Auf dem Weg zu einem neuen Kulturkampf?

Die Verschärfung der Weltanschauungskonflikte als Herausforderung der offenen Gesellschaft. Oberkirchenrätin Dr. Petra Bahr anlässlich des Jahresempfangs im Karlsruher Foyer „Kirche und Recht“

Manchmal lohnt es sich, das eigene Land, die eigene Stadt, das eigene Stadtviertel mit dem Blick einer Ethnologin zu durchstreifen, die mit ungezielter Neugier und ohne festgelegte Perspektiven ein fremdes Volk beobachtet. So kann das Auge an den Dingen hängen bleiben, die von innen kaum bemerkenswert erscheinen, oberflächliche Kleinigkeiten, die zum Symbol für den Zustand einer Gesellschaft werden. Ich lade sie ein zu einem ethnologischen Erkundungsgang an einem Samstag vor Ostern durch Berlin.

Mitten im Gewimmel aufgeregter Touristen aus aller Welt, die sich mit Stadtplan und elektronischem Reiseführer einen Weg durch die kulturelle Landschaft der Hauptstadt machen, stehen sie, die Tapeziertische mit Broschüren, Kugelschreibern und Plakatwänden, die sich einem in den Weg stellen. Was meist im blinden Winkel des Alltagsgeschäfts liegt, rückt nun in den Mittelpunkt. Der erste Tisch - zwei schicke junge Frauen drücken mir einen Zettel in die Hand. "Recht auf Homeschooling". Beschulung durch die Eltern zuhause. "Wir wollen unsere Kinder nicht dem Staat ausliefern." Auf dem Flyer stehen die ganz großen Reizworte. Menschenwürde. Elternrecht. Totalitärer Staat. Die jungen Frauen wollen wissen, ob ich eine Ahnung davon habe, welchen Einflüssen meine Kinder in der Schule ausgesetzt seien. Muslime, homosexuelle Lehrerinnen, Pornographie im Biologieunterricht, Fleischesser. Die Initiative besteht aus einem Bündnis von Gruppierungen, die normalerwiese selten zusammen auftreten: evangelikale Protestanten und ultrakonservative Katholiken, Freidenker, Veganer und Schulnotenbekämpfer.

Ich kann mich losreißen, da drückt mir ein Mann mit Bart eine Tüte in die Hand. Ein Taschenbuch baumelt darin, billiges Papier, billige Aufmachung. Der Koran. Die Salafisten, eine radikale Bewegung innerhalb des Islam, die mit Freiheitsrechten und Zugeständnissen an die moderne Gesellschaft äußerst geizig ist, gibt sich großzügig. An diesem Tag sollen noch 5000 heilige Bücher unters Volk. An den Rändern verstopfen die Bücher schon die Papierkörbe. Zwei junge Männer treten an den Stand. Wie die Brüder das heilige Buch nur so entweihen könnten? Eine Schande sei das. Und eine junge Frau mit kurzem Minirock flüstert mir zu: "Hören Sie ja nicht auf die."

Fünfzig Meter weiter drückt mir jemand ein Papierbord in die Hand. Ich bin auf der Höhe des Berliner Doms angekommen. Eine spanische Reisegruppe macht sich auf den Weg zur Orgelandacht am Mittag. "Treten Sie aus der Kirche aus", ermuntert mich ein junger Kerl mit rotem T-Shirt. "Gott ist tot", steht da in den Lettern, die normalerweise Coca-Cola für seine Werbung nutzt, auf seiner Brust. "Die Kirche ist eine Zwangsanstalt. Befreien Sie sich", ruft der Knabe den Passanten zu, als sei die Kirchenmitgliedschaft mit Zwängen und der Austritt mit Sanktionen belegt. Dann lädt er noch zur nächsten Party ein und erzählt stolz von den Karfreitagsstöraktionen des letzten Tages. "Heidenspaß statt Höllenqualen" heißt die Aktion, die im ganzen Bundesgebiet die Karfreitagsruhe torpedieren will. Auf meinen Einwand, man könne doch an 350 Tagen im Jahr ungehemmte Heidenfreuden genießen, lacht er schief und sagt: "Aber dann macht es ja keinen Spaß, weil sich keiner ärgert."

Wie eine echte Ethnologin will ich die Motive dieser antiklerikalen Kampfgenossenschaft genauer verstehen. Und reibe mir die Augen, als mir Worte wie Toleranz und Religionsfreiheit entgegengehalten werden. "Kampf dem Obskurantismus. Es lebe die Aufklärung!". Ethnologie im eigenen Volk macht müde. Also setze ich mich auf eine Bank und überlege. Welche Aufschlüsse gibt der Spaziergang? Während ich versonnen den Menschenmassen in der Hauptstadt hinterhersehe, drückt mir eine ältere Dame mit Perlenkette eine Broschüre in die Hand. "Weg mit den Moscheen. Wie die Muslime versuchen, den Kölner Dom zu kaufen." Auf ein Gespräch lässt sie sich nicht ein. Sie dreht mir schnell den Rücken zu und verschwindet. Ehe ich mich versehe, setzt sich ein Mann in den besten Jahren neben mich. Er telefoniert und fuchtelt dabei aufgeregt mit seiner linken Hand. Aus den Fetzen seiner Unterhaltung puzzelt sich in meinem Ohr eine jüdische Weltverschwörung zusammen, die uns erst den Euro und jetzt die Krise gebracht habe, als späte Rache an den Deutschen. Darf man fremde Menschen beim Telefonieren unterbrechen?

Dieses ethnologische Experiment ist natürlich deutlich überzeichnet. Den Spaziergang hat es so nie gegeben. Aber die Gruppen hinter den Tapeziertischen und vor meiner morschen Holzbank gibt es. Sie vertreten nur eine Minderheit. Bei den meisten Deutschen sind die Weltbilder vermutlich etwa so im Fluss wie die Sequenzen bei einem Film. Immer in Bewegung, je nach Mode oder Geschmack oder Wahl. Offene Gesellschaften zeichnen sich ja vor allem dadurch aus, dass jeder und jede ständig am eigenen Weltbild bastelt, weil die Traditionen, die familiären Zusammenhänge oder die regionalen Bindungen locker und brüchig geworden sind. Hinter den Flyern, die ich an diesem denkwürdigen Osterspaziergang gesammelt habe, stecken Splittergruppen innerhalb des weiten Spektrums der Weltanschauungen und Religionen, Kauze, Sonderlinge oder gefährliche Randläufer, Querulanten. Oder nicht?

Im beschaulichen Karlsruhe mögen die Weltsichten unserer pluralen Gesellschaft nicht so unverhohlen auf dem Marktplatz aufeinandertreffen. Trotzdem landen die Ausläufer dieser Bewegungen oft hier, vor den großen Gerichten. Sie beschäftigen die Talkshows und die Wissenschaften, und zwar längst nicht nur die professionellen Religionskundler, sondern auch die politischen Kommentatoren und die, denen es um die Zukunft der politischen und der gesellschaftlichen Organisationen geht. Und sie beschäftigen auch die Kirchen. Denn das, was wir in Deutschland lange nur aus dem Fernsehen oder von USA-Besuchen kannten, wird auch in unserer Gesellschaft Realität. Mitten in der offenen Gesellschaft wachsen geschlossene Milieus mit starken Weltbildern, die durch die üblichen Diskurse in Medien, Universitäten und Akademien kaum noch zum Einstürzen gebracht werden.

Der Streit über die Rolle der Religion in der Gesellschaft verschärft sich deutlich. Das liegt zum einen daran, dass die bundesrepublikanische Konsensgesellschaft mit ihrem ausgeprägten Neokorporatismus, mit den großen Institutionen wie Kirchen, Parteien, Medien und Gewerkschaften, Risse hat. Diese Risse deuten auch nicht zwangsläufig auf eine drohende Apokalypse. Nun ist den Theologen die kulturpessimistische Welteindunkelei bisweilen nicht fremd, doch Anliegen heute ist es aber, den Veränderungsprozess, in dem wir uns als Gesellschaft befinden, zu beschreiben und theologisch zu kommentieren, weil es hier auch um das Gefüge der demokratisch verfassten Gesellschaft geht, in dem die Kirchen möglicherweise in Zukunft eine andere Rolle spielen, ob sie wollen oder nicht.

Durch die Wiedervereinigung ist auch der in zwei Diktaturen herangereifte und von oben verordnete Antiklerikalismus mehrheitsfähiger geworden. Zwei Generationen ererbter Gottlosigkeit hinterlassen ihre Spuren nun auch in der Mitte unserer Gesellschaft. Antireligiöse Strömungen entwickeln sich im Schatten einer christlich geprägten Religionskultur, die seit fünfzig Jahren auf die kritische Solidarität mit dem demokratisch verfassten Rechtsstaat setzte und umgekehrt bei den staatlichen Institutionen und Verfassungsorganen mit einer gewissen Selbstverständlichkeit auf wohlwollendes Gehör rechnen konnte.

Doch die Zahl der religionsrechtlichen Konflikte, vom Streit um Kreuze im öffentlichen Raum über den Sonntagsschutz bis zum Schulgebet und die kontroversen Debatten dieser Konflikte in der Öffentlichkeit zeigt, dass diese Selbstverständlichkeit, die auch mit biographischen Prägungen der Akteure zu tun hatte, zunehmend fraglich wird.

Die Distanz zur Kirche wird auch bei Menschen größer, die gar nichts gegen das Christentum einzuwenden haben. Das sagt noch nichts über religiöse Bedürfnisse, Orientierungssehnsüchte und Sinnfragen. Nicht jeder, der seine Konfession nicht mehr an eine Mitgliedschaft binden will, ist ein oberflächlicher, ganz dem materiellen Glanz der Konsumgesellschaft verfallener Mensch, wie es manche Prediger von den Kanzeln rufen. Viele Menschen beschreiben sich als Suchende, Zweifelnde, als Christen bei Gelegenheit, die an den Übergängen des Lebens durchaus die Nähe zu einem Gotteshaus suchen. Sie schicken ihre Kinder in den Kindergottesdienst, weil hier das Bildungsprogramm um Werte und die Leitbilder des Abendlandes bereichert werden, sie besuchen die Aufführungen der Matthäuspassion oder singen sie sogar mit, weil sie hier religiöse Erfahrungen machen. Sie wünschen sich den Geistlichen am Sterbebett ihrer Eltern und suchen in Krisensituationen leere Kirchen auf.

Doch tiefe Skepsis gegenüber lebenslangen Bindungen, die innere Distanz zu großen Institutionen, auch das Misstrauen, das die großen Skandale der letzten Jahre befördert haben, sorgen für eine äußere Distanz zur verfassten Kirche. Das prägt auch die Meinungen in den großen Religionskonflikten. So ist längst nicht mehr sicher, dass ein junger Richter, der begeistert in der Kantorei seiner Stadtkirche singt, auch Gefallen am Kreuz im Gerichtssaal findet.

Und Ministeriale, die aus Pfarrhäusern oder der katholischen Jugendarbeit kommen, sind noch nicht zwangsläufig glühende Verfechter des konfessionellen Religionsunterrichts. Da nehmen sie als Referenz eher das prägende Studienjahr an einer amerikanischen Law-School und die Erfahrungen. Auf der einen Seite gibt es also eine deutliche Verflüssigung der Vorstellungen des guten Lebens. Gleichzeitig vervielfältigen sich die geschlossenen Weltbilder und die Sehnsucht nach einer Gegenwelt zur Moderne mit ihren Zumutungen.

Im Islam ist das mit Händen zu greifen. Hier lassen sich diese Strömungen ja als globalisiertes Phänomen beobachten. Die Ursachenbündel sind kompliziert und haben Gründe sowohl in den Migrationsströmen, die ein tiefes kollektives Gefühl von Heimatlosigkeit hinterlassen, der mangelnden sozialen Teilhabe in den Mehrheitsgesellschaften und der politischen Demütigung. Angst und das Gefühl der Unterlegenheit wandeln sich in Ablehnung und Aggression.

Während viele Muslime längst in der modernen Unentschiedenheit zwischen religiöser Bindung und freier individueller Interpretation ihrer Gebote angekommen sind, die den Ramadan halten und trotzdem mit Freunden mal einen Hamburger essen, die Frauen der Großmutter zur Liebe das Kopftuch tragen und die Verheiratungsträume des Vaters charmant unterlaufen, werden unter Umständen im gleichen Stadtteil innerislamische Aufklärungsschübe rückgängig gemacht. Da reiben sich die säkular aufgewachsenen Eltern die Augen, wenn ihre eigenen Kinder religiös werden. Hier gehen Moderne, Technikbegeisterung und mittelalterliche Weltsichten unter Umständen ein gefährliches Bündnis ein.

Die Flucht in ein geschlossenes religiöses Weltbild, wo klar ist, wo man hingehört, wird zum Rettungsanker. Wer die Konversionsgeschichten von jungen Deutschen aus mittelgroßen Kleinstädten betrachtet, ahnt etwas von Verlorenheit, die Menschen muslimischer und nichtmuslimischer Herkunft in den Dschihadismus treibt. Natürlich spielt auch das Exotische, das Verbotene eine Rolle. Genauso gut hätten die jungen Leute vielleicht zur Gothic-Bewegung gehören können, wenn ihnen ein glaubwürdiger Vertreter über den Weg gelaufen wäre. Dann würden diese jungen Leute jetzt heimlich auf dem Friedhof rauchen. Auch nicht schön, aber kein Fall für die Sicherheitsbehörden. Das kann der Dorfpolizist regeln.

Aber der Erfolg der Rekrutierung für diese Kampfesreligion liegt tiefer. Sie deutet auf das Versagen von Familien und auch auf das Versagen der Kirchen und Moscheegemeinden, die diese jungen Menschen schon lange nicht mehr erreichen. Beunruhigend ist vor allem die Illusionslosigkeit, was den eigenen Platz in der Welt angeht, die tiefe Verachtung gegenüber einem politischen System, von dem Menschen den Eindruck haben, sie seien ohne jeden Einfluss auf das, was passiere und die enorme Gewaltbereitschaft, wenn es darum geht, das eigene Weltbild zu verteidigen. Die Religion wird hier zum Brandbeschleuniger der eigenen Wut, deren Quelle die Ohnmacht ist. Meistens bleibt die Gewaltbereitschaft nur eine verbale Kraftmeierei, aber spätestens seit den jüngsten Ausschreitungen in Bonn ist die hässliche Fratze dieser militanten Interpretation des Islam augenfällig geworden. Bei diesem Gewaltexzess ging es nicht um einen Terrorakt, hier ging es darum, dass eine Gruppe von Salafisten das Recht in die eigene Hand genommen hat, weil sie sich durch Mohammed-Karikaturen beleidigt fühlte, die die islamfeindliche Gruppe "Pro-NRW" vor ihrem Bethaus aufgestellt hatte. Das ist besonders gefährlich, weil diese radikalen Splittergruppen die Ressentiments gegenüber dem Islam insgesamt wieder wachsen lassen. Das ist Wasser auf die Mühlen rechtsradikaler Bewegungen und atheistischer Kampagnen.

Doch auch an den Rändern des Christentums entwickeln sich geschlossene Milieus. Die sind auf der Oberfläche ungefährlich und nicht gewaltbereit, sondern manchmal einfach nur elitär. Für manche soll die Kirche vor allem eine ästhetische Gegenwelt sein. Das sind die sogenannten Feuilletonkatholiken, die mal elegant, mal wuchtig und derbe, mit den gegenwärtigen Zuständen der Kirche abrechnen. Die Sehnsucht nach dem Ästhetisch-Erhabenen, das wie ein Monolith aus der Welt der religiösen und politischen Kompromisse herausragt, fasziniert Matthias Matussek und Martin Mosebach. Ihre Kritik an der Formlosigkeit mancher Liturgie und am Funktionärsjargon von Geistlichen ist ja auch berechtigt.

Aber ihre Kritik reicht tiefer. Sie wollen im Grunde eine Kirche ohne Volk, jedenfalls ohne dieses widerspenstige, anspruchsvolle, nörgelnde, zweifelnde Alltagschristenvolk, das sich in den Gemeinden versammelt. Ihre societas perfecta kommt am besten ohne Gläubige aus. Vor allem soll sich diese Kirche aus der Gesellschaft und ihren Problemen heraushalten. Sie soll sich, wie es im Unternehmensberatersound heißt, auf ihre Kernkompetenz zurückziehen. Und das ist ausschließlich der Kultus. Diakonische und kulturelle Aufgaben verwässern dagegen in dieser Perspektive das Alleinstellungsmerkmal des Christlichen. Die Kirche soll als Kryptagemeinde existieren und auch jeden Eindruck von zivilreligiöser Öffnung meiden.

Das Bodenpersonal für dieses weltlose Christentum - das gibt es in Varianten übrigens in beiden Kirchen - sammelt sich zum Beispiel in der Bewegung gegen die öffentlichen Schulen, in radikalen Lebensschützergruppen und in Milieus, die mit der Forderung nach einem Recht auf "Homeschooling" auftreten. Die öffentliche Schule, Spiegel und Lernort für die pluralistische Gesellschaft, ist kein Ort mehr für das gesellschaftlich Gemeinsame der Verschiedenen, sondern nur noch ein dämonischer Ort der Verführung durch das Fremde, das Andere, sei es eine andere Religion, eine andere Lebensphilosophie, ein anderer Lebensstil. Diese Bewegung kratzt zumindest am Konsens der Schulpflicht und damit an einer Grundkonstante der vergangenen fünf Jahrzehnte.

Während die konfessionellen Schulen zumindest dem Anspruch nach pädagogische Leuchttürme mit integrierendem Ansatz sein sollen, steht die Homeschooling-Bewegung für ein Gesellschaftsmodell, wo der eigene Anspruch an das gute Leben zur Not gegen die Mehrheit und ohne jede Rücksicht auf die gesellschaftlichen Folgen durchgesetzt wird, wenn es darum geht, sich in seiner eigenen Nische des guten Lebens einzurichten. Die eigene Wahrheit stellt sich nicht mehr dem Widerspruch, sie entzieht sich einfach.

Vor diesem Hintergrund können die teils heftigen Attacken der atheistischen, humanistischen und laizistischen Bewegungen in Deutschland auf den ersten Blick sogar einleuchten, warnen sie doch vehement vor den Gewaltpotentialen der Religionen und ihren antiaufklärerischen Ansichten. Aber auch hier gibt es verbale Eskalationsstufen, die mit dem Bedürfnis nach Aufklärung im anspruchsvollen Sinne nur wenig zu tun haben.

Das Bild des Christentums wird mit finsteren Farben grundiert. Darüber werden in grellen Tönen die vermeintlich freiheitsfeindlichen Exzesse der Gläubigen gemalt, die sich in der selbstverschuldeten Unmündigkeit nicht nur privat eingerichtet, sondern auch noch den Staat und seine Institutionen mitgefesselt haben. Nun gibt es eine große Tradition abendländischer Religionskritik aus dem Geiste der Philosophie. Die geistige Energie der Gottesverächter beginnt nicht erst im 18. Jahrhundert und verbindet sich ab dem 19. Jahrhundert mit den großen Namen Marx, Freud und Nietzsche. Auch als innertheologische Religionskritik beginnt sie im Grunde schon in der Antike, auch in der prophetischen Tradition der Bibel, die die geistliche Führungselite nie gut aussehen lässt. Zur christlichen Theologie gehören die radikale Frage und der unerbittliche Zweifel, das Ringen mit den Hierarchien und Traditionen, die kalkulierte Häresie und der fromme Spott.

Das hat zu vielen innerkirchlichen Verwerfungen geführt, ja sogar zu Kirchentrennungen, gehört aber im Grunde zur Kulturgeschichte des Christentums bis in die Gegenwart, auch wenn zarte religiöse Gemüter oder machtbewusste Kirchenführer diese Kritik schwer erträglich finden. Doch die atheistischen und antiklerikalen Bewegungen der Gegenwart haben die Flughöhen der philosophischen Kirchen- und Religionskritik längst verlassen. Ihre theoretische Munition finden sie in einer zur Weltanschauung aufgerüsteten Wissenschaftsgläubigkeit und der Idee eines "evolutionären Humanismus", der erst dann vollkommen ist, wenn die Reste der Religion überwunden sind. Was die Wissenschaft nicht festgestellt hat, entlarvt sich ihnen als Märchen.

Im Grunde geht es den antiklerikalen Aktivisten vor allem darum, Religion und ihre Lebensäußerungen ganz aus der Öffentlichkeit zu verbannen. Religionsfreiheit ist für sie die Freiheit, die erst da entsteht, wo einen keine Religion mehr behelligt, weder in der Schule, noch an anderen öffentlichen Orten, auch nicht durch kirchliche Feiertage oder den Rhythmus des Sonntags.

Diese antiklerikale Bewegung gibt sich libertär, ist aber nicht liberal, wenn es um die Freiheit anderer geht. Die Intoleranz im Gewand einer kämpferisch-aufklärerischen Weltanschauung ist überraschend etatistisch, erhofft sie sich doch vom Staat und seinen Gerichten die Befreiung von den Zumutungen der Religion. Offene Foren für kontroverse Diskussionen, für Argument und Gegenargument können beglückende Erfahrungen der intellektuellen Auseinandersetzungen sein, sind aber selten. Auch hier entwickelt sich ein geschlossenes Milieu, das für Religionsfreiheit streitet, aber dem Anspruch nach gerade die Neutralität des Staates gegenüber den religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen seiner Bürger unterläuft. Der Staat soll sich nämlich die laizistische Weltanschauung zu Eigen machen. Dieser laizistischen Versuchung erliegen zunehmend auch die politischen Parteien. Ihre Vertreter rücken bis in die erste Reihe einer großen Volkspartei vor, es findet sich bei den Grünen und bei dem Shootingstar unter den Parteien, den Piraten. Bei ihnen ist bislang wenig so klar wie die Tatsache, dass sie das humanistisch-laizistische Programm gekapert haben, mit durchaus stalinistischen Zügen.

In dem Maße, wie die Weltanschauungskonflikte in der deutschen Gesellschaft sich verschärfen, werden auch die Gerichte weiter letzte Instanz zur Befriedung dieser Konflikte. Ich glaube, dass es manchmal ehrlicher und konsequenter wäre, wenn diese Konflikte politisch ausgetragen würden, aber es gibt eine lange Tradition, in das Recht einspringen muss, weil handfeste Religionskonflikte politisch selten befriedigend ausgetragen werden. Das ist ehrenvoll für die Rolle der Gerichte, besonders des Bundesverfassungsgerichtes, zeigt aber auch auf das gesellschaftliche Unvermögen, mit diesem religionspolitischen Zündstoff produktiv umzugehen.

Das zeigt auch die Schärfe der Pro- und Kontrapositionen nach Urteil eines Kölner Gerichtes zur Beschneidung. Gegenüber der laizistischen Versuchung steht die kulturalistische Versuchung im Raum. Sie wird gerne auch von Kirchenvertretern und Kirchenvertreterinnen in Anspruch genommen und klingt auf den ersten Blick sehr überzeugend. Das Christentum habe unsere Kultur geprägt, deshalb müsse Staat und Recht auch gegenüber allen anderen Weltanschauungen und Religionen bevorzugt werden, und zwar in der Form der beiden verfassten großen christlichen Kirchen. Wer will bestreiten, dass die Grammatik des Christentums Kultur, Recht, Wirtschaft und Gesellschaft zutiefst geprägt hat.

Die innere Affinität zu Menschenwürde und emphatischer Individualität, zu Meinungs- und Gewissensfreiheit sei schon in den biblischen Traditionen zu belegen und habe sich in den Anfängen des Christentums als verfolgter Minderheitsreligion im römischen Weltreich ausgebildet. Deshalb garantiere das Christentum dafür, dass der Horizont unserer Verfassung auch geistig bedeutsam bliebe. Doch das kulturalistische Argument kann dann zur Falle werden, wenn mit "Kultur" nur noch das Nachleben eines ehemals vitalen, gelebten Christentums gemeint ist, also ein strenger Geschichtsverweis ohne Gegenwartsrelevanz. Hier werden dann schnell Genese und Geltung verwechselt. Das kulturalistische Argument, dass auf Grund der historischen Prägekräfte eine Art christlichen Kulturvorbehalt begründet, der auch für das Recht gelten muss, kann schon da tückisch werden, wo sich die Größenverhältnisse durch Demographie und weiteren Vertrauensschwund weiter verschieben zugunsten einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen Christen sind.

Es muss auch die spöttische Frage von außen erlaubt sein, warum aus der inneren Affinität für die Demokratie erst so spät, genau genommen in den Lehrdokumenten und Denkschriften beider Kirchen erst vor fünfzig Jahren auch ein versöhntes Verhältnis zur demokratischen Verfassung erfolgte. Für den Protestantismus heißt das ja, dass mit der neu entdeckten Unterscheidung von weltlicher und geistlicher Herrschaft in der Reformation die Modernitätspotentiale ignoriert wurden zugunsten eines landesherrlichen Kirchenregimentes, preußischer Kaisertreue und Republikfeindlichkeit, und der Janusköpfigkeit der Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche.

Selbst die, die im Widerstand zum Nationalsozialismus ein klares Bekenntnis wagten, waren nicht alle lupenreine Demokraten. Der Traum vom christlichen Ständestaat war erst ausgeträumt, als es das Grundgesetz schon gab. Einen großen Anteil an der innerlichen Bereitschaft, sich auch aus theologischen Überzeugungen auf die Demokratie mit ihren Zumutungen einzulassen, hatten übrigens die Kirchen in Europa und Amerika. Rudolf Smend beschreibt eindrücklich, dass das Motto "Demokratie wagen" auf der ökumenischen Vollversammlung in Amsterdam 1948 eine große Rolle gespielt habe.

Es ist Karl Barth gewesen, der große Theologe der Barmer Theologischen Erklärung und nicht von ungefähr Schweizer, der mit seiner Abwandlung des Themas Staat und Kirche zu der Unterscheidung von Christengemeinde und Bürgergemeinde jeglicher christlicher Staatsmetaphysik, dem lutherischen Naturrechtsdenken und seiner weichgespülten, kulturalistischen Variante eine Absage erteilt und so den theologischen Zugang zur Demokratie ermöglicht. Man muss seiner Theologie nicht folgen, um diese Unterschiedung hilfreich zu finden. Mit ihm lässt sich mein Einwand gegen die Idee der Kulturschuld, die die Verfassung gegenüber dem Christentum abtrage, so formulieren: Das Grundgesetz mit seinem offenen und kooperativen Religionsverfassungsrecht erkennt die legitimen Eigeninteressen der Kirchen wegen seines eigenen anspruchsvollen Freiheitskonzeptes an. Deshalb gilt es auch für alle anderen Religionsgemeinschaften. Die Gestaltung von Staat und Kirche erfolgt nach der Verwirklichung des Ideals demokratischer Selbstregulierung. Beides ist nicht nur aus verfassungstheoretischer, sondern auch aus theologischer Sicht nicht die Voraussetzung für die Anerkennung der demokratisch verfassten Gesellschaft durch die Kirchen, sondern die Konsequenz und Folge dieser Anerkennung.

Mit Karl Barth kann man zu diesem Wechsel der Perspektiven kommen, weil er die Entitäten "Staat und Kirche" ersetzt durch die Leitbegriffe "Christengemeinde" und Bürgergemeinde". Damit wählt er auf dem Feld politischer Theologie schon den Einstieg eines Demokraten. Er geht vom Einzelnen aus, der als Bürger und als Christ das Gemeinwesen mit gestaltet. Christengemeinde und Bürgergemeinde werden sich bei Barth wechselseitig zur Provokation und zur Bereicherung. Der unbedingte Geltungsanspruch Christi auf das Leben des Christenmenschen, seine unverhandelbare Wahrheit treffen auf die Bürgergemeinde mit ihren permanenten Verhandlungen, Konflikten und Kompromissen. Barth unterstreicht das demokratietheoretische Argument seines Zeitgenossen, Hans Kelsen, dass die Demokratie unrettbar relativistisch wäre. Das heißt aber nicht, dass die Menschen, die in der Demokratie leben, Relativisten wären. Im Gegenteil: Demokratie ist die Gesellschaftsform, wo Wahrheitsansprüche, die unverhandelbar sind, ungebremst aufeinandertreffen, ohne dass es zum Bürgerkrieg oder zu totalitären Verdrehung der Machtverhältnisse käme.

In der Demokratie, so sagt es Karl Barth, sind alle Entscheidungen vorläufig, relativ, und provisorisch. Der Theologe läuft nicht in die Falle, im demokratischen Verfassungsstaat nun die Einlösung des Reiches Gottes zu sehen. Demokratie ist anstrengend und wird absehbar sogar anstrengender, auch für die Kirchen. Sie lässt aus inneren Gründen immer Wünsche offen, weil immer einer da ist, der die Dinge anders sieht und eine Mehrheit dafür bekommt. Demokratie zwingt aber dazu, die eigene Wahrheit nicht mit dem Rechthabenwollen zu verwechseln. Barth ist da eindeutig: die christlich geglaubte Wahrheit, dass die Erlösung von den überzogenen Selbstbildern und den Selbsterrettungsträumen im Glauben an Gott durch Jesus Christus geschenkt wird, steht nicht zur Disposition. Diese Wahrheit ist als eine geschenkte Wahrheit aber immer auch eine entzogene. Wir können für sie eintreten und sie bezeugen, aber niemals über sie verfügen, auch nicht in religionspolitischen Kontroversen. Sie ist auch keine klammheimliche Verfassungsmetaphysik, aus der wir höhere Rechte ableiten könnten als andere. Und wir müssen ertragen, dass andere anders glauben und andere Wahrheiten beanspruchen. So ist das in der unerlösten Welt. Weil die säkulare Verfassung aus sich heraus ist, was sie ist, ein Ort gesicherter Freiheit, kann die Christengemeinde in der Bürgergemeinde wirken, ohne ihre Wahrheitsansprüche zu verstecken. Aber sie tut es eben nicht mit Gewalt, sondern mit Worten und Taten, als Teil der Bürgergesellschaft, also nicht nur in geweihten Räumen oder verschlossenen Kathedralen, sondern auch im öffentlichen Raum, als Korrektiv oder Lebenszusammenhang, als christliche Bürgerbewegung oder als Gemeinschaft derer, die auf den Maßstab verweist, der größer ist als alle Vernunft.

Die Christengemeinde interessiert sich als Teil der Bürgergemeinde für die res publica und bringt das zum Ausdruck. In Gottesdiensten und durch ihr Einstehen für Schwache, mit ethischen Argumenten und theologischen Kommentaren. Für Barth liegt in der Abkehr jeglicher Staats- oder Rechtsmetaphysik die Möglichkeit, das Versprechen gleicher Freiheit als Gleichnis der christlichen Botschaft zu deuten. Damit dreht er das kulturalistische Argument um und verlangt von den Kirchen, den Blick aus der Vergangenheit auf die Gegenwart zu richten, also keine Kulturschuld einzuklagen, sondern den Beitrag des Christentums zu den anstehenden Gegenwartsproblemen zu leisten.

Wie aber sieht dieser Beitrag aus? Ich glaube, die größte Herausforderung für die Kirchen sind nicht die Lautsprecher unter den Laizisten und auch nicht die radikalen religiösen Strömungen, obwohl das Werben für die christlichen Ressourcen unserer Gesellschaft zu den Gesten eine glaubwürdigen christlichen Bewegung ebenso dazugehört wie die kluge Abwehr falscher Argumente. Die eigentliche Herausforderung ist eine geistliche und kann deshalb von keinem Gericht der Welt gelöst werden: dem grassierenden Fatalismus der Menschen, die mitten in den drohenden Katastrophen leben, zu begegnen. Denn Angst, Unsicherheit und Überforderung schüren das Feuer einfacher Weltbilder und schlichter Lösungen.

Der christliche Glaube ist zutiefst antifatalistisch. Dieser Antifatalismus gilt für das persönliche Leben ebenso wie für die gesellschaftlichen Horizonte, die in Europa ja genug Stoff für Albdruck geben. Der christliche Glaube hilft den mental und auch politisch Erschöpften auf, zeigt mit dem Finger auf die, die am Wegesrand liegen, weil sie bei der Geschwindigkeit der Veränderungen nicht mithalten und materiell oder geistig verarmen. Er kann Phasen der Ratlosigkeit, auch der politischen Ratlosigkeit, ertragen, ist skeptisch bei technokratischen Heilsversprechen und tatkräftig, wenn es darum geht, die Spielräume der Freiheit gegen ihre Verächter zu verteidigen. Und er hilft zu einer Existenz in der Art innerer Freiheit, die Andersdenkende nicht fürchten muss.

Das beste Argument gegen den kämpferischen Laizismus ist ein lebendiges Christentum, das sich nicht abschließt in kirchliche Kreise oder beleidigt auf seine Bestände pocht, sondern geistliche Phantasie entwickelt für den Umgang mit den entfremdeten Milieus der Eliten wie der Ränder der Gesellschaft und die die inneren Distanzen und Nähen der Menschen zur Kirche ernstnimmt und achtet. Da mag bisweilen auch ein wenig Traurigkeit herrschen angesichts der veränderten Rolle, die die Kirchen möglicherweise erst noch finden müssen. Doch in den härter werdenden Auseinandersetzungen sind die geistlichen Tugenden, von denen der Barockdichter Paul Gerhardt singt, geistliche Haltungen in haltlosen Zeiten. Wie sagt er es? "Gelassen und unverzagt."