Trennung zwischen Pflege- oder Teilhabeleistungen findet sich zudem auch auf Einrichtungsebene: Nutzerinnen und Nutzer von stationären Einrichtungen, die vor allem Teilhabeleistungen erbringen und keinen Versorgungsvertrag als Pflegeeinrichtung haben, erhalten von der Pflegekasse unabhängig von ihrer Pflegestufe nur einen Leistungsbetrag im Umfang von derzeit maximal 256 Euro monatlich, sodass sich für Menschen, die pflegebedürftig und behindert sind, häufig eine ebenso schwierige wie folgenreiche Wahlentscheidung zwischen Pflege- und Behinderteneinrichtungen stellt.

"Und unsern kranken Nachbarn auch!"