Religion, Kultur und Gesellschaft

Rolf Koppe

Vortrag von Bischof Dr. Rolf Koppe im Rahmen des Dialogs der Kulturen Iran-Deutschland
"Ein West-Östlicher Diwan" am 23.-24. April 2002 in Bonn


Sehr geehrte Damen und Herren!

Zur Kultur des Dialogs gehört der Wechsel der Perspektive, d.h. der Gesprächspartner macht den Versuch, sich in die Sicht des anderen hinein zu versetzen. Das gelingt eigentlich nur, wenn man nicht allzu viel voneinander weiß. Oder wenn man in beiden oder mehreren Kulturen lebt und sich zu Hause fühlt. Ich kann von mir nicht behaupten, dass ich den Osten kenne. Große Hochachtung habe ich vor Menschen, die sich als Grenzgänger zwischen den Kulturen bewegen.

Wenn ich meine bescheidenen Eindrücke von Reisen in den Mittleren Osten und meine Begegnungen mit Menschen, die in binationalen Ehen leben, oder die auf Zeit im Ausland leben, reflektiere, dann stelle ich fest, wie positiv die meisten ihr Gastland sehen, und mit wie vielen gemischten Gefühlen sie ihrem Heimatland Deutschland begegnen oder es andererseits auch verklären.

Daraus ziehe ich den vorläufigen Schluss, dass der jeweilige Lebensmittelpunkt mit seinen Erfahrungen ganz entscheidend das Denken und Handeln bestimmt. Wer in Deutschland lebt, wird mit der Tatsache fertig werden müssen, dass er sich in einer stark individualisierten Gesellschaft zurechtfinden muss, d.h. entscheiden muss, in welchen Sektoren der Kultur oder der Religion er sich ansiedelt und aktiv teilnimmt. Das hat positive und negative Seiten, ist aber die Folge eines 200jährigen Prozesses in der Geschichte des Westens, den wir mit dem allgemeinen geistesgeschichtlichen Begriff "Aufklärung" bezeichnen. Häufig wird sie mit der französischen Revolution von 1789 und der französischen Ideen- und Kulturgeschichte gleichgesetzt - mit der radikalen Trennung von Kirche und Staat. Im sogenannten Laizismus verteidigen die einen die Belange der säkularen Welt und die anderen die Belange der Religion. Das ist die Folge einer antiklerikalen Grundhaltung. Es gibt in Frankreich z.B. keinen Religionsunterricht in den Schulen, weder für Christen noch für Muslime.

In Deutschland sind die kulturellen Weichen schon durch die Reformation anders gestellt worden. Für Martin Luther hatte "die Welt" eine eigene Würde, die von der Kirche zu respektieren ist. Sie war für ihn Gottes Schöpfung, in der schon vor der Entstehung der Kirche Menschen lebten und Ordnungen schufen nach der Antwort Jesu auf die Frage, wen man zu gehorchen habe: "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist". Zusammen mit der deutschen Aufklärung¸ also mit Denkern wie Kant und Hegel¸ hat sich daraus eine Art partnerschaftliches Verhältnis von Staat und Kirche, Glaube und Vernunft, Geschichte und Gegenwart, entwickelt. In Deutschland gibt es theologische Fakultäten an den Universitäten und in den öffentlichen Schulen einen Religionsunterricht, der ordentliches Lehrfach ist. Es wird in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Kirchen und Religionsgemeinschaften unterrichtet. Gegenwärtig wird darüber nachgedacht, wie den mehr als 400.000 muslimischen Kindern und Jugendlichen der Zugang ermöglicht werden kann, ob sie die Anforderungen einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft erfüllen, d.h. auf dem Boden der Verfassung stehen, eine feste Mitgliedschaft nachweisen können und so organisatorisch als Religionsgemeinschaft erkennbar sind. Voraussetzung ist auch eine entsprechende Ausbildung der Lehrer an staatlichen oder vom Staat anerkannter Hochschulen. Die evangelische und katholische Kirche unterstützen entsprechende Bemühungen, aber derzeit geht es nicht so recht weiter.

Als es vor etwa 2 Jahren um die Erstellung einer Charta der Grundwerte der Europäischen Union ging, die in der verfassungspolitischen Kommission unter dem Vorsitz des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog erarbeitet wurde, konnten sich Frankreich und Deutschland nicht vollständig auf einen Text einigen. In der französischen Fassung ist von einem allgemeinen geistigen Erbe Europas die Rede, in der deutschen Version von einem "geistig-religiösen Erbe". Das ist ein charakteristischer Unterschied.

Die protestantische theologische Tradition unterscheidet nach den schlechten Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus, die beide die Kirchen bzw. die Religion beseitigen wollten, zwischen den positiven Folgen der Säkularisierung, nämlich der Abwehr totalitärer Herrschaftsformen sowie dem Aufbau einer freiheitlichen, rechtlichen und demokratischen Gesellschaft, und einem "Säkularismus", der Religion durch Ideologie ersetzen will oder praktisch ersetzt wie der Ökonomismus oder Globalismus der Gegenwart. Religiöse Menschen finden sich nicht mit dem Säkularismus ab, der Feiertage flexibilisieren will, Pornographie gesellschaftsfähig macht, den Menschen als Ware betrachtet oder Kinder und alte Menschen in ihrer Würde herabsetzt. Sie setzen sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung ein, arbeiten in Parteien und in gesellschaftlichen Bewegungen mit und mahnen die gewählten Verantwortlichen, Konflikte zu lösen und sich für ein nachbarschaftliches Zusammenleben mit ethnischen und religiösen Minderheiten einzusetzen. In den letzten 30 Jahren ist die Partizipation vieler Menschen zu einem Kennzeichen der westlichen und nach der Wende in Europa zunehmend auch der osteuropäischen Gesellschaften geworden. Pluralität ist nicht negativ zu werten, auch wenn ein prinzipieller Pluralismus die nötige Konsensbildung und die Kompromissfindung auf eine schwere Probe stellt. Ich möchte auch nicht verschweigen, dass das Wertebewusstsein, das ganz wesentlich aus den Quellen des Christentums und anderer Weltreligionen schöpft, in der medial vermittelten geistigen Welt an Einfluss verloren hat. In der bildenden Kunst, der Literatur und Musik gibt es zwar eine reiche Tradition, die geistliche Wurzeln hat, aber in der Gegenwart muss man schon genau hinsehen oder hinhören, um sie zu entdecken. Das gleiche gilt für das Verhältnis von Naturwissenschaft und Technik zur Religion. Die Forschung und die Anwendung ihrer Ergebnisse erfolgen in immer kürzeren Zeitperioden, ohne dass die Modernisierung kulturell in ihrer Tiefendimension wahrgenommen wird, geschweige denn im Innersten verarbeitet und angeeignet ist.

So ist es nicht verwunderlich, dass z.B. der Soziologe Ulrich Beek überspitzt von einer Risikogesellschaft spricht, die in der Gefahr ist, sich bei laufendem Motor selber abzuschaffen. Andererseits gibt es einen wachsenden Bedarf nach Gesprächen über ethische und religiöse Fragen. Die jüngste Debatte über die Stammzellforschung in Deutschland ist dafür ein bezeichnendes Beispiel. In der Enquetekommission des Parlaments und im nationalen Ethikrat,, den der Bundeskanzler als Beratungsgremium einberufen hat, haben Theologen sachkundig mitgeredet und die Kirchen haben sich vernehmlich eingemischt. Zwischen einer prinzipiellen Ablehnung und einer nahezu schrankenlosen Freigabe der Forschung wird jetzt ein Gesetzesvorhaben beraten, das mit hohen Hürden versehen ein verantwortliches Forschen ermöglichen soll. Ein ungelöstes Problem ist, wie solche Restriktionen auf europäischer und internationaler Ebene eingefordert werden können. Es ist ein großes Defizit, dass das Gespräch der Religionen über solch ein wichtiges Thema noch kaum begonnen worden ist. Anders sieht es bei den Themen Frieden, Bewahrung der Schöpfung und der Mitgestaltung einer gerechten Welt aus. Auf UN-Konferenzen und im lokalen Bereich gibt es gemeinsame Initiativen, zum Beispiel die Agenda 21 umzusetzen.

Ich halte solche eine praktische Zusammenarbeit für eine gute Gelegenheit, sich gegenseitig besser kennen zu lernen und auch im interreligiösen Gespräch Fortschritte zu machen. Allerdings haben die Terroranschläge am 11. September letzten Jahres auf New York und Washington ein tiefes Misstrauen geweckt. Auch die jüngsten Äußerungen des obersten Geistlichen der Al-Azhar-Universität von Kairo, Tantawi, zur religiösen Legitimation von Selbstmordattentaten von Palästinensern auf Zivilisten in Israel, haben verschärfende Wirkung in einem Konflikt, in dem die Religionen Brücken bauen müssen anstatt Gräben zu vertiefen.

Ich rede nicht so, als ob Christen und Kirchen eine ethisch bessere Rolle gespielt haben oder spielen. Der über 30jährige Nordirlandkonflikt, der zwar kein Religionskrieg ist, aber in dem Protestanten und Katholiken instrumentalisiert worden sind oder sich haben instrumentalisieren lassen, ist ein abschreckendes Beispiel. Der katholische Theologe Hans Küng hat wohl recht, wenn er sagt, dass es keinen politischen Frieden gibt, wenn es keinen Frieden zwischen den Religionen gibt. Man kann den Satz aber auch anders wenden: wenn es keinen politischen Frieden gibt, gibt es auch keinen Frieden zwischen den Religionen. Es kommt darauf an, dass die Religionen mit daran bauen, eine Ordnung des Friedens aufzurichten. Wenn nicht die Religionen - wer sonst soll den Anfang machen?

Ich habe mit der Betrachtung begonnen, dass das Alltagsleben entscheidend wichtig ist für das Zusammenleben. Wir haben lernen müssen, philosophisch und praktisch, dass der Mensch nicht zuerst allgemein ist, sondern individuell und dass er ewigen Lebens nur ist, insofern er in die gesellschaftliche Zeit gestellt ist. Kein Wahrheitsanspruch kann anders denn in der Form einer sprachlich verfassten geschichtlichen Existenz auftreten. Nicht die erworbene Sicherheit des Eigenen, sondern die Unbekanntheit des Anderen ist der Maßstab des Gesprächs.

Das hat der Westen in einem langen historischen Prozess - mit allen Irrungen und Wirrungen besonders im vergangenen Jahrhundert - mühsam lernen müssen und schließlich in Institutionen verankert. Religion - Kultur und Gesellschaft sind dabei aufeinander bezogen, ohne dass die eine Größe mit den anderen verwechselt werden darf und in den anderen aufgeht. Mein philosophischer Lehrer Hans-Georg Gadamer, der vor kurzem im Alter von 102 Jahren verstorben ist, hat uns Studenten in den 60er Jahren in Heidelberg dazu angehalten, geschichtlich denken. Er hat in seiner Lehre des Verstehens von der "Horizontverschmelzung" geschichtlicher Ergüsse und eigenen Erkenntnisvoraussetzungen gesprochen, in der sich Wahrheit erschließt. So möchte ich mich dem Osten annähern. Als Christ füge ich hinzu: mit Hilfe des Heiligen Geistes, der bekanntlich weht, wo er will.