„Neuer Konfessionalismus – Eiszeit in der Ökumene?“ – Vortrag beim XII. Marburger Ökumenegespräch

Margot Käßmann

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke dem Magistrat der Stadt Marburg und der Philipps-Universität herzlich für die Einladung zu den XII. Marburger Ökumenegesprächen, wohl wissend, dass die historische Vorlage für diese Gespräche ein anspruchsvolles Erbe ist. Im Oktober 1529 konnten sich Luther und Melanchthon, Zwingli und Bucer immerhin in 14 Punkten einigen, allein der letzte Punkt, in dem es um das Verständnis des Abendmahls ging, blieb strittig, zum großen Kummer der damaligen Politiker wie des Landgrafen, der gerne eine stärkere militärische Koalition zustande gebracht hätte. Aber dass die Theologie bzw. die Kirche mitunter auch das militärisch Naheliegende stören und aufschrecken muss, ist ja keineswegs auf die Geschichte beschränkt. Wenn ich dem mir vorgegebenen Titel dieses XII. Marburger Ökumenegespräches folge – "Neuer Konfessionalismus – Eiszeit in der Ökumene?“ –, dann scheinen wir gegenwärtig eher 14 unterschiedliche Artikel formulieren zu können und lediglich einen gemeinsamen. Dass dies nicht zutrifft und dass mir als Vorsitzende des Rates der EKD ausgesprochen viel daran liegt, das ökumenische Gespräch voranzutreiben und gerade im Blick auf den 2. Ökumenischen Kirchentag Zuversicht zu wecken und auch Neugier aufeinander zu machen, das werde ich in den nächsten 30 Minuten entfalten.

Denn jede und jeder Vernünftige weiß doch: Gegeneinander ist nichts zu gewinnen, wir Christen sitzen alle in einem Boot, wir leben in einer Gesellschaft, in der in manchen Landstrichen die Unterscheidung von evangelisch und katholisch schon zum Spezialwissen zu rechnen ist. Und wir haben ja auch tatsächlich viel mehr Gemeinsames als Dinge, die uns trennen. Ich halte deswegen die Rede von einer „Eiszeit“ oder einer „Stagnation“ in der Ökumene für missglückt, weil wir unsere gegenwärtige Situation mit solchen Begriffen nur festschreiben und zementieren, statt sie beweglich zu halten. Denn es liegt ja definitiv nicht am guten oder weniger guten Willen der Engagierten. So viele Menschen wollen die Ökumene

voranbringen, Menschen in den Gemeinden vor Ort und in den Amtsstuben der Kirchenämter, in den Familien und in den Universitäten. Sie wollen die ökumenischen Fragen keinesfalls bremsen oder stagnieren lassen, sondern mit immer neuen Ideen die Begegnung, das Verständnis und auch das gemeinsame Gebet voranbringen. Wenn man sich das Engagement und die Begeisterung für den 2. Ökumenischen Kirchentag anschaut, dann ist von einer Erschöpfung in ökumenischen Fragen nichts zu spüren. Von einem fehlenden guten Willen kann keine Rede sein, man muss vielmehr einen Blick auf die ökumenische Großwetterlage werfen, um unsere ökumenische Situation zu verstehen.

Der ökumenische Erfolg

Es sind in meinen Augen gerade die von einer ökumenisch so überaus erfolgreichen Generation erarbeiteten Fortschritte und die dadurch erreichte inhaltliche Nähe, es sind die gemeinsam abgearbeiteten falschen Bilder voneinander und die endlich überwundenen Vorurteile übereinander, die nun unserer Generation „die Mühen der Ebene“ in der ökumenischen Weiterarbeit auferlegen. Carl Friedrich von Weizsäcker hat einmal gesagt: „Es sind die Erfolge, die die größten Krisen auslösen.“ Und eben dies gilt auch für unsere ökumenische Situation: Die vielen großen und kleinen Schritte aufeinander zu, die vielen konfessionsverbindenden Ehen, die vielen theologischen Erklärungen bis hin zur gemeinsamen offiziellen Feststellung zur Rechtfertigungslehre im Jahr 1999 zeigen, wie weit wir gekommen sind. Und wir sind weit gekommen! Man kann sich das ja heute kaum noch richtig vorstellen, wie viele kleine und größere Ärgernisse und Abgrenzungen es gab. Für die meisten von uns sind ja die ökumenischen Nicht-Beziehungen in den vergangenen Zeiten mit all ihren kleinen Nickligkeiten und großen Abgrenzungen kaum noch vorstellbar. Die beiden Geschwisterkirchen des Westens haben in der ökumenischen Vertrautheit viel geschafft. Wir stehen auf Schultern von Generationen, die Vorurteile und Verurteilungen, Missverständnisse und Fehleinschätzungen aus dem Wege geräumt und damit vielen Menschen ein ökumenisches und konfessionsverbindendes Glaubensleben eröffnet haben. Dieser andere ökumenische Geist setzte mit dem beginnenden 20. Jahrhundert ein. Als Auftakt sei die Weltmissionskonferenz in Edinburgh vor 100 Jahren genannt, aus der sich die Bewegung für Glauben und Kirchenverfassung und die Bewegung für Praktisches Christentum entwickelten. Gemeinsamkeiten und Verträglichkeiten wurden entdeckt, und irgendwann war es dann tatsächlich keine Familienkatastrophe mehr, wenn eine Protestantin in eine katholische Familie heiratete oder umgekehrt. Heute dagegen hören wir immer häufiger von jenen berühmten Beispielen, dass ein empörter Protestant aus der Kirche austreten will, weil der Papst dies oder jenes gesagt hat. Oder umgekehrt: dass ein katholischer Christ wieder in seine Kirche eintreten oder aus ihr austreten will, weil sich die Ratsvorsitzende der EKD jetzt zum Thema Krieg und Frieden in Afghanistan geäußert hat. Aber trotz manchen Verlustes der öffentlichen Unterscheidungsfähigkeit, dies eine dürfen wir nie vergessen: Was für lange Wege sind die Generationen vor uns in ökumenischen Dingen gegangen! Wie viel existentiellen Kummer haben sie überwinden können durch die ökumenischen Erfolge! Und wie leichtsinnig wäre es, diese Errungenschaften mit dem Stichwort „Eiszeit“ oder „neuer Konfessionalismus“ in Gefahr zu bringen, nur weil wir heute in einer anderen Phase im Dialog angekommen sind. Nein, mein Plädoyer lautet: Die Ökumene hat vielleicht die Zeit der zügigen Erfolge hinter sich, aber es wäre ein Fehler die Situation nur nicht immer wieder nach hinten und also rückwärts zu orientieren und zu sagen: Früher aber ging alles schneller, früher waren die Schritte aufeinander zu sichtbarer, früher hatten wir Sieben-Meilen-Stiefel an, heute machen wir nur noch Trippelschritte. Es ist doch eher umgekehrt.

Die Generationen vor uns haben Gott sei Dank so viel klären, heilen und versöhnen können, dass wir nun vor anderen, neuen Herausforderungen stehen. Wenn man so will: Durch den Erfolg der Vorherigen ist unsere Generation angekommen bei den Herzensfragen, bei den Fragen, die für den jeweiligen Partner fundamentale Fragen sind. Wir haben das Wohnzimmer erreicht, denn Terrasse und Flur sind aufgeräumt! Wir müssen jetzt über die Kernunterschiede sprechen, über das Verständnis der Kirche und über das Verständnis des Amtes, auch über die Ziele, die wir im ökumenischen Gespräch erreichen wollen. Vor uns liegt die Bearbeitung der großen Fragen, deswegen geht es nicht mehr so schnell. Aber ein Beleg für eine Eiszeit ist das noch lange nicht.

Dabei bleibt gültig: Ökumenische Bemühungen sind kein Nebengeschäft, kein Beiwerk der Kirchen, sie gehören zu ihrem Wesen und ihrem Selbstverständnis. Der ökumenische Dialog ist allen Christen aufgetragen und zugemutet, die Schlüsselstelle in der Bibel dazu ist Joh. 17, 21-22, wo es heißt: „Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch für die, die durch ihr Wort an mich glauben, damit sie alle eins werden. Wie du, Vater, in mir bist und ich in dir, so sollen auch sie in uns sein, damit die Welt glaube, dass du mich gesandt hast."

Dieser Grundauftrag zum Eins-Sein in Christus hat allerdings von vornherein und seit den ersten Tagen der Christenheit unterschiedliche Interpretationen und Ausgestaltungen gefunden. Vom Neutestamentler Ernst Käsemann stammt der berühmte Satz, dass die Bibel „nicht die Einheit der Kirche, sondern die Vielfalt der Konfessionen“ begründe. Schon in der Bibel finden sich ja unterschiedliche Gemeinden und Interpretationen des einen Heilsereignisses in Jesus Christus; die Vielfalt von Gemeinden, Konfessionen und auch Kirchen ist kein Spätphänomen der Christenheit. Und natürlich ist im Laufe der Zeit und der Jahrhunderte das Gewicht der Unterschiedlichkeiten größer geworden: Wie bei Bäumen sind die Ringe immer mehr geworden, die Stämme, auf denen die je eigenen Traditionen stehen, wurden dicker, so dass das Bewusstsein der Einigkeit und auch das konkrete Leben des Einsseins immer schwieriger wurde. Aber zugleich sind es ja gerade diese jeweiligen Ringe und gewachsenen Äste, die eine Ökumene der Gaben und der gegenseitigen Bereicherung eröffnen. Die verschiedenen geistlichen Einsichten, die unterschiedlichen Frömmigkeitsformen und gewachsenen spirituellen Eigenarten machen den Dialog zugleich bereichernd und schwierig. Auch das sollten wir nicht vergessen: Ökumene heißt für niemanden von uns die Angleichung der Verschiedenheiten. Die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner oder die Verleugnung der Unterschiede ist nicht Ziel einer ökumenischen Arbeit. Und dies nicht aus Eigensinn, sondern um des geistlichen Reichtums in der Ökumene willen. Denn es sind doch gerade die spezifischen Gaben und besonderen Charismen der Partner, die wir in der Ökumene mit gegenseitigem Respekt und in großer Achtung wahrnehmen wollen. Wir können uns doch nur gegenseitig bereichern, ergänzen und auch manche Frage zumuten, wenn wir unsere Verschiedenheiten nicht für das Problem in der Ökumene halten, sondern für den Reichtum. Dies habe ich immer als den Wahrheitskern für die von vielen auch kritisch gesehenen Formeln von der „Ökumene der Profile“ angesehen: Es ist eine ökumenische Haltung, die die je eigenen Gaben, Schätze und Einsichten der verschiedenen Kirchen eintragen will in den ökumenischen Dialog, damit Ökumene nicht steht für den kleinsten gemeinsamen Nenner. Zugegeben: man kann diese Formel auch missverstehen und wohl auch missbrauchen als Abgrenzungsstrategie gegen die Partner, man kann in eine Art Wettbewerb der Profile eintreten und nicht nur die eigenen Charismen groß darstellen, sondern die der anderen klein. Aber die Intention einer Ökumene der Profile ist dies nicht, sondern die Stärkung der Ökumene durch die unterschiedlichen Gaben und Berufungen der einzelnen Kirchen. Fulbert Steffensky, der Hamburger Pädagogikprofessor und ehemalige Benediktinermönch, formuliert diesen Gedanken so: „Die Kirchen brauchen die je anderen Kirchen, um ganz und vollständig werden zu können." Wir dürfen nie den Eindruck erzeugen, wir könnten uns selbst genug sein; die Vielzahl der Kirchen und Konfessionen zeigt, dass wir immer auch der Ergänzung bedürfen durch die geistlichen Gaben und Einsichten der anderen. Eine Ökumene der gegenseitigen Ergänzung - eine schönes Bild für die Ziele ökumenischer Anstrengungen.

Dies aber bringt mich zu einem weiteren Gedanken: In jenem oben zitierten Johannes-Vers steckt gleichzeitig eine wesentliche Näherbestimmung der Einheit. Es heißt ja, dass alle „in uns eins sein" sollen. Für uns evangelische Christen liegt auf der Hand, dass diese Einheit in Christus mehr und anderes meint als eine sichtbare Einheit der Kirchen. Nach evangelischem Verständnis liegt die Einheit der Kirchen nicht vor uns, sondern hinter uns, besser gesagt: unter uns, sie ist längst gestiftet und vorhanden und getragen in Jesus Christus. Nach meiner Wahrnehmung liegt hier der tiefste Grund, warum wir gegenwärtig in den beiden großen Kirchen unterschiedliche Zielvorstellungen haben, die wir mit der ökumenischen Bewegung verbinden: Hier steht die „sichtbare Einheit der Kirchen“ einem eher an der Leuenberger Konkordie geschulten Bild, einer „Einheit in der Verschiedenheit“ gegenüber. Die Reformationskirchen haben 1973 mit der „Leuenberger Konkordie“ ein Grundmodell der Kirchengemeinschaft entwickelt, das eine Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft und so eben auch eine Kirchengemeinschaft der lutherischen, reformierten und unierten Kirchen ermöglichte. Dieses Einheitsmodell achtet die Verschiedenheit der Kirchen, ohne die Übereinstimmung im Grundsätzlichen zu vernachlässigen. Nach CA VII genügt [satis est] für die wahre Einheit der Kirche eine Übereinstimmung „in Bezug auf die Lehre des Evangeliums und die Verwaltung der Sakramente“. Diese Übereinstimmungsdefinition gründet auf der Schriftstelle (Eph 4, 3 – 6), wo es heißt: „Seid darauf bedacht zu wahren die Einigkeit im Geist durch das Band des Friedens: ein Leib und ein Geist, ... ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ein Gott und Vater, der da ist über allen und durch alle und in allen.“

Es hat von römisch-katholischer Seite den Einwand gegeben (Kardinal Kasper am 17. September in Gnesen beim Internationalen Ökumenischen Forum), dass die römisch-katholische Kirche eine wirkliche Einheit in der Verschiedenheit wolle, also eine Einheit im Glauben, in den Sakramenten und im apostolisch begründeten Bischofsamt, während sich auf der evangelischen Seite mit Leuenberg offenbar die Auffassung durchgesetzt habe, man wolle eine Einheit bei wirklicher, also bleibender Verschiedenheit anstreben. Denn Leuenberg müsse man als „Verschiedenheit ohne wirkliche Einheit bezeichnen“. Hier ist eine deutliche Differenz in den Zielbildern zu sehen. Natürlich sollen wir Protestanten nicht empfindlich sein, aber ich gestehe, dass mich die Bewertung der Leuenberger Kirchengemeinschaft als „nicht wirkliche Einheit der Kirchen“ auch irritiert hat.

Zugleich aber ist mir diese Irritation Anlass, auch eine Mahnung an die eigene, die kirchenleitende Adresse zu formulieren: Können wir uns auf gemeinsame Zielvorstellungen einigen? Oder brauchen wir Zielbestimmungen, die die Unterschiedlichkeit der Ziele zugleich mit bedenkt? Ich bin davon überzeugt: Erst wenn wir uns hier auf gemeinsame Überlegungen geeinigt haben, können wir auch wieder von erfolgreicher Ökumenearbeit reden. Oder anders gesagt: Das Gefühl der Eiszeit ändert sich erst, wenn man weiß, wie der Frühling aussieht!

Die ökumenischen Aufgaben

Um aber nicht nur Erwartungen zu formulieren, sondern auch Ziele zu benennen, will ich einige konkrete Projekte ansprechen:

Zuerst nenne ich das Reformationsjubiläum 2017 und die Vorbereitung darauf mit der sog. Luther- oder Reformationsdekade. Ich freue mich und bin dankbar dafür, dass ich vor kurzem im Gespräch mit dem Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Zollitsch, dieses Thema ansprechen konnte: Wir Evangelischen haben die Themenjahre der Reformationsdekade bewusst so angelegt, dass sie ökumenisch zu gestalten sind. Denn wir wollen „Luther 2017 - 500 Jahre Reformation“ anders als in den früheren Jahrhunderten nicht nur ökumenisch und international feiern, sondern auch durchaus selbstkritisch im Blick auf die Geschichte und zuversichtlich im Blick auf die Zukunft der Reformationskirchen. Natürlich ist die Erinnerung an den Thesenanschlag Martin Luthers an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg erst einmal ein evangelisches Fest; es ist der symbolische Ursprung der Reformationskirchen und verständlicherweise freuen wir uns darüber, dass es uns gibt. Aber es ist in meinen Augen wirklich kein neuer Konfessionalismus, wenn sich die reformatorischen Kirchen an ihre Ursprünge erinnern und sich dankbar und nachdenklich ihrer Herkunft zuwenden. Wir feiern auch keineswegs die Spaltung und Trennung der Kirchen, sondern erinnern uns an die Größe und Grenze der damals handelnden Personen. Wir inszenieren auch nicht den Glaubenshelden „Junker Martin“, sondern erinnern eine durchaus zwiespältige Person, die mit ihren Sätzen über die Juden oder die Türken auch entsetzliches Unheil angerichtet hat. 2017 soll keine unkritische Jubelveranstaltung werden, sondern eine Erinnerung an ein weltgeschichtliches Ereignis, das Europa insgesamt in Zustimmung und Abgrenzung geprägt hat. Denn auch hier gilt doch: Eine Ökumene der Gaben gelingt nur, wenn die einzelnen Dialogpartner ihre spirituellen Schätze und geistliche Beauftragungen kennen und pflegen. Wer seine Wurzeln nicht kennt, dem wachsen keine Flügel, um in seine Zukunft zu fliegen. Deswegen an dieser Stelle die herzliche Einladung: Wir laden nicht nur die Gemeinschaft der evangelischen Kirchen in Europa zur Mitwirkung ein, sondern auch die römisch-katholischen Geschwister. Lassen Sie uns das Reformationsjubiläum auch ökumenisch gestalten, lassen Sie uns vor Ort und in den Kirchen die Themenjahre auf ihre ökumenischen Chancen und Möglichkeiten anschauen und viele gemeinsame Inhaltliche Schritte gehen. Lassen Sie uns gemeinsame Überlegungen anstellen zum „Jahr der Taufe 2011“, mit dem wir in der evangelischen Kirche das Jahresthema „Reformation und Freiheit“ gestalten wollen. Oder lassen Sie uns doch prüfen, ob wir 2012 unter dem Thema „Reformation und Musik“ nicht eine Art „Jahr der Kirchenmusik“ anregen können, bei dem wir gemeinsam deutlich machen, welchen Beitrag unsere Kirchen zur musikalischen Landschaft in unserem Land leisten.

Eine zweiter Gesichtspunkt: Die Christen in Deutschland sitzen in einem Boot, heißt es oft, und das stimmt ja auch; aber mitunter hat man den Eindruck, dass dieses Boot Leck geschlagen ist. Die Umgestaltung unserer Kirchen auf eine zuträgliche Dimension, die neue Konzentration auf die wesentlichen Aufgaben und der Abbau von nicht mehr zu finanzierenden Arbeitszweigen, steht beiden Kirchen ins Haus. Es gibt m. W. keine Kirche, keine Konfession und letztlich auch keine Gemeinde, die auf die insgesamt schwieriger gewordene kirchliche Situation in unserer Gesellschaft nicht mit einer Betonung und Unterstreichung des je Eigenen antwortet. Der Verlust an gesellschaftlicher Relevanz, die finanziellen Einbrüche und missionarischen Herausforderungen führen unvermeidlich dazu, die je spezifischen Gaben, das je besondere Profil, die je eigenen Charismen und Begabungen zu konturieren. Ich kenne dies aus meiner eigenen Landeskirche: Die eine Gemeinde betont ihre Jugendarbeit, die andere unterstreicht ihr musikalisches Niveau, die eine Gemeinde stellt ihr diakonisches Engagement heraus und die andere Hauskreise; wir alle müssen unsere Stärken sichtbar machen, damit die Menschen uns sehen können. Denn „nur was unterscheidbar ist, lässt sich identifizieren“, lautet der Grundsatz, den der Soziologe Armin Nassehi den Kirchen ins Stammbuch geschrieben hat. Das aber gilt auch für beide großen Konfessionen – so seine These: Beide Kirchen „müssen sich Gedanken darüber machen, wofür sie eigentlich stehen. Ich halte so auch eine starke Konfrontation zwischen evangelischer und katholischer Kirche für wichtig, nicht wie früher eine Konfrontation, die bspw. Keile in die Familie getrieben hat, sondern eine Konfrontation, die den Unterschied deutlich macht.“ Mir liegt viel daran, diese Herausstellung der Differenzen nicht als falsche Abgrenzungsstrategie oder unlauteren Konfessionalismus zu bezeichnen, sondern die innere Notwendigkeit sichtbar zu machen, in der sich die Kirchen und Konfessionen befinden. Wir brauchen - im Unterschied zur der vorausgehenden Generation, die allen Anlass hatte, die Gemeinsamkeiten zu betonen – die Profilierung unserer jeweiligen Gaben und geistigen Güter, damit wir in der Welt erkennbar sind und also die Menschen zum Glauben rufen können. Aber gerade diese missionarisch ausgerichtete Herausstellung der besonderen geistlichen Gaben kann leicht als falsche Profilierung und unlautere Abgrenzung missverstanden werden. Dies ist wohl das heutige Dilemma des ökumenischen Fortschrittes: Wir müssen uns mit unseren je besonderen Gaben profilieren, um erkennbarer zu sein, aber gerade das macht die Betonung des Gemeinsamen schwieriger. Meines Erachtens bildet dieses Dilemma auch den Hauptgrund dafür, warum der ÖRK und die KEK gegenwärtig geschwächt wirken, warum auch die ACK in Deutschland keine sehr kräftige Ausstrahlung hat und warum vielleicht sogar die ROK die neue Ratsvorsitzende zu einem Problemfall erhebt, obwohl sie jahrelang problemlos mit ihr im Gespräch war. Die Kirchen müssen das Eigene betonen, um wahrgenommen zu werden, das aber lässt die Gemeinsamkeiten aus dem Blick treten. Deswegen lautet meine Schlussfrage: Wie gelingt Ökumene, wenn wir zugleich die verschiedenen Gaben betonen?

Wir tun uns gut, wenn wir eine präzise, faire und sachliche Beschreibung der Differenzen erreichen; eine klare, unpolemische und wahrhaftige Beschreibung dessen, worin der Unterschied zwischen den beiden Konfessionen besteht, wie er zu verstehen ist und worin seine theologischen Wurzeln liegen, dies ein wichtiger Beitrag zur Ökumene. Eberhard Jüngel, der Großmeister der evangelischen Theologie, sagt zu recht: „Um der Wahrheit des Evangeliums willen streben denn auch die christlichen Kirchen nach ihrer Einheit. Kirchenpolitische Opportunitäten haben sich der Verpflichtung zur Wahrheit strikt unterzuordnen. Und eben deshalb erwarte ich, dass man sich möglichst präzise darüber verständigt, worüber man sich vorerst nicht zu verständigen vermag“ (FAZ vom 15.8.05). Im Unterschied zu der früheren Zeit wäre das "erkenntnisleitende Interesse" nicht, gleich solche Formulierungen zu finden, die möglichst schon eine ökumenisch gemeinsame Sprache avisieren (wie z.B. „communio sanctorum“), sondern eine größere Sachlichkeit und Nüchternheit, die die beiden Konfessionen im Idealfall übereinstimmend die Unterschiede benennen lässt. Dabei ist aber entscheidend, dass wir miteinander, nicht übereinander reden. Ich habe große Hoffnung, dass kontinuierliche Gespräche zwischen den Kirchen und Konfessionen und regelmäßige Verabredungen die Chance bieten, die Gemeinsamkeiten zu stärken. So haben wir den Wunsch, in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Situation die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen gemeinsam zu bedenken. Und ich will hier auch ausdrücklich danken, dass nicht nur katholische Bischofskollegen, sondern auch sehr viele katholische Geschwister in ungezählten Briefen und E-Mails ihre Solidarität und Unterstützung für mich zum Ausdruck gebracht haben, als es um die Friedensäußerungen der Ratsvorsitzenden stürmisch zuging.

Wir sind in einer missionarischen Situation angekommen; wir müssen nicht nur den christlichen Grundwasserspiegel durch intensive Bildungsarbeit anzuheben versuchen, sondern auch die Sprach- und Auskunftsfähigkeit in Glaubensdingen verstärken. Dies ist, so meine ich, eine Herausforderung unser beider Kirchen. Und ich freue mich, wie viel wir an dieser Stelle voneinander lernen können, gerade weil wir mitunter verschiedene missionarische Wege einschlagen. Meines Erachtens wäre es ein Missverständnis, darin eine Schwächung der christlichen Kirchen zu sehen. Im Gegenteil, unter missionarischen Gesichtspunkten kann man sagen, dass die verschiedenen Kirchen und Konfessionen in Deutschland unterschiedliche Versuche spiegeln, Menschen zum Glauben zu rufen. Es ist, als hätte Christus gleichsam mehrere Arme, mit denen er auf unterschiedliche Weise die fern gewordenen Menschen zu erreichen versuchte. In dieser Perspektive kann man die Stärken des jeweils Anderen verstehen als einen Beitrag zur Mission der einen christlichen Kirche. Im Grunde muss man wollen, dass der jeweils Andere mit seinen Stärken und Profilen besonders zum Leuchten kommt! Einladende Kirchen rufen zum Glauben mit ihren ganz besonderen Gaben und Charismen; dies ist aber nicht auf Neid und Konkurrenz ausgerichtet, sondern auf - wenn man so will – einen geistlichen Wettbewerb, der um des Evangeliums willen auch sein darf.

Zuletzt will ich dies noch sagen: Vor uns liegt der 2. Ökumenische Kirchentag und ich spüre, dass sich sehr viele Menschen außerordentlich darauf freuen, gemeinsam ihren Glauben zu feiern. Ich gehöre zu diesen Menschen. „Damit ihr Hoffnung habt“ füreinander und aufeinander, ja, diese Hoffnung aufeinander und füreinander behalten wir nur, wenn wir neben allen notwendigen Klärungen und unausweichlichen Differenzen, neben allen Irritationen und Unterschieden dies eine erfahrbar und erlebbar machen: dass wir miteinander feiern können: beten und tanzen, lachen und singen, hören und sprechen. Dabei ist mir wichtig, die theologischen Differenzen nicht auszuklammern.

Ökumene ist zuerst und zuletzt eine Herzensangelegenheit, sie braucht die Klarheit des Geistes, aber auch die Wärme eines Herzens, das den Anderen kennen lernen will, das gemeinsam vor Gott einkehren will und das beten kann auch für den Anderen, den Fernen und Nahen, damit wir vor Gott „eins sind“. Ökumene ist eine Sehnsucht nach Geschwisterlicheit, die höher ist als all unsere menschliche Vernunft, und deswegen lebt und nährt sie aus einem gemeinsamen Erleben. Wir wollen und sollen in München noch kein gemeinsames Abendmahl feiern, da sind wir noch nicht; niemand sollte den Versuch machen, solche Vertrautheit zu erzwingen und sich über die Vorbehalte und Bedenken einfach hinweg zu setzen. Aber wir werden dennoch an gemeinsamen Tischen sitzen, werden gesegnetes Brot teilen in der Tradition der orthodoxen Kirche und ihrer Artoklasie, und wir werden eine erste Ahnung davon bekommen, wohin die ökumenische Reise gehen kann. Deswegen lassen Sie sich einladen zum 2. Ökumenischen Kirchentag, damit auch Sie Hoffnung behalten können in ökumenischen Dingen.