„Das Eintreten gegen das Wiedererstarken von Rechtsextremismus und Antisemitismus als Aufgabe der christlichen Kirchen“

Nikolaus Schneider

Es gilt das gesprochene Wort.

Tagung zur Woche der Brüderlichkeit
Katholische Akademie Aachen

Die Verbrechen und Morde der sog. "Zwickauer Zelle", die unter dem unseligen Namen "Döner-Morde" über Jahre hinweg unsere Republik beschäftigten, wären für sich genommen schrecklich genug und Anlass genug, sich in Politik, Kirche und Gesellschaft mit dem Phänomen des neuen Rechtsextremismus zu beschäftigen. Aber diese Untaten sind gleichsam nur die Spitze des Eisbergs. Das Phänomen als solches geht weiter und reicht tiefer und ist deshalb sehr viel bedrohlicher für unser Land und für unsere Gesellschaft, als wir uns dies bis vor kurzem noch vorstellen konnten.

Es ist wohl wahr, dass wir in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) das Wiedererstarken des Rechtsextremismus schon seit Jahren im Blick haben. Unser Frühwarnsystem hat, so meine ich, erstaunlich gut funktioniert. Ich erinnere an den Beschluss der EKD-Synode in Ulm aus dem Jahr 2009. In diesem Beschluss haben wir die Initiative zur Gründung der "Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus" ausdrücklich begrüßt und unser Kirchenamt gebeten, die Gründung auch aktiv personell zu begleiten. Das ist so erfolgt und umgesetzt worden. Ebenfalls haben wir eine lange Liste von hilfreichen Materialien erstellt, die über das Internet für alle Landeskirchen und unsere Gemeinden verfügbar ist.

Damit kommt zum Ausdruck, dass für uns als evangelische Kirche die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Umtrieben und deren Bekämpfung als notwendige Aufgaben erkannt sind. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang der "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste". Diese Organisation, die schon seit langem ein friedenspolitisches Markenzeichen des bundesdeutschen Protestantismus darstellt, war ein bedeutender Katalysator für den Entstehungsprozess der Arbeitsgemeinschaft.

I. Einige erklärende Anmerkungen zu den Begriffen: Extremismus, Rechtsextremismus, neuer Rechtsextremismus

Einige Anmerkungen sollen klären, wovon im Folgenden die Rede ist. Was verstehe ich unter "Extremismus"(a), "Rechtsextremismus"(b) und "neuem Rechtsextremismus"(c)?

a) Im Evangelischen Staatslexikon (4. Auflage 2006) ist der Begriff des Extremismus(1) wie folgt definiert: Extremismus bezeichnet politische Richtungen, die die Werte der freiheitlichen Demokratie ablehnen. Die Vielfalt konkurrierender Interessen wird nicht anerkannt, das Recht auf Opposition geleugnet und ein Freund-Feind-Denken geschürt. Extremismus wähnt sich im Besitz der absoluten Wahrheit, ist grundsätzlich kompromisslos und tendiert zu Verschwörungstheorien.

In aller Regel gibt es in westlichen Demokratien Extremismus von links und von rechts. Neben beiden Formen ist in der Gegenwart zunehmend auch ein religiös kolorierter Extremismus (Fundamentalismus!), zu beobachten. Extremismus kann, muss aber nicht gewaltbereit auftreten.

In meinem Vortrag werde ich mich auf das Phänomen des Rechts-Extremismus konzentrieren. Ich betone an dieser Stelle aber ausdrücklich: Auch alle anderen Erscheinungsformen des Extremismus lehne ich ab – und zwar sowohl aus theologischen wie aus politischen Gründen – und verstehe auch deren Bekämpfung als eine wichtige Aufgabe unserer Kirche.

b) Zur näheren Spezifizierung des Begriffs "Rechtsextremismus" greife ich an dieser Stelle auf den entsprechenden Artikel des Online-Lexikons "Wikipedia" zurück. Der Begriff "Rechtsextremismus" wird hier als eine Sammelbezeichnung erklärt, um faschistische, neonazistische oder ultra-nationalistische politische Ideologien und Aktivitäten zu beschreiben. Deren gemeinsamer Kern sei die Orientierung an der ethnischen Zugehörigkeit, die Infragestellung der rechtlichen Gleichheit der Menschen sowie ein antipluralistisches, antidemokratisches und autoritär geprägtes Gesellschaftsverständnis. Schließlich heißt es im Artikel: "Politischen Ausdruck findet dies in Bemühungen, den Nationalstaat zu einer autoritär geführten 'Volksgemeinschaft' umzugestalten. Der Begriff 'Volk' wird dabei rassistisch oder ethnopluralistisch gedeutet."(2)

Ich füge hinzu: In der faktischen Ausprägung des Rechtsextremismus in Deutschland, die sich im Nationalsozialismus und den ihm nachfolgenden Bewegungen und Gruppierungen verkörperte, wurden die jüdischen Mitbürger zum Feindbild und Sündenbock erkoren. Zwar nicht nur ihnen, aber ihnen vorrangig galt der Hass und Vernichtungswille der Nationalsozialisten. Das Verhältnis zum Judentum und zum Staat Israel ist daher auch heute noch ein wesentlicher Indikator für das Vorhandensein von Rechtsextremismus in deutscher Prägung.

c) Schließlich: Wie unterscheidet sich der so genannte "neue Rechtsextremismus" von seiner althergebrachten, sozusagen "klassischen" Gestalt? Die ARD schreibt in einem auf ihrer Webseite veröffentlichten Dossier hierzu:

"Die rechtsextreme Bewegung in Deutschland ist vielschichtig. Die Aktivisten setzen bei der Rekrutierung auf Musik, lebensnahe Themen und abwechslungsreiche Freizeitgestaltung. Die NPD fungiert als parlamentarischer Arm, 'Freie Kameradschaften' sind für die Straßen zuständig. Bei Wahlen präsentieren sich Rechtsextreme möglichst bürgerlich, um von verbreiteten Vorurteilen zu profitieren."(3)

Man kann vielleicht sagen: Beim neuen Rechtsextremismus handelt es sich um einen Wolf, der Kreide gefressen hat, um seine Stimme geschmeidig zu machen. Besonders im Osten Deutschlands sind die Rechtsextremen auch oft "Kümmerer", das heißt, sie helfen Menschen in Not und bieten soziale Begleitung in strukturschwachen Gegenden.

Manchmal aber lässt der Wolf dann doch seine Maske fallen. Ich denke etwa an das zentrale Motto der NPD bei der Berlin-Wahl: "Gas geben!". Diejenigen, die ein solches Motto wählten, wussten sicherlich, was sie taten. Dass das Anbringen dieser Plakate auf dem Rechtswege nicht verboten werden konnte, halte ich für skandalös. Denn vor dem Hintergrund der Verbrechen des Nationalsozialismus am jüdischen Volk und an vielen anderen Menschen, vor dem Hintergrund des Grauens der Konzentrationslager und der Gaskammern, ist die Wahl dieses Mottos ungeheuerlich.

II. Die besondere geschichtliche Verantwortung Deutschlands in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus

Die Verbrechen des Nationalsozialismus, die mit einem spezifisch deutschen Phänomen des Rechtsextremismus verbunden sind, begründen die besondere geschichtliche Verantwortung Deutschlands in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsradikalismus. Hinzu kommt: die Ermordung der Jüdinnen und Juden war ein rechtlich geordnetes staatliches Programm und gehört deshalb zum Erbe deutscher Staatlichkeit.

Auch als EKD stehen wir in dieser Verantwortung. Dabei kann uns nicht nur das historische Phänomen des Nationalsozialismus beschäftigen. Vielmehr muss es uns auch darum gehen, den Rechtsextremismus in seiner aktuellen, neuen Gestalt wahrzunehmen. Und auch die vor mehr als fünf Jahrzehnten von der EKD ins Leben gerufene "Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte" allein ist zu wenig, um dieser Verantwortung zu entsprechen. Hier ist die evangelische Theologie als Wissenschafts-disziplin im Ganzen gefordert, in allen ihren Fächern: In der Kirchengeschichte z. B. gilt es, die historischen Bedingungen der Möglichkeit des Entstehens von Antijudaismus und Antisemitismus(4) zu klären. Dazu wird man bis zum biblischen Kanon zurückgehen und ihn historisch-kritisch und sicherlich auch sachkritisch befragen müssen. Denn zumindest Ankerpunkte des Antijudaismus gibt es in den Ur-Dokumenten unseres Glaubens.     
                     
Ich will aber auch hervorheben, dass an vielen Orten und in unzähligen Gemeinden in Deutschland sehr qualifizierte Auseinandersetzungen mit dem Rechtsextremismus – sowohl in seiner historischen wie auch in seiner aktuellen Gestalt – stattfinden. Die EKD ist sich auf allen Ebenen ihrer kirchlichen Existenz – in Gemeinden und Landeskirchen, an der Basis und auf kirchenleitender Ebene, in Gruppen und Kreisen, in Werken und Verbänden – ihrer besonderen Verantwortung im Umgang mit dem Rechtsextremismus bewusst und nimmt diese mit großer Sorgfalt wahr. Das gilt vor allem für ihre ökumenischen Dialoge.

Umso mehr muss es uns beunruhigen, dass sich in den letzten Jahren verstärkt ein neuer Rechtsextremismus ausgebreitet hat, der bis in die Mitte unserer Gesellschaft hineinreicht und daher leider auch vor Menschen in unseren Kirchengemeinden nicht halt macht. Das hat einerseits mit dem oben beschriebenen Wesen des "neuen Rechtsextremismus" zu tun, der Kreide gefressen hat und in seinem wölfischen Charakter nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Zum anderen hat es mit dem Charakter unserer Kirche als Volkskirche zu tun. Entwicklungen der Gesellschaft schlagen sich auch in der kirchlichen Mitgliederschaft nieder.

Das hat eine empirisch fundierte Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung mit dem Titel "Vom Rand zur Mitte" aus dem Jahr 2006 genauer untersucht. Dort wird die gegenwärtige gesellschaftliche Situation mit folgenden Worten beschrieben:

"Vor dem Hintergrund der weiten Verbreitung einzelner Dimensionen des Rechtsextremismus in der Bevölkerung verwundert es nicht, dass sich Menschen mit rechtsextremen Einstellungen bei allen erfragten Akteuren der Demokratie (Parteienanhänger, Gewerkschaftsmitglieder und Kirchen) wiederfinden lassen."(5)

Die Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Mitglieder der beiden großen Volkskirchen (also die EKD-Gliedkirchen und die römisch-katholische Kirche) in Fragen der Ausländerfeindlichkeit von den Konfessionslosen allenfalls geringfügig unterscheiden. Protestanten wie Katholiken weisen immerhin etwas niedrigere Werte in der Skala "Ausländerfeindlichkeit" auf, dafür zeigen sie sich – wenn die Studie Recht hat – in höherem Maße anfällig für antisemitische Tendenzen.

Inzwischen wurde – im Januar des letzten Jahres – der vollständige Antisemitismus-Bericht des Bundesinnenministeriums vorgestellt (www.christen-und-juden.de/Download/
Studie2011.pdf
). In ihm werden Erscheinungsformen, Bedingungen und Präventionsansätze zum Thema "Antisemitismus" thematisiert. Und auch er stellt fest, dass bis weit in die Mitte der Gesellschaft hinein antisemitische Einstellungen vorhanden sind.

Es gilt aber auch: die Kirchen sind gegenwärtig von rechtsextremistischen Umtrieben berührt. Gemeindeglieder, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, und auch Gemeindegruppen leiden unter verbalen und tätlichen Übergriffen von Rechtsextremen.

III. Elemente einer biblisch-theologischen Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus

Wie können Christenmenschen, wie kann die evangelische Kirche mit dem neuen Rechtsextremismus umgehen?

Die Antwort kann nur lauten: Indem wir ihn aus unserer eigenen Tradition heraus, also aus der Mitte der biblischen Botschaft, mit denjenigen Kernbotschaften konfrontieren, die das Wesen des christlichen Glaubens ausmachen und die dem Rechtsextremismus entgegenstehen. Welche Kernbotschaften sind das?

a) Das ist zum einen der Schöpfungsgedanke, wie er im Buch "Genesis" zum Ausdruck kommt: Der eine Gott ist der Schöpfer der einen Menschheit. Gott ist von Anfang an "im Bund" mit seiner ganzen Schöpfung und mit allen Menschen. Die biblische Schöpfungsgeschichte bezeugt uns die Gottebenbildlichkeit für alle Menschen (Genesis 1, 27). Sie ist die theologische Grundlegung für die unser Grundgesetz prägende These von der gleichen Würde aller Menschen. Alle Menschen – unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer Rasse, ihrer Nationalität oder Religion – haben in ihrer Gottebenbildlichkeit eine unverfügbare Menschenwürde und daraus abgeleitete Menschenrechte, die wir schützen und verteidigen müssen.

b) Die Heilige Schrift bezeugt uns, dass Gott sich das Volk Israel zum Liebling seiner Seele (Jeremia 12,7) und zu seinem "Augapfel“ (Sacharja 2,12) erwählt und mit ihm einen besonderen Bund geschlossen hat. Dieser Bund ist in Jesus Christus weder gekündigt noch aufgehoben. Das schreibt Paulus uns Christenmenschen ins "Stammbuch": "…die Israeliten sind (es), denen die Kindschaft gehört und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse und das Gesetz und der Gottesdienst und die Verheißungen, denen auch die Väter gehören und aus denen Christus herkommt nach dem Fleisch, der da ist Gott über alles, gelobt in Ewigkeit" (Römer 9, 4f). Das Judentum ist und bleibt die tragende Wurzel unseres christlichen Glaubens (vgl. Römer 11,17f). Wenn unsere christlichen Kirchen sich vom Judentum – und das heißt konkret von Jüdinnen und Juden! – abschneiden, werden sie verdorren!

c) In der Selbstvorstellung Gottes im ersten Gebot des Dekalogs stellt Gott sein befreiendes Handeln vor: "Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus. Du sollst neben mir keine anderen Götter haben" (Exodus 20,2.3). Dieses erste Gebot macht die Befreiung von Sklaverei und Unterdrückung zum unvergesslichen Attribut Gottes und integralen Bestandteil der Gemeinschaft Israels mit Gott. Darum rücken Fremde (also Menschen, die von Missachtung, Diskriminierung oder Ausgrenzung bedroht sind) in die Mitte der Schutzbestimmungen Gottes. Dieses Grundanliegen des Schutzes für Fremde durchzieht wie ein roter Faden die Gesetzestexte des Alten Testamentes: "Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott" (Leviticus 19, 33f).

Die Bedeutung dieser Gebote ist unbestritten: Liebe zu den Fremdlingen, Schutz und Gastrechte stehen geradezu im Zentrum alttestamentlicher Theologie.

Sowohl in die Welt der Psalmen als auch in die Verkündigung der Propheten Israels hat diese Rechtstradition ihren Eingang gefunden. Denn "Gott behütet die Fremdlinge" (Psalm 146,9), während das Volk immer wieder daran erinnert wird, dass es "keine Gewalt übt gegen Fremdlinge" (Jeremia 7,6). Zusammen mit den Witwen und Waisen bleiben die Fremdlinge unter göttlichem Schutz, worauf die Propheten in ihrem Einsatz gegen Korruption, Habgier und strukturelle Ungerechtigkeit hinweisen (Hesekiel 22,7; Sacharja 7,19; Maleachi 3,5). Auch dahinter steht die grundlegende Überzeugung, dass alle Menschen, ganz unabhängig von ihrer Herkunft, Religion oder Sprache eine unveräußerliche Würde haben, die um des Schöpfergottes, des Wortes Gottes und um der menschlichen Gemeinschaft willen zu schützen ist.

d) Jesus Christus stellt sich in diese Tradition. In seinem Gleichnis vom Weltgericht (Matthäus 25, 31- 46) verdeutlicht er, was der Auftrag der Christenmenschen ist: Hungrige zu speisen, Durstigen zu trinken zu geben, Fremde gastfreundlich aufzunehmen und Nackte zu bekleiden. Wer die Elendsgestalten in den Konzentrationslagern und die Verbrechen der sog. "Zwickauer Zelle" vor Augen hat und dieses Gleichnis hört oder liest - wie kann er da nicht wissen, worin der Wille Gottes besteht? "Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr auch mir getan." (Matthäus 25, 40b)

e) Im Galaterbrief macht der Apostel Paulus im Rahmen einer Besinnung auf das Sakrament der Taufe klar: "Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau. Denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus." (Galater 3,28)

Für getaufte Christenmenschen verlieren alle völkischen, rassischen, sozialen und auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede jede Leben-entscheidende Bedeutung. Man kann vielleicht sogar von einer definitorischen und somit grundsätzlichen Überschreitung von ethnischen, sozialen und Gender-Grenzen sprechen. Diese formuliert Paulus allerdings aus der Perspektive der christlichen Taufe und zunächst für das menschliche Zusammenleben in und zwischen den Kirchen. Aber solche grenzüberschreitenden Erfahrungen in den Kirchen können tendenziell nicht ohne Auswirkungen auf unsere Gesellschaft und auf unsere Welt bleiben.

Zusammenfassend möchte ich zunächst festhalten:

Rechtsextremismus verleugnet und verletzt die wesentlichen Grundsätze, die das Christentum in anthropologischer und ethischer Perspektive ausmachen: die Gleichheit aller Menschen als Geschöpfe Gottes, ihre Gottebenbildlichkeit, die Verpflichtung gegenüber Bedürftigen, zu denen die Fremden gehören, die bleibende Erwählung des Volkes Israel, die grundsätzliche Überschreitung von ethnischen, sozialen und Gender-Grenzen.

Deshalb ist mein Fazit:

Ein biblisch-theologisch fundierter Glaube ruft alle Christenmenschen und die christlichen Kirchen in den Widerspruch und Widerstand gegen alle Formen von Rechtsextremismus, auch gegen den so genannten "neuen Rechtsextremismus".

IV. Widerspruch und Widerstand der Kirche in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus

Wie kann der notwendige Widerspruch und Widerstand der evangelischen Kirche in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus aussehen?

Widerspruch und Widerstand sollten vielfältig und in allen wesentlichen Arbeits- und Aufgabenbereichen der Kirche zu Hause sein. Sie dürfen somit nicht nur an einzelnen Stellen, zufällig und beliebig präsent sein, sondern müssen überall dort erkennbar werden, wo Kirche öffentlich auftritt. Die Bekämpfung des neuen Rechtsextremismus muss ein wesentlicher Teil des Wächteramtes der Kirche sein, um dies traditionell zu formulieren. Etwas moderner gesagt: Es gehört zur öffentlichen Verantwortung der Kirche in der Gegenwart, dass sie dem neuen Rechtsextremismus widerspricht und widersteht. Der Rat der EKD hat sich des Themas in seinen beiden ersten Sitzungen dieses Jahres – aus dem eingangs beschriebenen Anlass der Morde der "Zwickauer Zelle" – intensiv angenommen und dazu unter anderem ein ausführliches Gespräch mit dem ehemaligen Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts, Prof. Dr. Hans-Jürgen Papier, und dem Geschäftsführer der Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus, Dr. Christian Staffa, geführt. Ich selbst habe mich zum Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz und – gemeinsam mit meinem katholischen Amtsbruder Erzbischof Zollitsch – zur Gedenkveranstaltung für die Opfer des neuen Nazi-Terrors öffentlich geäußert.

Dieser öffentliche Widerspruch hat seinen Ort in der Lehre, in der Predigt, in aller Verkündigung und den Verlautbarungen der Kirche. Er äußert sich in kirchlichen Beiträgen zur Erinnerungskultur, in Unterrichtsmodellen zur Gewaltüberwindung und zur Annahme der Fremden im Religions- und Konfirmandenunterricht sowie in der kirchlichen Jugend- und Sozialarbeit.

Öffentlicher Widerspruch unserer Kirche hat sich konkretisiert in der synodalen Initiative zur Gründung der "Bundesarbeitsgemeinschaft Kirche und Rechtsextremismus" im Jahre 2009 und konkretisiert sich weiter in den Beschlüssen und Verlautbarungen dieser Initiative.

Widerspruch und Widerstand finden ihren Ausdruck in öffentlichen Demonstrationen, in der Beteiligung an lokalen Aktionsbündnissen. Meinen besonderen Dank an die Arbeit von "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" habe ich bereits eingangs meines Vortrages formuliert. Ich möchte ihn an dieser Stelle ausdrücklich bekräftigen.

Widerspruch und Widerstand schlagen sich auch in vielen Materialien, Projekten und Aktionen nieder, die in den einzelnen Landeskirchen ihren Ursprung und ihren Sitz im Leben haben. Beispielhaft und pars pro toto nenne ich hier die theologisch sehr gelungene und zugleich außerordentlich praxistaugliche Handreichung "Nächstenliebe verlangt Klarheit" der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsens. In der EKD haben wir eine umfangreiche Materialliste aus allen Landeskirchen erstellt, die wir auf unserer Homepage veröffentlicht haben.

An dieser Stelle könnte und müsste man eine ganze Reihe von Fragen bearbeiten und zu klären versuchen, etwa: Sollte die Kirche öffentlich für ein Verbot der NPD eintreten? Manches spräche dafür. Denn ohne Zweifel ist diese Partei verfassungsfeindlich und extremistisch, eine organisatorische Exponentin und Protagonistin des neuen Rechtsextremismus. Die Wahlplakate mit der Hetzparole "Gas geben!" im vergangenen Berliner Wahlkampf habe ich schon erwähnt.

Auf der anderen Seite wäre der Ausgang eines Verfahrens fraglich; die Kläger könnten – wie im Falle dieser Wahlplakate – mit ihrer Klage scheitern und ihre gescheiterte Klage könnte ungewollt als Legitimation der Gegenseite missbraucht werden. Vorrangig sollten wir um diejenigen Menschen ringen und ihre Herzen und Köpfe zu gewinnen suchen, die rechtsextremistische Parteien wählen. Wir wollen sie, soweit sie sich selbst als Christenmenschen verstehen, in geschwisterlicher Klarheit konfrontieren und ihnen das Evangelium vor Augen stellen – mit seinen grundlegenden Aussagen zur Nächsten- und Fremdenliebe.

Zwei Fragen will ich noch ansprechen, die oft gestellt und mitunter hitzig diskutiert werden. Sie betreffen den Umgang der Kirche mit dem (neuen) Rechtsextremismus in den eigenen Organisationsstrukturen.

Rechtsextremistische Kräfte begegnen uns auch in unserer Kirche, in unseren ureigenen Strukturen. Dabei gilt als Ausgangspunkt aller Überlegungen: Politisches Engagement, auch parteipolitisches Engagement, kirchlicher Amtsträger und Amtsträgerinnen – hauptamtlicher wie ehrenamtlicher – ist grundsätzlich erlaubt und zu respektieren. Im Rahmen der Lebensführungspflichten setzt das Mäßigungsgebot der politischen Betätigung dort eine Schranke, wo die Glaubwürdigkeit des kirchlichen Handelns beeinträchtigt wird. Dies gilt gleichermaßen für Amtstragende im hauptamtlichen wie im ehrenamtlichen Dienst, zum Beispiel also Presbyteriumsmitglieder oder Synodale. Bereits die Mitgliedschaft in einer rechtsextremistischen Partei ist geeignet, die Glaubwürdigkeit zu beeinträchtigen, weil das Parteiprogramm und das politische Handeln der Partei im Widerspruch zu Grundaussagen der Heiligen Schrift stehen. Ob dies der Fall ist, müssen die Landeskirchen als religiös-weltanschaulich gebundene Körperschaften aufgrund ihrer eigenen Entscheidungs-kompetenz am Maßstab von Schrift und Bekenntnis beurteilen. Die Verfassungswidrigkeit einer Partei wird dabei regelmäßig einen Verstoß gegen die kirchlichen Grundlagen anzeigen. Andererseits kann eine religiöse Organisation weitergehende Maßstäbe anlegen als der Staat, der bei seiner Prüfung auf das Grundgesetz beschränkt ist. Dies heißt ganz klar: Die Kirchen müssen in ihren eigenen Reihen weder bei haupt-, noch bei ehrenamtlich Mitarbeitenden dulden, dass diese gleichzeitig in einer rechtsextremistischen Partei aktiv sind. Ja, sie dürfen es nicht dulden!

Deutlich schwieriger ist die rechtliche Handhabe gegenüber rechtsextremistischen Gemeindegliedern, die kein kirchliches Amt wahrnehmen. Hier fällt oftmals das Stichwort der Kirchenzucht – mit dem selbst Insider im kirchlichen Bereich heute nicht mehr viel anfangen können. Die mahnenden "Zuchtmittel", die die Lebensordnungsregelungen der Kirchen regelmäßig kennen, gegenüber Kirchenmitgliedern tatsächlich einzusetzen, können leicht verpuffen, laufen diese doch durch die komplette Abwendung von der Kirche ins Leere. Eine deutliche Mahnung ist dennoch angezeigt.

An erster Stelle muss allerdings die seelsorgliche Rücksprache über das missbilligte Verhalten stehen, in dem der Widerspruch zum Zeugnis des Evangeliums aufzeigt wird. Wenn diese Mahnung fruchtlos ist, bleibt jedenfalls nach dem Recht eines Teils unserer Landeskirchen die Möglichkeit des Entzugs des passiven, teilweise auch des aktiven Wahlrechts. Vorrang sollte allerdings die deutliche öffentliche Missbilligung haben.

Ausblick

Nächstenliebe verlangt Klarheit. Und unsere Kirche braucht Klarheit in der Auseinandersetzung mit dem neuen Rechtsextremismus. Den Rechtsextremismus kann die Kirche nur dann mit kirchengemäßen Mitteln bekämpfen und überwinden, wenn sie sich auf die biblisch-theologische Tradition besinnt und aus der Mitte dieser Tradition heraus Ideen, Argumente und Perspektiven für das eigene Handeln gewinnt. Dazu möchte ich meine Kirche gerne ermutigen und ermuntern. Wir werden in dieser Angelegenheit, dessen bin ich mir sicher, einen langen Atem brauchen, denn der Antisemitismus ist ein alter und schwer zu überwindender Feind. Und der neue Rechtsextremismus ist gefährlich und bedrohlich für uns alle, gerade, weil er sich so gut zu maskieren versteht und dann doch mit tödlicher Präzision zuzuschlagen in der Lage ist. Ich stimme im Übrigen dem Thüringer Oberkirchenrat Christhard Wagner zu, der kürzlich sagte, der Kampf gegen "Rechts" sei eine "zutiefst geistliche Herausforderung" (epd-Ausgabe Nr. 3 vom 04.01.2012, S.2-4). Dieser Herausforderung stellen wir Kirchen uns gemeinsam mit der Politik und allen Menschen dieser Gesellschaft, die guten Willens sind. Dafür erbitte ich Gottes Hilfe und seinen reichen Segen.

Fußnoten:

  1. Eckhard Jesse: Artikel "Extremismus", in: Evangelisches Staatslexikon 4. Auflage, Stuttgart 2006, Sp.539-543.
  2. Definition der deutschen Ausgabe der Wikipedia (Stand: 23.09.2011).
  3. http://www.tagesschau.de/inland/rechtsextremismus2.html.
  4. Man muss ja mindestens dreierlei unterscheiden: Richtet sich der Antisemitismus gegen die Juden als eine (vermeintliche) Rasse – und dies war Kern der nationalsozialistischen Weltanschauung –, so bekämpft der Antijudaismus die jüdische Religion. Von beiden wiederum zu unterscheiden ist die allgemeine Israelfeindschaft, die dem jüdischen Staatsgebilde, also dem Staat Israel, gilt. Alle drei Phänomene können, aber müssen nicht miteinander verbunden sein, wie etwa die Auseinandersetzung um die Geltung des Arierparagraphen innerhalb der Kirche während des Kirchenkampfes im Dritten Reich zeigt.
  5. Oliver Decker /Elmar Brähler unter Mitarbeit von Norman Geißler, Vom Rand zur Mitte. Rechtsextreme Einstellung und ihre Einflussfaktoren in Deutschland, herausgegeben von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2006, S. 56.