Predigt im Ökumenischen Gottesdienst der Älteren (Johannes 15, 9-15)

30. Mai 2003, St. Johannes-Basilika, Berlin-Kreuzberg

I.
Irgendwann in den Jahren der jungen Liebe hatte die Frau damit angefangen. Zum Frühstück hatte sie frische Brötchen gekauft. Besonders nachdrücklich hatte der Mann nicht darauf reagiert; aber sie konnte annehmen, dass sie ihm damit eine Freude machte. Was am Anfang eine Überraschung sein sollte, wurde zur Gewohnheit: frische Brötchen zum Frühstück.

So blieb es über Jahre und Jahrzehnte. Von den Brötchen war nie die Rede, sie wurden eben gegessen. Bis einmal, auf einer Reise, keine Brötchen zu haben waren. Kräftiges Vollkornbrot stand auf dem Tisch. „Eigentlich esse ich Vollkornbrot viel lieber“, entfuhr es dem Mann. Nie hatte er das vorher gesagt. Hingenommen hatte er, womit seine Frau ihm eine Freude hatte machen wollen. Jahrzehnte waren mit dem Brötchen-Irrtum ins Land gegangen.

Gewiss gibt es Missverständnisse, die schwerer ins Gewicht fallen. Trotzdem zeigt diese Szene einer Ehe: Es kommt darauf an, dass Menschen sagen, was sie meinen. Verhängnisvoll können sie sein: die verdeckten Wünsche, die unausgesprochenen Erwartungen, die verborgenen Sehnsüchte. Nicht einengend, sondern befreiend ist es, wenn einer seine Erwartungen klar zur Sprache bringt.

Dass Jesus mit seiner Erwartung nicht hinter dem Berg hielt, werden Jesu Jünger nicht als drückendes Gebot, sondern als befreiende Klarheit empfunden haben. „Bleibt in meiner Liebe“: so heißt diese Erwartung. Und Jesus fügt hinzu: „Dies habe ich euch gesagt, damit meine Freude in euch ist und damit eure Freude vollkommen ist.“ Nicht erst eine verklärte Jenseitshoffnung kann Christen zu fröhlichen Menschen machen; wenn sie sich an die Liebe halten, bestimmt Freude ihr Leben. So einfach ist das.

Das Johannesevangelium gibt dem Verhältnis zwischen Jesus und den Seinen einen besonders intensiven, ja man möchte sagen: innigen Ausdruck. Der Lieblingsjünger unter dem Kreuz ist dafür zum Symbol geworden. In langen und vertrauten Gesprächen wendet sich Jesus den Seinen zu, bevor die Auseinandersetzungen in Jerusalem ihn wieder in die Öffentlichkeit zwingen. Als „Abschiedsreden“ bezeichnet man, was Jesus den Jüngern aus diesem Anlass sagt. Aber es sind in Wahrheit viel stärker „Bleibereden“. Sie verbürgen Jesu Liebe über den Tod hinaus. Sie begründen die Grundhaltung des christlichen Glaubens, die Thomas Mann einmal auf die schlichte Formel brachte, dass wir um der Liebe willen dem Tod keine Macht einräumen dürfen über unsere Gedanken.  „Bleibt in der Liebe“: darum geht es in der christlichen Existenz. Dabei braucht man sich das „Bleiben“ ja nicht als ein bewegungsloses Beharren vorzustellen. In der Liebe zu bleiben, ist mit starrer Unbeweglichkeit ohnehin unvereinbar. Die Liebe ist ja ihrem Wesen nach Bewegung, Neugierde auf den anderen, gemeinsames Unterwegssein. Mit der Liebe zu Gott ist es übrigens nicht anders: Sie ist ein Interesse an den Wandlungen Gottes in der Geschichte, ein Aufmerken auf seine überraschende Gegenwart, ein Offensein für seine Zukunft.

Liebe ist eine Beziehung aus Freiheit. Jesus unterstreicht das dadurch, dass er die Seinen als Freunde anspricht. Dass diese Beziehung aus Freiheit bleibt und Bestand hat, ist ein hohes und kostbares Gut. Manche erklären das heute für unmodern und meinen, lebendig könnten Beziehungen nur bleiben, wenn man sie häufig genug wechselt. Der Begriff der Lebensabschnittspartnerschaft hat schon längst die Runde gemacht. Der Audi gilt deshalb als besonders zeitgemäßes Auto; denn er hat vier Ringe.

Beziehungen können scheitern. Manchmal gehört es zur Wahrheit einer menschlichen Verbindung, dass sie auseinander geht. Wer sich darüber erhaben dünkt, der werfe den ersten Stein. Aber richtig ist auch: Freundschaft zeigt etwas von ihrer Wahrheit, wenn sie sich bewährt bis ins Alter. Liebe bedeutet, dass man miteinander alt werden kann. Albert Camus hat sich so ausgedrückt. Dieser französische Philosoph und Schriftsteller war gewiss kein Traditionalist. Es lag ihm fern, überlieferte Lebensformen um ihrer selbst willen zu preisen. Er wollte schonungslos die Wahrheit der menschlichen Existenz aufdecken. Gerade deshalb konnte er der Einsicht nicht ausweichen: Liebe bedeutet, dass man miteinander alt werden kann.

Bleibt in der Liebe! Diese Erwartung Jesu, klar artikuliert, kann auch heute befreiend wirken. Es ist nicht altmodisch, sich dem Sog der Trennungen und Scheidungen zu widersetzen. Treue, von manchen als alter Hut verspottet, gilt unter jungen Leuten wieder als attraktiv. Auf verlässliche Beziehungen setzen sie ihre große Hoffnung. Wir Älteren sollten ihnen die Beispiele dafür nicht verweigern. Es geht; und es hat mit Langeweile nichts zu tun.

II.
Um der Liebe willen sollen wir dem Tod keine Macht einräumen über unsere Gedanken. Hat Jesus selbst diese Aufforderung eigentlich befolgt? Ich kann nicht verschweigen, dass ich mich an dem Liebesgebot Jesu in der Fassung, die das Johannesevangelium ihm gibt, reibe. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“ – so heißt es da. Schon immer habe ich mich gegen diesen Satz aufgelehnt. Im Ersten Weltkrieg wurden Kriegspredigten ohne Zahl über ihn gehalten. Die Freunde, von denen Jesus redete, so erklärten die Prediger, seien die Angehörigen der eigenen Nation; um ihretwillen opferten sich die Soldaten im Krieg. So konnte man im Namen des Liebesgebots Gott zum Nationalgott machen und auf den Koppelschlössern die Inschrift tragen: „Gott mit uns“. Dadurch verführt, meldeten sich junge Männer, halbe Kinder noch, scharenweise freiwillig zum Kriegsdienst. Massenhaft wurden sie bei Langemarck in den Tod getrieben und meinten dabei, eine größere Liebe gebe es nicht. Im Zweiten Weltkrieg wurden noch Beileidskarten mit dieser Aufschrift gedruckt: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ Diese Karten wurden dann verschickt, als die Todesnachrichten aus dem Kessel von Stalingrad kamen, hunderttausendfach: aus Liebe sei das geschehen.

Der Missbrauch dieses Satzes blieb nicht auf Männer beschränkt. Auch Frauen gerieten in seinen Bann. Sich aufopfern wurde zu einer besonderen weiblichen Tugend erklärt. Auf ein eigenes Leben zu verzichten, galt als Gipfel der Tugendhaftigkeit. Die Zuwendung zu Mann, Kindern und Familie war, so hieß eine verbreitete Meinung, anders nicht zu haben. Die Frau musste auf ein „eigenes Leben“ verzichten: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“

III.
Aber ist das alles denn überhaupt wahr? Ist das Menschenopfer die höchste Form der Liebe? Ich kann das nicht glauben. Liebe ist doch ein wechselseitiges Verhältnis, in dem Menschen miteinander zur Erfüllung kommen. Ausdrücklich gibt Jesus diesem höchsten Gebot an anderer Stelle die – dem Alten Testament entlehnte – Form: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Matthäus 22, 39; vgl. 3. Mose 19, 18). Die Selbstliebe ist in das Gebot der Nächstenliebe ausdrücklich eingeschlossen. Von der totalen Selbstverleugnung, die in der christlichen Tradition so oft in dieses Gebot hineingelesen wurde, findet sich hier nichts.

Auch im Johannesevangelium stellt Jesus ausdrücklich Freundschaft und Knechtschaft gegeneinander. Von der Knechtschaft unterscheidet sich aber die Freundschaft doch gerade dadurch, dass nicht einer sich für den anderen aufopfern muss; vielmehr wird für beide das Leben reicher, erfüllter. Gewiss gibt es Grenzsituationen, in denen Menschen ihr Leben aus Liebe einsetzen, um einen anderen Menschen zu retten. Aber dagegen, eine solche Nothilfe um den Preis des Todes als die höchste Form der Liebe anzusehen, wehrt sich in mir alles.

Nur für einen Tod bin ich bereit, das anzuerkennen: für den Tod Jesu. Aber auch in diesem Fall bejahe ich das nicht aus dem Grund, der lange Zeit dafür angegeben wurde. Jesus musste sterben, so heißt diese Deutung, damit Gottes Zorn besänftigt wurde. Gott brauchte eine Genugtuung für die Schuld der Menschen; sie konnte nur in dem Tod eines Menschen bestehen, der zugleich selbst Gott war. Dass Gottes Bedürfnis nach Wiedergutmachung den Tod Jesu erzwungen habe, kann ich jedoch mit dem Gebot der Liebe nicht vereinbaren.

Ein amerikanischer Briefpartner hat mir während des Irakkriegs mit einer solchen Begründung klar zu machen versucht, warum Christen auch heute noch für die Todesstrafe eintreten müssten. Und den Irakkrieg selbst hat er mir als eine Art Todesstrafe gegen Saddam Hussein erklärt. Ich habe ihm geantwortet, nach meiner Befürchtung werde sich der Diktator dieser Strafe zu entziehen wissen; aber viele Unschuldige müssten dafür sterben. Leider habe ich Recht behalten.

Mit aller Leidenschaft wehre ich mich dagegen, das Vergeltungsdenken in Gott selbst hineinzulegen und am Ende auch noch unsere höchst menschlichen Rachegelüste damit zu rechtfertigen. Es mag eine äußerste Notsituation geben, in der man ein weit größeres Unglück nicht anders abwenden kann als durch den Einsatz von tötender Gewalt. Aber als Ausdruck der Liebe soll das niemand ausgeben. Es bleibt vielmehr Schuld, wie hochrangig der Zweck auch immer sein mag.  Das gilt im persönlichen Leben wie in der Politik. Für Polizisten und Soldaten gilt es nicht anders als für alle anderen auch. Niemand soll uns einreden, wir müssten uns ans Töten gewöhnen; denn so sei die Welt nun einmal. Auch nach dem Irakkrieg gilt wie vorher: Wenn es um Krieg geht, soll die Welt nicht so bleiben, wie sie ist. Das Recht des Stärkeren soll über die Stärke des Rechts nicht den Sieg davontragen.

Dass Jesus sein Leben für uns dahingab, ist nicht ein Gott dargebrachtes Sühneopfer, sondern ein Versöhnungszeichen Gottes für uns. Jesus lässt sich so tief auf unser Todesschicksal ein, damit wir sein Opfer nicht wiederholen und niemanden zu einer Wiederholung zwingen. „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“: nur als Aussage über die Liebe Jesu kann ich diesen Satz annehmen. Wir, seine Freundinnen und Freunde, sollen das Leben achten, statt es zu opfern oder andere zu Opfern zu machen. Gott ist ein Freund des Lebens. An dieser Lebensfreundschaft Gottes sollen wir Anteil haben. Sie kann unser Leben prägen – auch in den Beziehungen und Verbindungen, in denen wir unser Leben führen. Um Jesu willen kann unsere Liebe lebendig bleiben „bis ins Pianissimo des Alters“.
Amen.