Vortrag zur Woche der Brüderlichkeit

Manfred Kock

Berlin, Es gilt das gesprochene Wort.

„auf dass du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott gibt“
Über den zeitlichen und ewigen Aspekt der Verantwortung

Verantwortung - Das Stichwort unseres Themas ist geschaffen für nachdenkliche Stunden bei der jährlich wiederkehrenden „Woche der Brüderlichkeit“. Mindestens in dieser Feierstunde wird jener Geschichte gedacht, die zum millionenfachen Mord geführt hat. Verantwortung tragen dafür Millionen Menschen – als rohe Täter, als bürokratische Organisatoren, als willige Helfer, als billigendes, akklamierendes, als schweigendes, wegsehendes, verdrängendes Volk. Diese Verantwortung zu benennen und der Opfer unserer dunklen Geschichte zu gedenken, ist der Sinn dieser Stunde. Nur das Gedenken bewahrt vor dem Rückfall.

Verantwortung aber bedeutet nicht nur das Einstehen für Schuld und Versagen, für Verfehltes und Versäumtes. Zu schnell könnten wir Nachgeborenen uns da aus dem Staube machen. Verantwortung muss auch  eine lebendige, auf Gegenwart  und Zukunft bezogene Pflicht bleiben oder werden, damit das Zusammenleben der Menschen in unserem Land und der ganzen Menschheit besser gelingt. Sich dieser Verantwortung zu verpflichten und sie den Menschen im Lande einzuschärfen, darum muss es uns gehen, wenn wir heute hier beisammen sind.

Eine der wichtigsten Ressourcen für dieses Ziel hat Israel der Menschheitskultur mit der Thora geschenkt, die in dem Doppelgebot der Liebe zusammengefasst ist: Du sollst Gott deinen Herrn lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deinem Vermögen – und deinen Nächsten wie dich selbst (denn er ist wie du). (1)
Dieser Weisheit in ihrer jüdisch-christlichen Überlieferung verdanken wir das Wissen der Haltungen und Handlungen, welche uns Menschen fähig machen für jene Verantwortung, die ich und du zu einem wir zusammenschließen, wie es das Motto der diesjährigen Woche ist. 

I. Elterngebot zielt auf Verantwortungsgemeinschaft
 
„… auf dass du lange lebest im Lande, das dir der HERR, dein Gott gibt“, dieses Zitat ist meinem Vortrag vorangestellt. Es entstammt dem  nach der hebräischen Zählung fünften Gebot des Dekaloges, und das lautet so: „Du sollst deinen Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest im Lande, das dir der Herr, dein Gott gibt. (2)   Im Deuteronomium wird noch hinzugefügt: auf dass du lange lebest und es dir’s wohl gehe…(3) .
Alle Gebote, die Israel empfängt, zielen auf ein sicheres Leben im versprochenen Land. (4)  Hier, im Elterngebot ist es als eine ausdrückliche Verheißung hervorgehoben: Leben wird gut, wenn die Beziehung zwischen Eltern und Kindern gelingt, wenn Kinder ihre Eltern ehren.

Im jüdischen Pflichtenkatalog, den Mizwot (5) , und in den christlichen Katechismen werden in der Entfaltung des Wortes ehren zunächst die Pflichten der heranwachsenden Kinder gegenüber ihren Eltern eingeschärft. Wegen dieser Deutung gilt das Gebot heute bei vielen vorschnell  als Ausdruck einer patriarchalischen, autoritären Ordnung, vor allem auch deshalb, weil die Katechismen die Pflichten aus dem Gebot übertragen auf den Gehorsam gegenüber anderen Autoritäten wie Lehrer und die Obrigkeit. Aber das Elterngebot ist zunächst nicht als eine Erziehungshilfe zum Kindergehorsam gedacht. Es zielt vielmehr auf die lebenslange Verantwortungsgemeinschaft zwischen den Generationen. Dazu gehören vor allem die Versorgung und die Pflege von kranken und alten Familienangehörigen. Familie ist also nicht nur überall dort, wo Eltern für ihre Kinder sorgen, sondern sie ist auch der Ort, an dem Kinder für ihre alten Eltern Verantwortlich sind. (6)

Es gibt Gott sei Dank noch viele Familien, in denen das geschieht. So erbringen Familien immer noch mehr als 80 % der Leistungen für ihre pflegebedürftigen Angehörigen.  Sehr häufig sind zwar die Lebens- und Wohnbedingungen nicht gegeben, um diese Fürsorge unter einem Dach zu leisten. Auch wohnen alte Menschen gerne selbständig, solange es irgend geht. Aber auch in solchen Lebenssituationen sind Kinder verantwortlich, und in den meisten Fällen verhalten sie sich entsprechend. 

Das Füreinander-Einstehen der in Ehe oder Lebenspartnerschaft miteinander verbundenen Menschen und die Bereitschaft von Eltern und Kindern, lebenslang Verantwortung füreinander zu tragen, gehören zu den Existenzgrundlagen einer jeden Gesellschaft.

II. Verantwortung der Generationen füreinander - „Generationenvertrag“

Das Elterngebot der Thora setzt eine Gesellschaft voraus, in der der Einzelne und die Familie eingebettet sind in eine kulturelle, politische Gemeinschaft. Das waren in biblischer Zeit vor allem Großfamilien. Unter diesen Bedingungen war die Fürsorge der Generationen füreinander, die das Gebot einschärft, Grundlage einer sozialen Sicherung. Menschen bekamen auch für ihr Alter Freiraum gewährt, wurden in Zeiten der Krankheit gepflegt und wurden versorgt, wenn sie mit eigener Arbeit den Lebensunterhalt nicht mehr erwirtschaften konnten. Die Eltern ehren, das bedeutete im hebräischen Wortsinn: Sie dürfen ihr Gewicht und ihr Gesicht haben und behalten. Unter damaligen Verhältnissen war dieses Sozialsystem sehr erfolgreich, vorausgesetzt die ganze Gesellschaft hatte nicht unter Missernte, Krieg und Ausbeutung zu leiden.

Gesellschaftsstrukturen sind heute komplexer. Kleinfamilienstrukturen und eine wachsende Single-Kultur machen gesellschaftliche und politische Arbeit erforderlich, um die Alten zu ehren. Zudem ist es viel schwieriger zu vermitteln, wie unter heutigen, ganz anderen Bedingungen  die Generationsverantwortung als eine Solidarität auch mit denen  gewahrt werden kann, zu denen keine verwandtschaftliche familiäre Beziehung besteht.  Und vollends schwierig ist es, Solidarität zu üben mit Generationen, die noch gar nicht auf der Welt sind.

In der politischen Diskussion wird in diesem Zusammenhang von ‚intergenerationeller Verantwortung’ gesprochen und vom ‚Generationenvertrag’. Kardinal Lehmann erinnert in einem Vortrag vor der Herbst-Vollversammlung 2003 der Deutschen Bischofskonferenz daran, dass Oswald von Nell-Breuning den Begriff  ‚Generationenvertrag’ benutzte, ihn aber für unglücklich gewählt hielt, da es sich ja nicht um einen Vertrag im juristischen Sinne handelt, sondern um ein solidarisches Verhalten zwischen den Generationen. “Dieses Verhältnis der Generationen ist dadurch geprägt, dass die erwerbstätige Generation einen Teil ihrer Produktion an die Generation, die ihr vorausgegangen ist, abgibt, sowie einen Teil an die nachwachsende Generation. Die produktive Generation vertraut dabei darauf, dass die nachwachsende Generation, wenn sie produktiv geworden ist, bereit ist, den Lebensunterhalt der ehemals produktiven Generation zu sichern.“ (7) Es geht also um die ethische Verantwortung von Generationen füreinander, gerade unter Einbezug derer, die erst in der Zukunft leben werden. Hans Jonas entwickelte „Das Prinzip Verantwortung“ gerade im Blick auf die Handlungspflichten,  „welche Furcht und Ehrfurcht gebieten: dem Menschen … die Unversehrtheit seiner Welt und seines Wesens gegen die Übergriffe seiner Macht“ - und ich ergänze: gegen die Übermacht seiner Gleichgültigkeit – „zu bewahren“(8). Jonas entfaltet die neuen, bisher nicht gekannten Dimensionen der Verantwortung vor allem an den rasanten technischen Entwicklungen, welche früher nicht geahnte Risiken für die Biosphäre unseres Planeten und für den genetischen Bestand des Menschen selbst zur Folge haben. Wo es aber um die Existenz der Gattung in der Zukunft geht, ist die Verantwortung für die soziale Sicherung der kommenden Generationen eingeschlossen. Sie zu erkennen and anzuerkennen, erfordert eine hohe geistige Leistung.

Die teilweise panische Debatte, die in der Hektik der Diskussion um die Zukunft der Renten ausbrach, war jedenfalls geeignet, auf das Thema der Generationenentwicklung aufmerksam zu machen, das eigentlich von Fachleuten schon seit Jahrzehnten als eins unserer Zukunftsprobleme bezeichnet worden ist, aber von der Politik lange unbeachtet blieb. Mit Blick auf die Familien sollten wir auch mit Dankbarkeit feststellen, dass Kinderlosigkeit heute nicht mehr wie früher zu Armut im Alter führt. Dieses Risiko ausgeschaltet zu haben, ist zweifellos eine der großen Verdienste des Sozialstaates. Die vollständige Entkoppelung von Kinderzahl und Alterssicherung hat jedoch sicher mit dazu beigetragen, dass Menschen sich heute dazu entscheiden, keine oder weniger Kinder zu bekommen. Das mag man unter vielerlei Gesichtspunkten, nicht zuletzt ethischen, bedauern; verurteilen oder sozialpolitisch bestrafen sollte man dies aber meiner Meinung nach nicht, denn Kinderlosigkeit kann sehr unterschiedliche Gründe haben. Das ändert jedoch nichts an der paradoxen Tatsache, dass heute einerseits diejenigen Menschen, die keine Kinder groß zu ziehen haben, dadurch erhebliche finanzielle Mittel einsparen und, sofern sie gut verdienen, auch viel zu den Steuern und Abgaben beitragen, während andererseits Kinder für Familien in unteren Einkommensbereichen zum Armutsrisiko werden. Es mag richtig sein zu verlangen, dass kinderlose Paare das eingesparte Geld für die Sicherung im Alter zurücklegen. Ich lasse dabei bewusst offen, ob für ihre eigene oder für eine sozial und solidarisch organisierte Alterssicherung. Jedenfalls käme es so zu einem Ausgleich zwischen den kinderlos Gebliebenen und denen, die zu ihrer eigenen Altersvorsorge auch für ihre Kinder aufkommen.

Es wird jedenfalls erforderlich sein, besonnene Schritte einzuleiten, damit die kommende Generation ihre Alterssicherung aus solidarischer Versicherung und eigener Vorsorge erreichen kann. Eine schrille Zankerei zwischen Jung und Alt um künftige Ressourcen ist unerträglich. Ein Krieg der Generationen ist auf jeden Fall völlig unangebracht; noch immer gibt es ein gegenseitiges Geben und Nehmen zwischen den Generationen. Alter ist ja nicht automatisch mit Isolation, Heimexistenz und Abhängigkeit gleichzusetzen, und der Jugendwahn vieler Unternehmen in unserem Lande ist kein Heilmittel unserer schwächelnden  Wirtschaft.   Panik ist vor allem dann nicht angebracht, wenn die Finanzierung der Systeme rechtzeitig angepasst wird. Schon heute wird nicht einmal die Hälfte der Bevölkerung gebraucht, um das „Sozialprodukt“ zu erwirtschaften. Wenn auch die Zahl der Rentner steigt, wird die Zahl der Arbeitlosen sinken; das Reservoir an nicht berufstätigen, aber arbeitsfähigen Menschen ist in unserem Lande noch recht hoch (9). Deshalb ist es wichtig, besonnene Schritte einzuleiten, damit die kommende Generation ihre Alterssicherung aus solidarischer Versicherung und eigener Vorsorge erreichen kann. Das Hauptproblem des Generationenverhältnisses in der Zukunft wird kein materielles sein.

Aber die steigende Zahl alter Menschen, die unaufhaltsame Veränderung des Altersaufbaus unserer Gesellschaft wird künftig viel Aufmerksamkeit brauchen. Wie gelingt es, Lebensräume und Lebensformen für alte Menschen zu finden, die sie ihrer Würde entsprechen? Entlastung wird es nur geben, wenn Nachbarschaften und Gemeinden ihre solidarischen Kräfte weiter entfalten.(10)  Die steigende Zahl von körperlich relativ stabilen, aber geistig verwirrten Menschen stellt sehr hohe Pflegeanforderungen, für die kaum ausreichend Pflegekräfte in Sicht sind  Sie werden aber wegen der Veränderung der Familienstrukturen und der sich aufweichenden Formen des Zusammenlebens zunehmend gebraucht. Unter diesen Bedingungen vor allem muss die Generationenverantwortung deutlicher in den Blick kommen. 

III. …wenn deine Kinder dich fragen

Blicken wir noch einmal auf das Elterngebot, um uns vor Augen zu stellen, welch bedeutende ethische Ressource es darstellt.
Alle Welt spricht heute vom Ende der Familie und von der Ehe als Auslaufmodell. In der Tat sind die steigenden Scheidungszahlen erschreckend; die Bindungsbereitschaft hat stark abgenommen. Zugleich aber wächst gerade in dieser Zeit der Flüchtigkeit der Beziehungen eine neue Sehnsucht nach Stabilität. Das neuerliche Erstarken des Familienwunsches innerhalb der nachwachsenden Generation, den alle Jugendstudien registrieren, stellt eine erfreuliche Entwicklung dar. Junge Menschen bemühen sich, ihre Partnerschaft mündig zu gestalten, und die meisten lassen  diese durch Rechtsbindung schützen. Die hat ihren Wert nicht in sich selbst. Auch die Ehe ist um des Menschen willen da und nicht der Mensch um der Ehe willen. (11) Die lebensdienliche Aufgabe der Ehe liegt vor allem in der Bereitstellung verlässlicher Beziehungen. Kinder sind ihren Eltern anvertraut, damit diese sie im Aufwachsen begleiten und schützen. Dazu gehören die leibliche Fürsorge, die Förderung der geistigen und seelischen Entwicklung, die Erfahrung von Liebe und Verlässlichkeit.

Die  Sorge ist verbreitet, wie denn angesichts der Flüchtigkeit der Beziehungen Verlässlichkeit, Loyalität und Zielstrebigkeit wachsen können. Solche Tugenden werden in vielen Familien nicht mehr vermittelt und die moderne Arbeitswelt scheint sie nicht mehr zu brauchen.

Vor diesem Hintergrund ist die entscheidende Gabe des biblischen Elterngebotes zu betonen. Sie besteht darin, dass Väter und Mütter, die Grundlagen für gelingendes Zusammenleben, nämlich die kulturelle Überlieferung an die jeweils nächste Generation weitergeben und diese ihrerseits diese Grundlagen übernehmen.

Bei der Taufe ihrer Kinder versprechen Eltern und Paten,  ihren Kindern zu helfen, „dem in Jesus Christus gegenwärtigen, handelnden und offenbaren Gott zu begegnen“ (Karl Barth). Unabhängig davon, ob Eltern ihr Kind haben taufen lassen oder nicht, - wenn sie  die geistige Entwicklung ihrer Kinder fördern wollen, müssen sie ihnen auch die kulturelle Überlieferung nahe bringen, die unser Land geprägt hat. Das ist für unseren Kulturkreis vor allem die jüdisch-christliche. So wie eine Gesellschaft  dafür Sorge zu tragen hat, dass kommende Generationen saubere Erde und reines Wasser hinterlassen bekommen, so sind auch die geistigen und religiösen Traditionen zu bewahren.

„Wenn dich dein Sohn morgen fragen wird…“ (12) , so wird in der jüdischen Tradition das Entscheidende eingeleitet, das die Generationenverpflichtung ausmacht. An Kind und Kindeskinder soll es weitergegeben werden. „Höre, Israel! ER ist unser Gott, ER allein.
Du sollst IHN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von all deiner Kraft.“
(13)
Das Glaubensbekenntnis Israels – faszinierend und eindrücklich. Von einer Generation zur anderen soll es getragen werden. - ‚Du sollst diese Worte zu Herzen nehmen, den Kindern einschärfen. Wo du stehst und gehst, zu Hause und in der Fremde.‘ (14) Als Zeichen an der rechten Hand, zwischen den Augen, an den Türpfosten sollen die Worte geschrieben sein.

Was ist so faszinierend an diesem Bekenntnis? Warum gilt es als so wichtig?
Und warum hören Menschen so schwer, wenn es um das Absolute geht?
Der Herr, euer Gott, ist Einer. Dieses lebenswichtige Bekenntnis ist nicht ein Satz theoretischer Erwägungen und logischer Ableitung. Es ist die gesammelte Erfahrung einer gelebten Geschichte.
Ein Volk wurde, zum Zeichen der Völker herausgerufen aus der gestaltlosen Babelwelt, die ihren Turm der Selbstüberhebung zu bauen trachtet. Eine Menschheit, die zerstreut wird unter dem Fluch der Verwirrung ihrer Sprache; Grammatik- und Vokabelkenntnis bringen die Erlösung nicht. Nur ein neuer Geist kann Verstehen lehren: „Ich habe dich erwählt – du bist mein.“ Die Kinder sollen es gesagt bekommen: Eure Väter und Mütter waren Sklaven in Ägypten, sie sind in die Freiheit geführt worden. Darum gilt es, Gott zu lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft. Das ist ein Bollwerk gegen die selbst gemachten Götter und gegen die konstruierte Gottlosigkeit, gegen die Sehnsucht nach rückwärts, nach der sich rasch verklärenden Vergangenheit.

Das lassen Sie uns bedenken. Viele in unserem Land sind erzogen in atheistischem Geist, systematisch als Bestandteil eines Schulkonzeptes oder nebenbei, mit oberflächlich rationalistischen Vulgärsprüchen. Sie können Gottes Wirken nicht erkennen, vermögen sein Werk nicht zu ahnen; erklären Gott für eine Projektion menschlicher Ideale oder als Ausgeburt des Seufzens einer bedrängten Kreatur, als Opium des Volkes. Nur das Elend müsse beseitigt sein, und schon erweise sich jede Gottesvorstellung als überflüssig. So haben es die materialistischen Theoretiker erklärt, und so hat es sich ausgebreitet, auch wo Religionsunterricht erteilt wurde, gleichsam als ein platter Rationalismus, der nur die Oberfläche als wahr erkennt. Das wird ausdrücklich oder unter der Hand nach wie vor weitervermittelt in die neue Generation.
Es ist ein Irrweg des Denkens!

Das Bekenntnis Israels ist nicht vorrational unaufgeklärt. Es ist erlebte Geschichte; religiöse Erfahrung, die nicht verfliegt, weder in den dunklen Phasen einer Jahrhunderte langen Verfolgungsgeschichte, noch dann, wenn kühle Rationalität sich über die Erlebnisse hermacht und sie zu pathologisieren trachtet.

Gerade wenn menschlich nichts mehr zu gehen scheint, gerade wenn rationale Konstrukte zu größenwahnsinnigen Staats- und Gesellschaftskonzepten gewuchert sind, erweist sich die Gotteserfahrung als Halt und als Gegengewicht. Wo diese Gotteserfahrungen in religiöse Beliebigkeit privatisiert oder ideologisch-propagandistisch verspottet werden, da brechen sie sich neu ihre Bahn. Menschen machen immer wieder die Erfahrung, dass die Wirklichkeit nicht aufgeht in dem, was einer zahlen und berechnen kann. Wo Gott abgeschafft oder verdrängt wird, entsteht ein Vakuum, in das neue Mächte einströmen, keine klaren rationalen, sondern verführerische: Mammon nennt das Jesus in der Bibel. Die Jagd nach Geld und Macht beginnt – zerstört das Zusammenleben, drückt Schwache an die Seite, geht über Leichen.

ER, unser Gott, ist Einer. Nichts dagegen bietet die ganze Palette der selbst gemachten oder von Staats- und Menschenmacht verordneten Götzen. Höre, Israel. – Das ist das Geschenk des Gottesvolkes an die Welt. – Um so schmerzlicher ist es, wenn wir immer wieder erleben, wie sich einzelne Politiker die Krankheit der europäischen Kultur, den Antisemitismus, zu nutze machen. Es gibt den Bodensatz der Vorurteile im Dunst von Stammtischen. Er traut  sich ans Licht mit Anschlägen gegen jüdische Einrichtungen, mit Bedrohung jüdischer Bürger und ihrer Freunde. Wer Verantwortung trägt in unserem Land, darf sich dieser Stimmungen nicht bedienen. Im Gegenteil – unsere Politik muss diese Unkultur in Grenzen halten. Das ist ihr demokratischer, humaner und christlicher Auftrag.

Bitten wir um das absolute Gehör – um das Gehör für das Absolute. „Höre, Menschheit“, so dürfen wir das Bekenntnis Israels abwandeln. Denn wir Christen haben es von Jesus, dem Juden, der uns und alle Völker einbezieht in die Erfahrung und die Geschichte seines Volkes. Ihm glauben wir Christen seinen Gott. Von ihm wissen wir, dass dieser Gott die Verlorenen sucht und die Kleinen erwählt hat. Von ihm wissen wir, wie riskant das Leben in der Gottesmissachtung ist, das Leben der Ellenbogen und des Zynismus, das Leben des Brudermordes, der Frauenunterdrückung und der Kinderausnutzung. (15)

Einzig ist Gott – die Liebe ist seine Gestalt. Erzählt davon euren Kindern – zu Hause und auf Reisen! Macht auch handfeste Zeichen gegen die Engstirnigkeit. Die jüdischen Symbole an Stirn und Arm beim Gebet – der kleine Behälter an dem Türpfosten mit dem Stückchen Pergament, auf dem dieses Bekenntnis geschrieben steht: Höre, Israel, ER ist euer Gott, ER ist Einer“. - Beim Eingang und beim Ausgang soll es beachtet werden. Es darf nicht vergessen werden in den Abgründen des Leides und im Gewirr des äußerlichen Betriebs.

IV. Die globale Dimension von Gerechtigkeit und Solidarität

Wie viel Solidarität brauchen wir zwischen den Generationen? - Lassen Sie mich wenigstens noch einen kurzen Gedanken auf das "wir" in der Frage verwenden. In meinen bisherigen Ausführungen habe ich, sofern ich nicht bloß uns als Juden und Jüdinnen, als Christen und Christinnen gemeint habe, mit diesem "wir" die deutsche Gesellschaft und die Bundesrepublik als Sozialstaat bezeichnet. Wir Christinnen und Christen sollten aber immer wieder öffentlich daran erinnern, dass für uns als Gottes geliebte Kinder dieses "wir" die Gemeinschaft mit allen Kindern Gottes auf der ganzen Welt einschließen muss. Was dies konkret bedeutet, wird uns in den nächsten Jahren angesichts der EU-Osterweiterung und des von uns allen erhofften weiteren Zusammenwachsens Europas beschäftigen. Dass dabei die weltweite Gemeinschaft, insbesondere die Solidarität mit den Menschen in Afrika, nicht verloren geht, daran werden wir zu erinnern haben.

Ich bin, was die Stabilität und die Verlässlichkeit und auch die künftige Generationenverantwortung betrifft, ziemlich optimistisch. Denn dieser moderne Kapitalismus, der mit seinen neuen Kommunikationstechniken und der von den Menschen abverlangten Mobilität und Flexibilität die Flüchtigkeit hervorbrachte, hat auch Unbeabsichtigtes zur Folge. Das ist die Sehnsucht der Menschen nach Verwurzelung, nach der Stärke des Ortes, zu dem die Menschen gehören. Bei aller unabänderlichen Fluktuation suchen die Menschen nach Zugehörigkeit. Sie erkennen immer deutlicher, dass sie aufeinander angewiesen sind.   Das ist wohl auch der eigentliche Grund, dass Ehe und Familie einen so hohen Stellenwert haben in den Wünschen der heranwachsenden Generation.  Weil es in unserer pluralen Gesellschaft keinen anerkannten Wertekanon zu geben scheint, verstärkt sich das Bedürfnis nach Orientierung und verbindlicher  Moral. Und gerade, wenn es nur wenige Grundüberzeugungen gibt, die als nötig für gelingendes Zusammenleben gelten wie der Schutz des Lebens und der Würde, die Verlässlichkeit von Bindungen, das Vertrauen in Verträge, das Einhalten von gesetzlichen Regeln - gerade dann wirkt die Überschreitung solcher Normen umso schmerzlicher und wird die Einschärfung dieser Regeln von einer Generation zur nächsten um so dringlicher. (18)

Welcher Maßstab wird an Menschen angelegt, die Maßstäbe vermitteln: Väter und Mütter, Lehrerinnen und Lehrer, Frauen und Männer im Pfarramt und solche in politischer Verantwortung?
Welchen Bildern sollen sie entsprechen? Nach dem Maß welcher Erwartungen sollen sie handeln? Und welche Brüche entstehen, wenn die Erwartungen enttäuscht werden?

Die Welt ist schon gerettet, glauben wir Christen. Darum können sich Väter und Mütter, Lehrer und Lehrerinnen Politiker und Politikerinnen getrost auf die Kunst des Möglichen konzentrieren. Gott sei dank müssen wir Gerechtigkeit nicht erfinden. Sie ist uns wie so vieles andere, was wir zum Leben und zum Gelingen unseres Zusammenlebens brauchen, in der jüdisch-christlichen Überlieferung vorgegeben.

Von daher lassen sich verlässliche Maßstäbe gewinnen zur Bewertung unseres Lebensstils, unserer Bildung und unserer sozialen Verantwortung, …auf dass wir lange leben und es uns wohlgehe auf dieser Welt, die uns Gott geschenkt hat.

Fußnoten:

(1) Mk 12, 28-30 par

(2)  Exodus 20, 12

(3)  Dt 5, 16

(4) vgl. Dt 4,1 u. a.

(5) vgl. z.B. Ch. H. Donin, Jüdisches Leben. Eine Einführung zum jüdischen Wandel in der modernen Welt, aus dem Englischen übers. v. F.S. Breuer, Jerusalem, 1987, S.137ff

(6) vgl. dazu G. v. Rad, Das fünfte Buch Mose, Deuteronomium, ATD Teilband 8, Göttingen 1964, S. 42; H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testamentes, München 1973, S. 259ff; R. Albertz, Hintergrund und Bedeutung des Elterngebotes im Dekalog, ZAW 90, 1978, S. 374; D. Sölle/L Schottroff, Den Himmel auf Erden, eine öko-feministische Annäherung an die Bibel, München 1996. D. Sölle verwendet hier den Begriff „Vertrag der Gene-rationen“, S.91ff.

(7) K. Lehmann, Zusammenhalt und Gerechtigkeit, Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen – Eröffnungsreferat bei der Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz am 22.9.2003, Text in: Pressestelle der DBK v. 22.09.2003,  Abschn. II

(8) H. Jonas, Das Prinzip Verantwortung, Versuch einer Ethik für die technische Zivilisation, Frankfurt 1979, zi-tiert nach der Suhrkamp-Ausgabe 2003, S. 9

(9) Zahlen dazu z. B. bei Ulrike Herrmann, tageszeitung vom 26.08.03

(10) H. Th. Goebel hat in einer Auslegung des Eltergebotes auf diese wichtigen Impulse hingewiesen. Göttinger Predigten im Internet – www.goettinger-predigten.de, Februar 2002

(11) Die Statistiker sagen uns, dass die Zahl der Kinder bei denjenigen Frauen, die Kinder bekommen, in den letz-ten Jahrzehnten weitgehend unverändert geblieben ist, Was sich verändert hat, ist die Zahl derjenigen Frauen, die keine Kinder bekommen. Besonders bemerkenswert ist dabei der Anteil der Akademikerinnen, von denen ge-genwärtig mehr als 40 Prozent kinderlos bleiben. Die Gründe dafür sind vielfältig. Aber es ist nicht zu überse-hen, dass die Schwierigkeiten, den erlernten Beruf und die Begleitung der Kinder zu verbinden, eine maßgebli-che Rolle spielen: Eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft braucht bessere Angebote für Eltern, damit sie Familie und Berufstätigkeit miteinander in Einklang bringen können.

(12) Dt 6, 20

(13) Das jüdische Sch.ma, das Glaubensbekenntnis aus Dt 6,4f

(14) V.6f

(15) Von Hanna Ahrendt, die große jüdische Philosophin erinnert, die gesagt hat: "Politik ist angewandte Nächsten-liebe, angewandte Liebe zur Welt“.

(16) R. Sennet, der flexible Mensch, Die Kultur des neuen Kapitalismus, Berlin 1998

(17) Auf die äußeren, materiellen Erfordernisse zur Familienförderung wie Tagesstättenplätze und Ganztagsschu-len ist immer wieder hingewiesen worden, auch auf die Situation Alleinerziehender mit ihrem hohen Armutsrisi-ko. Hier geschieht – trotz einiger positiver Ansätze – immer noch längst nicht genug. Aber jenseits dieser mate-riellen Seite kommt es entscheidend darauf an, die jungen Menschen in unserem Land zu ermutigen, sich für Kinder zu entscheiden. Objektiv bedeuten Kleinkinder eine Einschränkung der Mobilität und eine Verringerung der materiellen Spielräume für die Erwachsenen. Aber die meisten Eltern erfahren, um wie viel das aufgewogen wird durch das Glück, heranwachsendes Leben verantwortlich begleiten zu können.

(18) Siehe: H. Petri, Der Verrat an der jungen Generation, Welche Werte die Gesellschaft Jugendlichen vorenthält, Freiburg 2002, S 201f