Evangelische Kirche und türkischer Islam - Vortrag zur Semestereröffnung, Evang.-theologische Fakultät Universität Rostock

Martin Affolderbach

Sie haben mich gebeten, Ihnen einige Gedanken zum Thema "Evangelische Kirche und türkischer Islam" vorzutragen. Das fällt in eine Zeit, in der das Verhältnis von Türkei und Kirche in den Medien mit besonderer Aufmerksamkeit wahrgenommen wird.

- Die deutsche Bundeskanzlerin, Angela Merkel, hat vor wenigen Tagen die Türkei besucht und dabei auch und absichtsvoll mit Vertretern der dortigen autochthonen - also den schon seit Jahrhunderten (um nicht zu sagen Jahrtausenden) ansässigen - Kirchen gesprochen. Nicht nur für Frau Merkel ist die Frage des Verhältnisses der Türkei zu den Kirchen mit der Frage der Beitrittsfähigkeit zur europäischen Union verknüpft.

- Vom 28. November bis 1. Dezember dieses Jahres will Papst Benedikt XVI die Türkei besuchen. Nach der scharfen Kritik auch aus der Türkei an der Regensburger Rede während seines Deutschlandbesuches dürfte dieser Besuch kein leichtes Unternehmen sein. Zudem gehört der Vatikan nicht gerade zu den Befürwortern eines EU-Beitritts der Türkei.

Zum Zeitpunkt Ihrer Semestereröffnung über das genannte Thema zu sprechen, fällt also in eine nicht spannungsfreie Zeit. Ich möchte weder die Diskussion um den EU-Beitritt der Türkei hier weiterführen noch die aktuellen Ereignisse in den Mittelpunkt stellen. Ich aber versuchen, das Umfeld von Christentum im allgemeinen und evangelischer Kirche einerseits und türkischen Islam andererseits etwas auszuleuchten.

Ich möchte das in drei Schritten tun.

(1) Im ersten Abschnitt will ich die Rolle des Christentums in der Türkei ansprechen, da der geschichtliche Hintergrund zum Verständnis unserer aktuellen Situation hilfreich ist.
(2) Im zweiten Teil sollen einige aktuelle Aspekte aus der kirchlichen Diskussion zur Frage des Verhältnisses der Türkei zu Europa und zur europäischen Union dargestellt werden, und
(3) im dritten Teil komme ich dann auf den türkischen Islam in Deutschland zu sprechen und wie sich die evangelische Kirche zu diesem positioniert.

1.

Wer heute den Namen eines berühmten Fußballvereins in Istanbul, nämlich Galatasaray, hört, erkennt in diesem Namen nicht sogleich die zentralanatolische Landschaft Galatien, in die der Apostel Paulus in der Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christi Geburt seinen Galaterbrief geschickt hat, der uns im Neuen Testament überliefert ist.
Wer heute in Istanbul ein Ausflugsboot besteigt und auf dem Wasser an der beeindruckenden Kulisse des asiatischen Teils der Stadt entlang fährt, wird nur selten erfahren, dass gleich neben dem imposanten Bahnhofsgebäude Haydarpasa, dem Endpunkt der Bagdadbahn, im Jahr 451 das Konzil von Chalcedon, die größte Synode der frühen Kirchengeschichte, stattgefunden hat.

Auch wenn Christentum und Türkei auf den ersten Blick als zwei Größen erscheinen, die in unserem Wahrnehmungshorizont heute nur wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, muss man sich daran erinnern, dass Kleinasien ein Zentrum des frühen Christentums war, das auf den geistigen Errungenschaften des Hellenismus in dieser Region aufbauen konnte. Das Byzantinische Reich mit seiner tausendjährigen Geschichte prägte das Christentum nicht nur durch die herausragende Bedeutung der kappadokischen Kirchenväter und durch grundlegende Konzilsentscheidungen in Glaubensfragen, sondern es hatte auch bleibenden Einfluss auf Liturgie, Kultur und Architektur. Konstantinopel, das heutige Istanbul, beherbergt seit jener Zeit den Sitz des Ökumenischen Patriarchen, des Oberhauptes der Griechisch-Orthodoxen Kirche.

Im 11. und 12. Jahrhundert siedelten sich türkische Stämme aus Zentralasien im Gebiet der heutigen Türkei an. Die aus diesen Einwanderer hervorgegangenen muslimisch gewordenen Osmanen eroberten 1453 Konstantinopel. Die Hauptkirche Hagia Sophia in Istanbul wurde in eine Moschee umgewandet und zum Symbol der Eroberung dieses christlichen Kernlandes durch das Osmanische Reich. Damit ging die Ausbreitung des Islam Hand in Hand. Die orthodox-sunnitische Prägung der Oberschicht spiegelte nicht die religiöse und ethnische Pluralität des riesigen Reiches, versuchte ihr aber Rechung zu tragen. Trotz eines verbreitet bestehenden Druckes, zum Islam überzutreten, gab eine gewisse Toleranz der Osmanen gegenüber Nicht-Muslimen, insbesondere gegenüber den "Leuten des Buches", also Juden und Christen. Die Schutzgarantien gegenüber diesen Minderheiten waren dabei an die Anerkennung der islamischen Herrschaft geknüpft. Die Tanzimat-Reformen Ende des 19. Jahrhundert intendierten zumindest formal eine rechtliche Gleichstellung aller Bevölkerungsteile.

Der Zusammenbruch des Osmanischen Reiches im Schatten des Ersten Weltkrieges, die Konflikte und kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Jahre sowie die nachhaltigen gesellschaftlichen und politischen Veränderungen, die bei der Gründung der Türkei 1923 durch Mustafa Kemal Pascha, genannt "Atatürk" (also "Vater der Türken"), vollzogen wurden, prägen bis heute die Identität dieses Landes. Diese Reformen und Modernisierungen von oben haben den neuen türkischen Staat unter einer national türkischen Identität geeint, aber auch manche Spannungen nicht behoben und auch neue hervorgebracht.

Die Umstellung von Zeitrechnung, die Einführung der lateinischen Schrift, des metrischen Systems, des Sonntags als Feiertag, eines neuen Namensrechts, neuer Bekleidungsregeln, die Übernahme rechtlicher Regelungen aus verschiedenen europäischen Ländern - all dies war ein Zeichen einer gewollten Zuwendung zu Europa. Im Hinblick auf das Verhältnis von Staat und Religion wurde aus Frankreich die Idee des Laizismus, also die Trennung von Religion und Staat, aufgegriffen, erhielt aber eine gänzlich andere Ausrichtung als in Frankreich. Zwar wurde das Kalifat abgeschafft und der religiöse Einfluss begrenzt. Doch übernahm der Staat die Aufgabe der Organisation und Kontrolle der Religion, so dass faktisch eine Art Staatsreligion türkischer Prägung entstand. Die staatliche Religionsbehörde DIYANET verwaltet und finanziert den sunnitischen Islam mit Moscheen und Personal, zumeist Imamen. Man spricht von rund 100.000 Personen, die der Behörde heutzutage zugeordnet sind.

Trotz dieser Zuwendung zu Europa blieben vor allem im Osten der Türkei viele Volkstraditionen lebendig, die in Spannung zu europäischen Werten und Rechtsauffassungen stehen. Diese Spannung zwischen westlicher und orientalischer Kultur kennzeichnet auch heute das gesellschaftliche Leben in der Türkei.

Was bedeutete diese Entwicklung für die Präsenz des Christentums in der Türkei?

Um die Wende zum 20. Jahrhundert soll die Zahl der Christen im Gebiet der heutigen Türkei bei 15 bis 20 % gelegen haben. Im Schatten des Ersten Weltkrieges kamen über eine Million Armenier ums Leben, aber auch Angehörige anderer ethnischer Gruppen wie aramäisch/assyrische Christen, chaldäische Christen, Yeziden sowie einige muslimische Minderheiten. Anfang der 20er Jahre wurden im Zuge des türkisch-griechischen Krieges und der Niederlage der Griechen rund 1,2 Millionen Griechen vom asiatischen Festland vertrieben. In den zurückliegenden Jahrzehnten gerieten Christen im Bereich des Tur Abdin in Südostanatolien, einem der ältesten christlichen Siedlungsgebiete überhaupt, zwischen die Konfliktfronten von kurdischen Gruppen und türkischer Armee. Tausende verließen das Land, nur sehr wenige sind bislang zurückgekehrt. Mangelnde Sicherheit und Freiheit haben zudem zu einer überdurchschnittlichen Auswanderung von Christen beigetragen.

Bis heute ist der Anteil der Christen an der Bevölkerung in der Türkei auf weniger als 0,1 % zurückgegangen. Die zahlreichen Touristen und die Senioren aus Deutschland und anderen europäischen Ländern und die Senioren, die sich zeitweilig oder dauerhaft an der türkischen Riviera niedergelassen haben und unter denen sich viele Christen befinden, können an diesem Bild nur wenig ändern.

2.

Nach Kemal Atatürks gesellschaftlichem Neubeginn mit der Aufnahme europäischer Kulturelemente verstärkten sich aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg die türkischen Beziehungen zu Europa durch den Beitritt der Türkei zur NATO 1952 und dem Assoziierungsabkommen 1963 mit der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. 1987 stellte die Türkei einen Antrag auf Vollmitgliedschaft in der Europäischen Union, ein Schritt, der in der Türkei lange Zeit keineswegs konsensfähig war.

Die heftigen Diskussionen im Vorfeld der Entscheidung der Europäischen Union im Dezember 2004, ob mit der Türkei formelle Beitrittsverhandlungen begonnen werden sollen, haben auch in der evangelischen Kirche zu intensiver Beschäftigung und Auseinandersetzung geführt. Denn durch diese sehr weitreichende Entscheidung wurde die gesellschaftliche Situation in der Türkei und damit auch die Frage nach der Situation von religiösen und ethnischen Minderheiten in den Blickpunkt öffentlichen Interesses gerückt.

Die EKD hat immer den Grundsatz verfolgt, sich in Fragen, die das kirchliche Leben eines Landes betreffen, nicht ohne Kontakt und Absprache mit den dortigen Kirchen zu äußern.

Die armenische, die assyrische, die griechisch-orthodoxe und die katholische Kirche in der Türkei hatten sich im September 2003 an die Große Nationalversammlung der Republik Türkei gewandt und im Kontext der EU-Annäherung um die Beseitigung von sieben Hindernissen gebeten:
"1. die Aufhebung der Hindernisse für einen legalen und rechtlichen Status der christlichen Kirchen und des Amtssitz des Patriarchen;
2. die Schaffung rechtlicher Grundlagen für die Ausbildung von Priestern/Pfarrern und türkeiweite Betreuung aller Christen;
3. Seelsorgern, die aus dem Ausland in die Türkei entsandt werden, sollte die türkische Staatsangehörigkeit bzw. eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden;
4. die Bestimmung eines Ministeriums, das sich der Problematik der Minderheiten annimmt;
5. sollten Maßnahmen getroffen werden, dass Christen bzw. Nicht-Muslime nicht als eine Gefahr im Hinblick auf die Sicherheit des Landes betrachtet werden;
6. die Anerkennung des Erwerbsrechts für Christen von Kirchen bzw. Stiftungen, die von Christen zu religiösen Zwecken genutzt werden. Die Rückgabe von Gebetsstätten, die beschlagnahmt wurden, und
7. Genehmigung wenigstens einer Kirche für jede Provinz, in der Christen wohnhaft sind." (1)

Die Kirchen erhofften sich vom Annäherungsprozess an die EU eine deutliche Verbesserung ihrer rechtlichen und faktischen Lage.

Obwohl von manchen Seiten ein klares Ja, von anderen Seiten ein entschiedenes Nein von der evangelischen Kirche und eine entsprechende Einflussnahme auf die Europäische Union erwartet wurde, hat sich die EKD einer solchen grundsätzlichen Zustimmung oder Ablehnung weitgehend enthalten. Sie hat sich vielmehr auf eine Bewertung der Situation der Christen und Kirchen in der Türkei sowie die Lage der Menschen- und Minderheitenrechte konzentriert.

Was die Menschenrechtssituation anbetrifft, hat die EKD festgestellt, dass sich in einigen Bereichen zwar die gesetzlichen Regelungen positiv verändert haben, jedoch die Rechtsanwendung und Rechtspraxis weiter zu wünschen übrig lässt.

Das Hauptaugenmerk der EKD galt und gilt der Lage der Kirchen und der Frage der Religionsfreiheit. Unbestritten ist, dass in der Türkei weitgehend die individuelle Glaubensfreiheit respektiert wird, dass es aber bei der kollektiven Religionsfreiheit, also der Möglichkeit der Organisation religiöser Gemeinschaften, deutliche Defizite gibt.

Um mit den Fortschritten zu beginnen: Diese sind am deutlichsten im Bereich der kirchlichen Arbeit an der türkischen Südküste festzustellen, wo sowohl die EKD als auch das Auslandssekretariat der Deutschen Bischofskonferenz je einen Pfarrer beauftragt haben, die Möglichkeiten für eine pastorale Betreuung von deutschen Urlaubern wie auch von deutschen Residenten und Semi-Residenten zu erkunden und aufzubauen. Nicht zuletzt durch die Bemühungen des deutschen Generalkonsulats vor Ort wurde dort ein rechtlicher Rahmen geschaffen, der diese Arbeit in einem gewissen Maße absichert. Ein religiöses Zentrum mit Moschee, Synagoge und Kirche in Touristengebiet Belek, in der Nähe von Antalya, wurde unter Anwesenheit des türkischen Ministerpräsidenten eingeweiht. Darin zeigt sich die Bereitschaft der Türkei, auf die besonderen Herausforderungen in einer stark vom Tourismus geprägten Region einzugehen.

Jedoch müssen auch die Probleme benannt werden.

Um bei der deutschsprachige kirchlichen Arbeit zu bleiben: Die deutschsprachige evangelische Gemeinde mit Sitz in Istanbul, die über Rechtstitel, Besitzstände und Bestandsgarantien aus der Zeit des Osmanischen Reiches verfügt, konnte diese bisher nicht in derzeit geltendes türkisches Recht überführen, da dies mit für sie unakzeptablen Bedingungen verbunden wäre. Nach aktuellem türkischen Recht existiert diese Gemeinde gar nicht.

Die Situation der autochthonen Kirchen hat sich nicht verbessert, zum Teil noch verschlechtert. Die Tatsache beispielsweise, dass das griechisch-orthodoxe Priesterseminar auf der Insel Chalki weiterhin nicht arbeiten darf, bedeutet faktisch ein Aussterben dieser Kirche aufgrund fehlenden Nachwuchses von Geistlichen. Die Frage der Rechtsstellung der Kirchen wie auch die Probleme mit Enteignungen dauern weiter an.

Von staatlicher türkischer Seite wird argumentiert, dass man alle Religionsgruppen gleich behandeln müsse. Da man aus Sicherheitsgründen die Gründung von muslimischen Religionsgemeinschaften nicht zulassen könne, da einige von diesen islamistische und staatsfeindliche Ziele verfolgen würden, könne man dieses Recht anderen Religionen ebenfalls nicht zugestehen. Es bestünde ja die Möglichkeit zur Einrichtung von Stiftungen. Die damit verbundenen Auflagen staatlicher Kontrolle sind jedoch für die Kirchen unannehmbar und bringen mehr Nachteile als Sicherheiten.

Das Argument der Gleichbehandlung ist jedoch nicht stichhaltig. Der türkische Staat organisiert und fördert wie bereits erwähnt den sunnitischen Islam und gewährt daneben keiner anderen Religionsgruppe einen vergleichbaren Status und vergleichbare Rechte. Dies ist eine Ungleichbehandlung, die unvereinbar ist mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen, die die Türkei beispielsweise mit der Unterzeichnung der Europäischen Menschenrechtskonvention eingegangen ist. Zudem verpflichtet die türkische Verfassung den Staat zu Gleichbehandlung und religiöser Neutralität. Die Tatsache, dass es radikalislamische Gruppen gibt, ist kein zureichender Grund, eine Glaubensgemeinschaft zu fördern und grundsätzlich die rechtliche Organisation aller anderer Glaubensgemeinschaften zu unterbinden.

Weshalb sich die Türkei in diesen Fragen so schwer tut, liegt in der türkischen Ausprägung des Laizismusverständnisses, also in der "türkisch-islamischen Synthese" der Verbindung von türkischer Identität und sunnitischem Islam als staatlich geförderter Religion. Diese macht es schwierig, mit religiösen und ethnischen Minderheiten umzugehen. Die aktuelle türkische Verfassung (in der Fassung von 1982) kennt den Begriff der "Minderheit" nicht; vielmehr wird gegenüber Minderheiten nicht selten der Verdacht gehegt, die Einheit des türkischen Staates in Frage zu stellen oder separatistische Absichten zu verfolgen. Die Tatsache, dass verwaltungstechnisch die Zuständigkeit für die christlichen Kirchen nicht bei Innenministerium, sondern beim Außenministerium angesiedelt ist, spiegelt diese fehlende gesellschaftliche Integration. Im Lausanner-Vertrag von 1923, der Rechtsgrundlage zur Gründung der Türkei in ihrer heutigen Gestalt, sind umfassende Rechte nicht-muslimischer Minderheiten geregelt, die jedoch nicht in türkisches Recht übernommen worden sind. Nach türkischer Auffassung würden auch nur die Juden, Griechisch-Orthodoxe und Armenier unter die Definition von Nicht-Mulismen nach dem Lausanner-Vertrag fallen, Sachverhalte, die wiederholt von der EU als weder stichhaltig noch akzeptabel bewertet wurden.

Diese Verbindung von geschichtlicher Identität und Minderheitsverständnis zeigt sich besonders intensiv bei dem Problem des Völkermordes an den Armeniern. Die türkische Regierung bestreitet bis heute, dass es einen Genozid an den Armeniern gegeben habe. Eine öffentliche Erwähnung des Völkermordes ist weiterhin ein Thema von höchster politischer Brisanz und kann in der Türkei durch die Behörden strafrechtlich verfolgt werden. Der Schriftsteller Orhan Pamuk, dem vor wenigen Tagen der Literaturnobelpreis verliehen wurde, wurde - wie Sie sich vielleicht erinnern - vor rund einem Jahr angeklagt, weil er für eine Auseinandersetzung mit diesem Teil türkischer Geschichte eingetreten ist.

Der Deutsche Bundestag hatte im April 2005 unter Aufnahme einer Erklärung der Evangelischen Kirche in Deutschland an das Massaker vor 90 Jahren erinnert und die Notwendigkeit einer ehrlichen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit unterstrichen als Voraussetzung für eine Entwicklung, die vom Geist der Versöhnung und vom Streben nach Gerechtigkeit und Frieden getragen ist.

Die Konferenz Europäischer Kirchen hatte im Jahr 2004 im Vorfeld der Entscheidung der EU über die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ein Memorandum zum Verhältnis der Türkei zur europäischen Union(2) erarbeitet, um damit die in der Konferenz zusammengeschlossenen Kirchen in einen Meinungsbildungsprozess einzubinden und mit einer Stimme sprechen zu können. In diesem Text ist noch ein weiterer Gedanke genannt worden, den ich persönlich für sehr wichtig halte.

Es wird dort darauf hingewiesen, dass die Entwicklung zur europäischen Einigung in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als ein Prozess der Versöhnung auf den Weg gekommen ist. Die europäische Einigung sollte dem Zweck dienen, historische Feindschaften zu überwinden und künftige Konflikte zu vermeiden. Die deutsch-französische Freundschaft mit dem Richtung weisenden Vertrag über einen deutsch-französischen Jugendaustausch war ein wesentliches Element dieser politisch gewollten Friedensstrategie. Dementsprechend müsste - so die Konferenz Europäischer Kirchen - eine Aufnahme der Türkei in die Europäische Gemeinschaft die Versöhnung mit deren Nachbarstaaten einschließen bzw. diese müsse einer Aufnahme vorausgehen. Dies betrifft heute in Besonderheit das Verhältnis zu Zypern und Armenien, zum Teil auch zu Griechenland, Bulgarien und Rumänien. Innergesellschaftlich muss auch eine Aussöhnung mit der kurdischen Bevölkerung gefunden werden.

Es wäre zu wünschen, dass die Türkei Mut und politische Entschlossenheit findet, solche Prozesse der Verständigung und Heilung von Wunden der Vergangenheit tatkräftig anzugehen. Die Zusammenarbeit mit der Europäischen Union könnte gerade für diese Prozesse eine entscheidende Hilfestellung geben.

Ich vermute, dass erst solch ein Prozess der Türkei die Freiheit schaffen kann, die Frage der Minderheiten in der türkischen Gesellschaft neu zu bestimmen und deren Existenz nicht als Bedrohung, sondern als eine kulturelle und religiöse Bereichung zu verstehen und ihnen einen gleichberechtigten gesellschaftliche Platz zuzugestehen. Sollte es nicht gelingen, diesen Prozess schnellstmöglichst in Gang zu setzen, ist zu befürchten, dass es in absehbarer Zeit nur noch eine minimale Zahl von Christen in der Türkei gibt.

3.

Die Menschen mit türkischem Migrationshintergrund bilden mit einer Zahl von über zweieinhalb Millionen in Deutschland die größte ethnische Minderheit. Sie sind damit auch unter den Muslimen in Deutschland bei weitem die größte Gruppe, was oftmals zu der Beschreibung führt, dass der Islam in Deutschland ein überwiegend türkisches Gesicht habe. Neuere Untersuchungen stellen fest, dass Menschen mit türkischem Migrationshintergrund ihre türkische Identität vor allem darin sehen, dass sie Muslime sind oder zumindest eine Prägung durch die Religion und Kultur des Islam mitbringen.

Doch ist der türkische Islam in Deutschland keineswegs einheitlich. Aufgrund des Anspruchs des türkischen "Amtes für religiöse Angelegenheiten" (DIYANET), möglichst alle türkischen Muslime auch im Ausland zu vertreten und zu versorgen, repräsentiert die Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e.V. (D.I.T.I.B.) unter den muslimischen Verbänden in Deutschland die größte Zahl der Moscheegemeinden und tritt auch immer wieder mit dem Anspruch auf, den Islam in Deutschland in seiner Gesamtheit vertreten zu wollen. Doch daneben existieren Gruppierungen wie die Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (IGMG) oder der Verband der Islamischen Kulturzentren (VIKZ). Dass solche Gruppen, im Falle von IGMG wegen islamistischen Hintergrundes, in der Türkei nicht erlaubt sind, lässt erkennen, dass die Zusammenarbeit solcher Verbände untereinander keineswegs spannungsfrei sein kann. Ob die Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş und andere Gruppen in Deutschland verfassungsfeindliche Ziele verfolgen, ist zumindest umstritten. Weiterhin ist zu bedenken, dass sich viele kurdische Muslime dem genannten Spektrum nicht nahtlos zuordnen. Daneben bilden die Aleviten, die einen beträchtlichen Anteil an der türkisch geprägten Minderheit in Deutschland ausmachen und in der Türkei nicht als religiöse Gruppe anerkannt sind, noch einmal einen eigenen Mikrokosmos.

Bedenkt man dazu noch, dass diese Verbände nur einen begrenzten Teil der Muslime repräsentieren - man spricht von Zahlen zwischen 15 und 30 % organisierter Muslime - und soziologischen Untersuchungen zufolge ein säkularisiertes Verständnis islamischer Identität unter Türken in Deutschland sehr verbreitet ist, ist die Situation recht komplex.

Als die Kirchen in den 70er Jahren die ersten Strukturen der Zusammenarbeit mit Muslimen auf Bundesebene schufen, bestand die Lösung darin, auf einzelne Persönlichkeiten zuzugehen. Dabei sollte eine gewisse Breite muslimischen Lebens in Deutschland einbezogen werden. So kam auf Bundesebene die Islamisch-Christliche Arbeitsgruppe (ICA) auf den Weg, die in diesem Jahr 30 Jahre besteht. Mit der Gründung von islamischen Verbänden boten sich diese als Ansprechpartner an. Der weniger türkisch als vielmehr arabisch geprägte Zentralrat der Muslime (ZMD) war der erste Verband, der intensivere Kooperationen suchte und beispielsweise seit den 90er Jahren im Trägerkreis der "Woche der ausländischen Mitbürger/Interkulturelle Woche" mitwirkt. Bei den türkisch geprägten Verbänden gab es Phasen geringeren wie auch Zeiten größeren Kooperationsinteresses. Im derzeitigen interreligiösen Kooperationsverbund der bundesweiten Aktion "Weißt du, wer ich bin?", die der Aktion "Lade deine Nachbarn ein!" folgte, haben seit einigen Jahren sowohl der ZMD als auch DITIB die Mitträgerschaft übernommen.

Ein besonderer Strang von christlich-muslimischer Zusammenarbeit mit Pioniercharakter waren ohne Zweifel die entsprechenden Aktivitäten auf den Kirchen- und Katholikentagen. Heinz Klautke und Hans Vöcking haben dies in einer vor kurzem erschienenen Broschüre "25 Jahre Begegnung von Christen und Muslimen auf Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen 1980 bis 2005" (3)detailliert beschrieben, eine Ausarbeitung, die Grundlage war für die Verleihung eines Preises der Georges-Anawati-Stiftung an die beiden Institutionen für ihre vorbildhaften Bemühungen im christlich-muslimischen Dialog. Auch hier zeigt sich, dass der türkische Islam ein sehr wichtiger Partner ist, aber weder eine eigene Gruppe bildet noch in sich einheitlich ist.

Seit dem 11. September 2001 hat es in der Öffentlichkeit nicht nur heftige Diskussionen über das Verhältnis von Islam und westlicher Kultur sowie zahlreiche Konflikte - wie um das Kopftuch im Schuldienst, Karikaturen, Gewaltverständnis, Ehrenmorde und anderes - gegeben, es haben auch deutliche Bemühungen um Klärungen und Annäherungen stattgefunden. Muslimische Verbände in Deutschland haben Anstrengungen unternommen, Sachfragen wie beispielsweise das Verhältnis von Islam zu demokratischen Gesellschaftsformen zu klären oder Strukturen interner Zusammenarbeit zu verbessern. Es sollte ausdrücklich erwähnt werden, dass sich vor allem DITIB dadurch hervorgetan hat, dass es Erklärungen gegen Gewalt angestoßen und mit entsprechenden öffentlichen Aktionen der Gleichsetzung von Islam und Gewalt widersprochen hat.

Der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Huber, hatte vor zwei Jahren den Entschluss gefasst, Vertreterinnen und Vertreter muslimischer Verbände jährlich zu einem Spitzengespräch einzuladen und dies jeweils um ein Fachgespräch zu einem aktuellen Thema zu ergänzen. Der Bundesminister des Innern hat - wie Sie wissen - vor wenigen Wochen eine vergleichbare Initiative in größerem Rahmen angestoßen, die Zustimmung von vielen Seiten erhielt und möglicherweise nachhaltige Auswirkungen auf das Zusammenleben mit und die Rolle von Muslimen in Deutschland mit sich bringen kann.

Es gibt in der Tat Konfliktpunkte, die weiter bestehen und der vordringlichen Bearbeitung und Klärung bedürfen.
- Die Akzeptanz der deutschen Verfassung wird von vielen muslimischen Verbänden betont; doch äußern Muslime gleichzeitig auch ihre Distanz zur westlichen Rechtstradition und unterstreichen, welche Bedeutung schariarechtliche Regelungen für sie haben.
- Das Verhältnis zu Nicht-Muslimen kann ein Konfliktpunkt sein, wenn Nicht-Muslime als "Ungläubige" bezeichnet werden oder die Freiheit zur Abwendung vom Islam oder der Übertritt in eine andere Religion bestritten wird.
- Die Rolle von Frauen und Mädchen ist auch im praktischen Alltag immer wieder Anlass von Konflikten. So stand dies Thema sowohl bei den jüngsten Gesprächen von Minister Schäuble mit muslimischen Vertretern als auch bei dem von Bischof Huber oben auf der Tagesordnung. Ob die Tradition von Zwangsehen eine Randerscheinung unter türkischen Muslimen in Deutschland ist oder weit verbreitet, ob es ein Alarmzeichen für Abschottung und Extremismus ist, wurde ja vor kurzem in der deutschen Öffentlichkeit heftig diskutiert und ist auch innerhalb der türkischen Bevölkerungsgruppe ein brisantes Thema.

Dieses Kontroversen dürfen nicht verdecken, dass es auch ein vertrauensvolles Zusammenleben von Christen und Muslimen in Deutschland gibt, dass es zahllose Freundschaften, Kooperationen und Projekte und nicht zuletzt auch bi-religiöse Familien gibt, die zwei Religionen in sich schließen. Konfliktmeldungen in den Medien überdecken leider zu oft die Erfahrungen guter Zusammenarbeit. Wie kann man diese fördern und weiterentwickeln?

Mir scheint es. dass wir gegenwärtig in seiner Phase sind, in der wir auch konzeptionell "von der Nachbarschaft zur Partnerschaft" fortschreiten müssen. Wie ich angedeutet habe, gibt es Bereiche, in denen wir dies auch bereits schon tun.

Ich möchte abschließend drei Bereiche nennen, in denen ich mir für die kommende Zeit eine Verstärkung solcher Partnerschaft vorstellen kann.

(1) In der Handreichung der EKD "Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland" vom Jahr 2000 findet sich die Formulierung: "Die Evangelische Kirche in Deutschland will Muslime .... mit ihrem Glauben respektieren und spricht sich für ein Zusammenleben in Achtung voreinander aus. Sie distanziert sich von Entgleisungen und Anfeindungen in der Vergangenheit und gelegentlich auch in der Gegenwart." (S. 8) Wir brauchen einen Verständigungs- und Versöhnungsprozess zwischen Christentum und Islam, in dem die beidseitigen Verletzungen der Vergangenheit aufgearbeitet werden, die wechselseitigen Zerrbilder korrigiert und der Respekt vor dem anderen und seinem Glauben explizit und öffentlich erklärt wird. Dies gilt für Deutschland ebenso wie für die Türkei; denn hier wie dort gibt es in vielen Köpfen die Verbindung von Islam mit Gewalt und Frauenfeindlichkeit und die des Christentums mit Missionierung und Ungläubigkeit. Christen und Muslime sollten in verstärkten Maße eine gemeinsame Aufgabe in der Förderung und den Aufbau einer gerechteren und friedvolleren Welt sehen und sich dafür engagieren.

(2) Die EKD hat sich immer wieder für einen islamischen Religionsunterricht ausgesprochen wie ihn unser Grundgesetz für Religionsgemeinschaften vorsieht. Dieses Vorhaben in seinen verschiedenen Fassetten voranzutreiben dürfte sehr den Interessen von DIYANET und DITIB entgegenkommen, einen Islam zu fördern, der durch Offenheit, Wissen und Vernunft geprägt ist. Bereits bestehende Verbindungen im religionspädagogischen Bereich und in der Analyse und Verbesserung von Schulbüchern können einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Bildungssituation leisten, die gerade für einige Migrantengruppen von größter Bedeutung für ihre gesellschaftliche Integration sind.

(3) Ich kann mir darüber hinaus vorstellen, dass sich im Bereich der schulischen und außerschulischen Jugendarbeit Möglichkeiten zwischen christlichen und muslimischen Jugendlichen entwickeln lassen, die beiden Seiten zugute kommen. Denn gerade an den Erfahrungen, die Kinder und Jugendliche machen, entscheidet sich sehr wesentlich die Zukunft unserer Gesellschaft; und Kinder und Jugendliche sind oftmals frei von den Lasten der Vergangenheit, die Ältere bewusst oder unbewusst mit sich tragen, und offen für Schritte in neues Feld.

Solche Aktivitäten bringen Menschen zusammen. Nach Überzeugung der evangelischen Kirche sind die Begegnung der Menschen, also auch die Begegnung von Muslimen und Christen, die Ursituationen von Dialog und Verständigung; sie sind der didaktische Ort, an dem Lernen, Klärungen und Veränderung von Denken und Handeln stattfinden kann. Sie sind die Orte der Hoffnung einer versöhnteren und friedvolleren Welt trotz unterschiedlicher Prägungen und Überzeugungen und die Übungsfelder für eine "Kultur streitbarer Toleranz"(4) .


Der Verfasser, OKR Dr. Martin Affolderbach, ist Referent im Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland, Hannover, und zuständig für interreligiöse Fragen, Islam und Teile des Nahen Ostens.

 

Fußnoten:

(1) Schreiben vom 23. September 2003 an die Große Nationalversammlung der Republik Türkei, Das Präsidium des Menschenrechtsausschusses, ANKARA, unterzeichnet von Metropolit Meliton, erster Sekretär Sen Sinod, Griechisch-orthodoxe Kirche; Dr. Krikor Damatyan, Armenische Kirche; Horiepiskopos Samuel Akdemir, stv. Metropolit, Assyrische Kirche, und Priester Georges Marovitch, Sprecher der geistlich-katholischen Oberhäupter in der Türkei

(2) Konferenz Europäischer Kirchen, Kommission für Kirche und Gesellschaft, "The Relation of the European Union and Turkey from the Viewpoint of the Christian Churches", Brüssel 2004

(3) 25 Jahre Begegnung von Christen und Muslimen auf Katholikentagen und evangelischen Kirchentagen 1980 bis 2005, Kommentiert Dokumentation von Hans Vöcking und Heinz Klautke, Schriftenreihe Nr. 1, Georges-Anawati-Stiftung (2006)

(4) Barbara Bürkert-Engel, Plädoyer für ein Kultur streitbarer Toleranz, in: Ulrich Dehn/Klaus Hock (Hrsg.), Jenseits der Festungsmauern, Neuendettelsau 2003, S. 113 - 128