Predigt zum 13. Sonntag nach Trinitatis in der Erlöser- Kirche zu Jerusalem (Lukas 10, 25-37)

14. September 2003

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf,
versuchte ihn und sprach: Meister, was muß ich tun,
daß ich das ewige Leben ererbe?
Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben?
Was liest du?
Er antwortet und sprach: < Du sollst den Herrn, deinen Gott,
lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften
und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst.>
Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet: tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus:
Wer ist denn mein Nächster?
Da antwortete Jesu und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber;
die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon
und ließen in halbtot liegen.
Es traf sich aber, daß ein Priester dieselbe Straße hinabzog;
und als er ihn sah, ging er vorüber.
Desgleichen auch ein Levit: als er zu der Stelle kam und ihn sah,
ging er vorüber.
Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin;
und als er ihn sah, jammerte er ihn;
und er ging zu ihm, goß Öl und Wein auf seine Wunden und
verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn
in eine Herberge und pflegte ihn.
Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus,
gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem,
der unter die Räuber gefallen war?
Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat.
Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!


1.
Von Jerusalem hinab nach Jericho, der Weg ist beschwerlich - buchstäblich - damals und heute. Damals konnte man unter die Räuber fallen, denn die Sicherheitslage war unübersichtlich: Die Ordnungsmacht verfügte nicht über ein so dichtes Kontrollnetz, das die Straße hätte sicher machen können. Heute fällt vermutlich niemand auf der Straße von Jericho unter die Räuber, aber der Weg ist beschwerlich geblieben. Die Sicherheitslage ist unübersichtlich - weil es konkurrierende Mächte gibt, militärisch gerüstet auf der einen Seite, Zäune und Mauern errichtend, die keine Sicherheit bringen, aber statt dessen das Land zerschneiden, unberechenbar in Gewaltausbrüchen  auf der anderen Seite, die Unschuldigen Tod und Trauer bereiten.

Die Anschaulichkeit des Ortes hilft die alte Schwierigkeit zu überwinden, die mit altbekannten Geschichten einhergehen: Man hat sie so oft gehört, dass man meint, nichts Neues mehr darin entdecken zu können. Auch wo es eine vertraute Beziehung zu eine liebgewordenen Bild gibt, das die Geschichte beschreibt, lähmt die Gewöhnung das Lebendige und Lebensschaffende der Erzählung. Da ist es richtig gut,  eine solche Geschichte hier in Jerusalem zu hören, sich den konkreten Weg nach Jericho vorzustellen; das kann helfen, aus der Fessel der Gewöhnung freizukommen.

Noch ein weiterer Aspekt ist zu benennen, der uns helfen kann, die Tücken der scheinbaren Selbstverständlichkeit dieses Textes zu überwinden: Das Samariter-Gleichnis ist ein unauslöschliches Bild der Diakonie und der Nächstenliebe. Eine Kultur der Barmherzigkeit kann sich darauf berufen. Das Gleichnis hat unseren Sprachgebrauch geprägt, ohne dass es viele noch wissen. Barmherzigkeit ist, seit diese Geschichte erzählt wird, mit der Gestalt des Samariters verbunden. Samariterdienste sind solche, wie sie jener Akteur im Gleichnis verwirklicht: Ein Verletzter wird behutsam geborgen, umsichtig versorgt, und sorgsam gepflegt.

Dagegen verband der Schriftgelehrte, dem das Gleichnis erzählt wurde, mit dem Wort "Samariter" ganz und gar nichts Positives.

Er hatte nachgefragt: Wer ist denn mein Nächster, den ich lieben soll, wie ich Gott liebe: von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt?

Für den, der so fragt, verbindet sich mit dem "Samariter" ein Fremder, ja ein vieler Hinsicht befremdlicher Vertreter einer anderen Glaubensweise, die nicht akzeptabel war. Ausgerechnet dieser Samariter wird dem Priester und dem Leviten, dem Tempeldiener, entgegengehalten. Jene sind die Repräsentanten der gültigen, für einzig wahr gehaltenen Religion; ausgerechnet die aber haben dem Elenden die Hilfe verweigert.

Angst könnte eine Rolle gespielt haben - wer ist schon ein Held in dunklen Hohlwegen, wo die Räuber lauern?

Oder, wie uns viele Ausleger verständnisvoll erklären - vielleicht führte auch zur unterlassenen Hilfeleistung, die Pflicht, sich vor der verunreinigenden Berührung mit Blut zu hüten, wenn einer am Tempelkult mitwirken wollte. Jedenfalls ist es ausgerechnet einer aus dem ungeliebten Samaria, der da als leuchtendes Beispiel für Nächstenliebe praktiziert.
2. Verblüffende Umkehrung der Frage

Jesus beantwortet die Frage des Schriftgelehrten: "Wer ist denn mein Nächster?" auf eine verblüffende Weise: Er kehrt die Frage um, und sie lautet: "Wer ist dem, der unter die Räuber gefallen ist, ein Nächster geworden?"

Durch diese Umkehrung der Blickrichtung werden zwei Aspekte deutlich. Sie gelten fortan für jeden und jede in Not und für jeden und jede, die helfen.
  • Wer mein Nächster ist, ergibt sich nicht aus traditionellen Beziehungen: weder aus Verwandtschaft noch Nachbarschaft, weder aus Volkszugehörigkeit noch Freundschaft. Es ist allein die Hilfsbedürftigkeit des leidenden, in Not geratenen Menschen. Sie macht den Helfenden zum Nächsten - jeden, der zur Hilfe in der Lage ist.
  • Durch die Umkehrung der Frage ändert sich auch die Stellung des Bedürftigen. Der Verwundete ist nicht mehr Hilfsobjekt, sondern er macht den Samariter zum Handelnden. Der hält an und hilft, und übernimmt so die Rolle des Nächsten.

    So wird es im menschlichen Miteinander fortan zugehen müssen. Nicht wir überlegen, wem wir großmütig zu helfen bereit und in der Lage sind, sondern wir lassen uns durch die Bedürftigen zum Handeln bringen und werden so die Nächsten. Die Bedürftigkeit der anderen verwandelt uns, die helfen wollen und sollen.
Wenn sich das Gleichnis in seinen beiden Aspekten so aufschließt, wird noch Entscheidendes deutlich: die Geschichte ist Gleichnis für den, der sie erzählt hat. Sie ist somit Gleichnis für Jesus. Wie dieser Samariter - genauso unerwartet - hilft er uns Menschen. Wir  unter die Räuber gefallenen Menschen, die wir uns aus eigener Kraft nicht retten können in unserer heillosen Lage, in diesem schrecklichen Elend aus Gewalt und Unrecht, bringen Gott zum  Handeln, bis zum Tod am Kreuz. So, in diesem Jesus, wurde Gott unser Nächster. Wider alles Erwarten kommt er uns nahe, er beugt sich zu uns hin. [was "elein/eleison" ja wörtlich heißt.]

Du Schriftgelehrter - klug bist du - kennst Gottes hilfreiche Weisungen - aber merkst gar nicht, dass nicht deine Aktionen, auch nicht die Haltung der Liebe zu Gott und dem Nächsten dich retten.

Nur der, den man verachtet wie einen Samariter, stellt sich auf unsere Menschenseite und hilft. Darin ist die Rettung aus allem Elend begründet. Gott ist unser Nächster geworden - der innehält bei uns und alle Wunden heilt.
 
3. "Gehe hin und tue desgleichen!"

Aus dieser Gottesliebe entsteht das Wunder der Verwandlung der Menschen. Weil Jesus wie der Samariter handelt, können wir als seine Jünger und Jüngerinnen einen neuen Blick bekommen.
  • Wir können helfen ohne Eigennutz und Überlegenheit.

  • Wir können auch den Fernsten in dieser Welt Nähe schenken.

  • Wir müssen nicht unter den 1000 Räubergeschichten verzweifeln, sondern können tun, was am Weg liegt.

  • Wir müssen mit unserer Hilfe nicht warten, bis die ungerechten Weltstrukturen bereinigt sind, wir können gleich  und sofort zupacken.
Natürlich sind auch die Straßen sicher zu machen, und was gäben wir darum, wenn die Gebete erhört würden und auch die heutige Straße von Jerusalem nach Jericho wieder ohne Gefahr passierbar wäre!

Aber die Jesusnachfolge beginnt nicht erst, wenn die Welt verbessert ist. Sie beginnt gerade in den Dunkelheiten und Widersprüchen, eben da wo wir innehalten, weil wir sehen, dass  Menschen unter die Räuber gefallen sind.

"Gehe hin und tue desgleichen", sagt Jesus. Wir hören diesen Aufruf - und müssen noch einen Augenblick zum Gleichnis zurück. Ich komme noch einmal zum Priester und zum Leviten. Ich habe ihr Verhalten schnell erklärt, sei es mit ihrer Angst, die so menschlich ist; sei es mit ihrer kultischen Verpflichtung, der sie sich schlecht entziehen konnten.

Ich möchte auf die beiden noch einmal zurückkommen mit der Frage, ob sie vielleicht etwa etwas von uns, von mir abbilden!

Von unserer Angst, durch Helfen in Gefahr zu geraten, war schon die Rede. "Wer jemandem die Tränen abwischt, bekommt nasse Hände", lautet ein afrikanisches Sprichwort.

Das wissen wir also sehr wohl: Wenn wir jemandem Nächster werden, geraten wir selber in die Mühsal des andern mit hinein. Und solche Erfahrungen lassen uns bisweilen ähnlich zurückhaltend werden, wie es jene waren, die am Überfallenen vorüber gingen. Aber ich will auch von dem anderen, dem kultischen Hilfshindernis sprechen. Ausgerechnet Priester und Levit gehen vorüber. Unser Bild vom engagierten Gläubigen wird durch diese Geschichte gestört. Wir erwarten von den Glaubenden - gerade auch von denen, die professionell zur Kirche gehören, ein überzeugendes soziales Engagement.

Wir kennen wohl das bisweilen schadenfroh, spöttisch, verächtlich geäußerte Urteil: "Da sieh, so machen es diese Heuchler, fromm wollen sie sein, aber den Leidenden lassen sie unversorgt am Weg liegen!"
Ich weiß: es gibt dieses Urteil - und es gibt das Versagen - Jesus selbst umschreibt es als Kontrast zum eigentlich verachteten Samariter. Ich weiß auch: es gibt sicherlich zahlreiche Menschen, die in vergleichbaren Situationen versagen, ohne dass sie erkennbar Gläubige sind.

Aber das Beispiel des Gleichnisses macht auf eins unüberhörbar aufmerksam: Es gibt keinen Status, keinen Beruf, keinen Glaubensgrund, der Gewähr bietet für die Nachfolge, zu der Jesus auffordert.

Darum gehört zum Glauben, "desgleichen zu tun", die Bitte um die Kraft, die innere Logik unserer Abwehrhaltung zu überwinden. Es gibt keine wirklich guten Gründe, zu sagen: "Mit alledem habe ich nichts zu tun". Oder: "Das müssen die Profis machen, doch nicht ich!"

Gott ist uns der Nächste geworden. Er stärkt uns mit seiner Liebe für den weiten Weg von Jerusalem nach Jericho. Darum lasst uns nicht verweigern, seinem Beispiel zu folgen.