Predigt im Berliner Dom am Israel-Sonntag

24. August 2003

I.
„Jesus sah die Stadt Jerusalem und weinte über sie und sprach: „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“

Das ist der Kern des Evangeliums für den heutigen Sonntag, das wir vorhin vom Altar gehört haben. Jerusalem steht im Zentrum dieses Gottesdienstes. Warum dies? Was sucht Jerusalem im christlichen Gottesdienst? Man kann auch umgekehrt fragen: Was suchen Christen in Jerusalem? Sie suchen den Ort Jesu, den Ort seiner Kreuzigung und Auferweckung. Sie suchen – so ist zu hoffen – die Geschichte des Volkes, dem Jesus entstammte, die Geschichte Israels. Sie vergegenwärtigen sich, dass der Bund Gottes mit diesem Volk nicht gekündigt ist. Deshalb feiern wir den Israel-Sonntag als einen wichtigen Sonntag im christlichen Kalender. Gott nimmt seine Verheißungen nicht zurück. Er bleibt dem Volk Israel treu. Spät erst haben wir erkannt, dass dies zum christlichen Bekenntnis gehört: Gottes Treue zu seinem Volk Israel. Auf schmähliche Weise haben wir als Christen uns gegen diese Treue Gottes gegenüber seinem Volk vergangen. Auch in der christlichen Predigt geschah das. Im Rassenantisemitismus und seinen Gräueltaten fand der christliche Antijudaismus einen bedrückenden, einen schrecklichen Abschluss. Deshalb begehen wir einen Israel-Sonntag. Er dient der Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Juden. Deshalb steht Jerusalem heute im Zentrum unseres Gottesdienstes. Und mit ihm Jesus, der über Jerusalem weinte.

II.
Alle jubeln, einer weint. Gerade ist Jesus nach Jerusalem eingezogen, unter dem Jubel der Massen. „Friede sei im Himmel und Ehre in der Höhe!“ So hatten die Menschen gerufen, ihre Kleider hatten sie ausgebreitet, mit Palmzweigen ihm zugewunken. Aber der so Gefeierte schaut auf die Stadt Jerusalem, die Stadt des Friedens, den Zion Gottes und weint.

Wenn man heute in Jerusalem vom Ölberg hinuntergeht nach Gethsemane, kommt man an der Kapelle „Dominus flevit“ vorbei, zu deutsch: „Der Herr weinte“. Sie ist den Tränen Jesu über Jerusalem gewidmet. Das Rundbogenfenster der Kapelle gibt den Blick auf die Altstadt frei, auf ihre Türme und Kuppeln. In der Mitte der Kelch mit der Hostie, darunter das Kreuz des Altars. Christliche Pilger sind, wenn sie die Kapelle besuchen, innerlich bewegt. Das Weinen Jesu erreicht sie über die Jahrtausende. Aber sehen sie das Weinen Jesu nicht zu schnell mit einer christlichen Brille? Möchtest du erkennen, was dem Frieden dient! Jesus sah auf die Stadt seines Volkes mit jüdischen Augen. Er erhob sich nicht über sie. Er weinte über sie. Auch heute kann keiner aufrichtig nach Jerusalem gehen und zugleich überheblich sein, gleichgültig gegenüber der Friedlosigkeit dieser Stadt. Aber es gibt eine neue Form christlicher Überheblichkeit. Wir lassen Jerusalem allein. Die christlichen Pilgerströme bleiben aus. Der Bazar verweist. Christliche Gästehäuser müssen schließen. Auch die Palästinenser verlieren dadurch ihre Arbeitsplätze. Niemandem ist damit geholfen, auch durch diese Art, uns abzuwenden und von fern zu urteilen, nicht. „Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient!“

III.
Dass Jesus weint, passt nicht ins gewohnte Bild. Schon in alter Zeit galt der weinende Jesus als Ärgernis. Man konnte nichts mit ihm anfangen. Manche beschlossen deshalb sogar, den Satz über das Weinen Jesu aus dem Neuen Testament zu streichen. Es sollen besonders rechtgläubige Christen gewesen sein, die das nicht ertragen konnten: einen Jesus, der weint. Ein heulender Heiland, das ging über ihre Vorstellungskraft. Dabei macht ein weinender Jesus keine Angst, er befreit. Vor ihm braucht man sich nicht zu fürchten. Ihn braucht man nicht aus dem Evangelium zu streichen. Er gehört in seine Mitte.

An Jesus halten wir uns nur dann, wenn wir ihm zutrauen, dass er um Jerusalem trauert und um des Friedens willen weint. Die Tränen, die er über Jerusalem vergießt, offenbaren uns das Geheimnis seiner Person. In seinen Tränen zeigt sich das Herz des allmächtigen Gottes. Es ist ein teilnehmendes Herz, ganz menschlich können wir sagen: ein Herz voll Sympathie. Die Tränen in seinem Angesicht zeigen uns, dass Jesus mit unserer Welt mitleidet, dass er den Frieden dieser Welt will, ganz besonders den Frieden für Jerusalem. Alle jubeln, einer weint.

Aber passt das Weinen zum Messias? Können wir unser Leben an einem orientieren, der weint? In einer Diskussion junger Leute mit einem Politiker fragte einer der Jugendlichen den Minister unvermittelt: „Können Sie eigentlich noch weinen?“ Rückfrage des Ministers: „Warum wollen Sie das wissen?“ Darauf der junge Mann: „Ich möchte nicht von jemandem regiert werden, der nicht mehr weinen kann.“ Da meldet sich die Sehnsucht, nicht von Mikroprozessoren regiert zu werden, sondern von Menschen, nicht von Gen- oder Nanotechnologien, sondern von Menschen, nicht von Computerprogrammen, sondern von Menschen. Und woran zeigt sich das? Computer können nicht weinen, Menschen können es.

Jesus verlangt nicht, dass man alles „ganz frei von Emotionen betrachten müsse“. Er lässt eine Emotion zu, nein, er gibt ihr Raum: der Emotion der Teilnahme, in der sich das Herz Gottes zeigt.

IV.
Diese Empfindung Jesu war dem Evangelisten Lukas so wichtig, weil er die Geschichte kannte. Er wusste, was bei Jesu Einzug in Jerusalem erst noch bevorstand. Lukas wusste von der Zerstörung des Tempels in Jerusalem durch die Römer, die sich im Jahr 70 nach Christi Geburt vollzog. Das war nicht die erste Zerstörung des Tempels, sondern die zweite. Beide Zerstörungen fanden im August statt. Beim ersten Mal waren es die Babylonier, beim zweiten Mal im Jahr 70 die Römer. 640 Jahre lagen zwischen diesen beiden Zerstörungen. Nach der ersten Zerstörung wurde der Tempel wieder aufgebaut, damit er wieder die „Wohnung des Namens Gottes“ sein konnte wie zuvor, ein Ort zur Anbetung des Gottes, den wir Christen als den Vater Jesu Christi bekennen. Ob es ohne diesen zweimal zerstörten Tempel einen christlichen Glauben überhaupt gäbe, kann man bezweifeln. Aber bei der zweiten Zerstörung blieb es. Der Tempel in Jerusalem wurde nicht wieder aufgebaut, bis zum heutigen Tag.

Vom zwölfjährigen Jesus erzählt der Evangelist Lukas, er sei – eigenständig, ohne dass seine Eltern davon wussten – in den Tempel gegangen, um dort zu lehren. Er sah im Tempel von Jerusalem den wichtigsten Ort für die Wahrheit über Gott. Und zur Überraschung der Schriftgelehrten deutete er diese Wahrheit selbst. Und auch am Ende seines Wegs bleibt der Tempel für ihn ein Ort dieser Wahrheit.

Doch dafür muss erst wieder Raum geschaffen werden. Deshalb treibt Jesus die Geldwechsler und die Opfertierverkäufer aus dem Tempel. Dabei tun sie nichts Schlimmes. Die Geldwechsler bieten gutes israelisches Geld für das schlechte römische; sie tauschen Geld, das im Tempelkult anerkannt ist, gegen anderes, das man Gott nicht geben kann. Und die Opfertierverkäufer halten Tiere bereit, die für den Tempelkult geeignet sind. Die einen wie die andern wollen der Reinheit des Gottesdienstes dienen. Aber in Wircklichkeit stellen sie sich Gott mit all ihrer formalen Korrektheit in den Weg. Jesus will, dass Menschen der Wahrheit Gottes unmittelbar begegnen. Dafür räumt er den Weg frei. Und dann lehrt er wieder im Tempel – wie schon als zwölfjähriger, so auch wieder am Ende seines Weges.

V.
Alle weinen, einer aber lacht. Als vier jüdische Rabbiner, darunter Rabbi Akiba, sich einmal dem zerstörten Tempel in Jerusalem näherten, kam ein Fuchs aus den Trümmern hervor. Da spürten sie, wie weit es gekommen war, und begannen zu weinen – bis auf einen, bis auf Rabbi Akiba. Rabbi Akiba lachte, zum Erstaunen, nein zum Erschrecken der andern. Er aber hielt ihnen entgegen: Wenn Gott seine Drohung wahr gemacht habe, Zion werde wie ein Feld umgepflügt, wie sollte er da nicht die Verheißung wahrmachen, die sich beim Propheten Sacharja findet? Denn dort heißt es: „Es werden noch Greise und Greisinnen in Jerusalem wohnen.“

Wer immer Jerusalem besucht, wird von nichts anderem mehr erstaunt sein als von der Klagemauer. Nichts ist vom zweimal zerstörten Tempel übrig geblieben außer dieser Mauer. Der Tempelberg selbst ist inzwischen ein Ort des muslimischen Gottesdienstes. Erst in diesen Tagen ist er wieder für Nichtmuslime zugänglich geworden – nach langer Zeit, und keiner von uns weiß, wie lange. Und unten die Klagemauer, an der gläubige Juden ihr Gebet verrichten, mit einer Ausdauer, die auch gebetsgeübte Christen erstaunt und die bei Menschen, die das Beten verlernt haben, nur noch Unverständnis auslöst. Trotzdem stehen die Jerusalemreisenden da und schauen den Menschen an der Mauer zu, der rhythmischen Bewegung ihres Gebets, dem leisen Murmeln ihrer Worte, dem Gleichmaß der Klage über die Jahrtausende.

In keiner anderen Weltreligion gibt es ein vergleichbares Beispiel für die religiöse Bedeutung, ja Hochschätzung  der Klage wie in Jerusalem. In keiner anderen Religion nimmt der leidende Gottesknecht so vielgestaltige Formen an wie in den Menschen, die an der Klagemauer vor Gott treten. Und wenn ein Selbstmordattentäter sich als orthodoxer Jude verkleidet und einen Omnibus in die Luft sprengt, in dem viele Frauen mit Kindern unterwegs sind, wie es in dieser Woche geschah – das Gebet an der Klagemauer geht weiter, mit einem kaum merklich erhöhten Ton, es überdauert auch solche Schrecken. Und wenn die israelische Politik unter dem Zwang der Selbstbehauptung auf den Mord mit Mord antwortet und gezielt einen Anführer der palästinensischen Hammas ums Leben bringt – das Klagegebet geht weiter. Und gewiss kommt es dabei auch zum Gebet um eine andere Form der Politik, um eine Politik, die dem Frieden dient. „Wenn doch auch du erkenntest, was dem Frieden dient!“

Als Christen in Deutschland sind wir nicht gut geeignet, Ratschläge zum Frieden zu geben. Denn der heutige Staat Israel kann kaum anders, als unseren Friedensvorschlägen zu misstrauen. Noch immer werden wir danach gefragt, wie ernst uns die Absage an den Antisemitismus ist und wie endgültig wir das Existenzrecht des Staates Israel anerkennen. Wieder und wieder sind wir durch die Geschehnisse aufgewühlt, gerade auch nach dem schrecklichen Erleben dieser Woche. Aber wir sollten uns davor hüten, zu den Rechthabern zu zählen. Stattdessen sollten wir uns an den weinenden Jesus halten. Wer weint, hat nicht Recht, sondern Kummer. Wer den Kummer aushält, kann dann vielleicht auch die Verheißung hören, die den Weinenden gewidmet ist. Es ist die merkwürdigste, die verheißungsvollste, die fröhlichste Seligpreisung des ganzen Neuen Testaments. „Selig seid ihr –  sagt Jesus – selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.“ Weil wir mit ihnen lachen können, werden wir doch auch noch die, die uns regieren, zum Weinen bringen. Das wäre ein Zeichen der Hoffnung: „Selig seid ihr, die ihr jetzt weint; denn ihr werdet lachen.“

VI.
Mein Jesus hat geweint um seine Stadt, ach, auch gewiss um mich hat er geweinet.“ Annette von Droste-Hülshoff hat so gedichtet. Man nimmt das Weinen Jesu seiner Stadt Jerusalem nicht weg, wenn man bekennt: Es gilt auch uns. Er bleibt ein Sohn seines Volkes und ist doch der Messias der Völker. Miteinander sind wir verbunden, Juden wie Christen, durch die Verantwortung für Versöhnung und Frieden. Tag für Tag haben wir selbst zu buchstabieren, was dem Frieden dient. Das ist wichtiger, als anderen vorzuschreiben, was sie für den Frieden zu tun haben. Bei uns fängt der Frieden an. Denn uns öffnet Gott sein Herz. In dem Jesus, der weint.

 Amen.