Festvortrag bei der Verleihung des Klaus von Bismarck-Preises in Hannover

Dr. Irmgard Schwaetzer

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

über die Einladung der Stiftung sozialer Protestantismus,  heute den Festvortrag zu halten, habe ich mich sehr gefreut. Wir haben gerade eindrucksvolle Beispiele für das Selbstverständnis der Stiftung gehört – und sie sind zu Recht ausgezeichnet worden: Der Stiftung geht es um die sozialen Prägekräfte des deutschen Protestantismus. In der Tradition der Evangelischen Sozialakademie Friedewald legt sie ihr Augenmerk auf die Rahmenbedingungen von Teilhabegerechtigkeit, die Voraussetzung für die Stabilität und Weiterentwicklung unseres demokratischen Gemeinwesens ist. Dies war ein zentrales Thema des Lebenswerkes von Klaus von Bismarck, dem Namensgeber des Preises.

Die diesjährige Preisverleihung richtet sich an Einrichtungen, die die gesellschaftliche Herausforderung der Inklusion für die Arbeitswelt konzeptionell aufgenommen und vorbildhaft umgesetzt haben. In der Würdigung der Preisträger durch Vizepräses Klaus Eberl ist die besondere Bedeutung des Inklusionsthemas für Menschen mit Behinderungen und die daraus resultierenden Veränderungen des Arbeitsmarktes sehr deutlich geworden. Allen Preisträgern gratuliere ich sehr herzlich und danke Ihnen für ihr besonderes Engagement.

In meinem Festvortrag möchte ich mich auf einen erweiterten Inklusionsbegriff beziehen. Es ist eigentlich selbstverständlich, dass von der  intensiven Debatte um die Teilhaberechte von Menschen mit Behinderungen auch wichtige Impulse auf andere Bereiche unserer Gesellschaft ausgehen. Denn das ist klar: Mit dem Thema Inklusion wird nicht nur die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung in all ihren Facetten neu wahrgenommen. Vielmehr geht es ganz grundsätzlich um die Wertschätzung von Vielfalt und um Teilhabegerechtigkeit, damit Menschen in Würde zusammen leben, lernen, arbeiten und wohnen können. Daraus ergeben sich wichtige Perspektiven für Quartiersentwicklung und Bildung, für die Genderfrage, die Integration von Flüchtlingen, die Milieuforschung, das Miteinander der Generationen, der Religionen und Kulturen. Vielfalt soll als Bereicherung erlebt werden. Menschen sind unterschiedlich, haben verschiedene Bedürfnisse, Kompetenzen und Ressourcen. Die gilt es zur Geltung zu bringen. Davon können alle profitieren.

Über fünf Facetten des erweiterten Inklusionsbegriffs möchte ich heute in meinem Vortrag mit Ihnen gemeinsam nachdenken. Diese Aspekte haben vielleicht erst auf den zweiten Blick mit dem zu tun, was die Tageszeitungen unter dem Stichwort Inklusion berichten. Sie haben mich aber nicht nur als Präses der EKD-Synode, sondern auch als Politikerin angefragt, mein Blick auf Inklusion ist daher auch ein politischer. In den Blick nehme ich Beispiele, die unter ein weites Verständnis von Inklusion fallen.

1. Bildung

Uns sind die Defizite bewusst: Unsere Gesellschaft hat zu allen Zeiten Menschen von der Teilhabe ausgeschlossen. Sie befindet sich glücklicher Weise auf einem langen Weg vom Ausschluss über Separation und Integration bis hin zum Ziel der Inklusion – in vielen Bereichen. Zu mancher Zielerreichung hat man unsere deutsche Gesellschaft schubsen müssen, wie mir scheint. Die Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen im März 2009, in der sich Deutschland unter anderem dazu verpflichtet hat, die Rechte von Menschen mit Behinderung in einem inklusivem Bildungssystem auf allen Ebenen zu gewährleisten, ist so ein Schubser in die richtige Richtung. Ein anderer Schubser waren die Erkenntnisse aus internationalen Schulvergleichsuntersuchungen. In Deutschland haben wir noch immer eine starke Koppelung von sozialer Herkunft und Bildungserfolg - so hatte im Jahr 2000 ein Kind aus der Oberschicht gegenüber einem Schüler aus einer Facharbeiterfamilie bei gleicher Intelligenz und gleicher Leistung in manchen Bundesländern eine sechsmal so große Chance, ein Gymnasium zu besuchen. Die mangelnde Inklusion im Bildungswesen verringert die Startchancen von Kindern und Jugendlichen, die durch Behinderung, sozio-ökonomische Bedingungen oder Migration ohnehin benachteiligt sind.
Besondere Aufmerksamkeit erhielt deshalb der Bericht des UN-Sonderbeauftragten Vernor Muñoz 2007, der die Resultate der empirischen Bildungsforschung bestätigte und vor diesem Hintergrund klare politische Forderungen formulierte. Er kritisierte die Aufteilung der Schülerinnen und Schüler in weiterführende Schulen nach dem 4. Schuljahr und die kostenpflichtigen Kindergartenplätze in Deutschland. Der deutschen Regierung wurde empfohlen, das mehrgliedrige Schulsystem, das sich „auf arme Kinder und Migrantenkinder sowie Kinder mit Behinderung negativ auswirke“, noch einmal zu überdenken. Umfassende Antworten auf diesen Bericht stehen in den Bundesländern aber noch aus. Vor allem die Durchlässigkeit der Schulsysteme, die eine individuelle Förderung und Entscheidungsfindung voraussetzt, kommt nicht voran.

2. Genderfrage

Wie kommen wir einer Realität von Gesellschaft näher, in der alle Menschen ein Recht auf Teilhabe nicht nur haben, sondern dieses Recht auch praktisch umsetzen können, weil es genügend Möglichkeiten dazu gibt. Aktuell sind wir von diesem Ziel noch ein gutes Stück entfernt. Ein Blick auf die Entwicklung des Themas Geschlechtergerechtigkeit mag helfen zu definieren, was heute nottut. Dass Frauen von der männlich dominierten Gesellschaft der Entscheidungsträger ausgeschlossen waren, war seit der Zeit des Biedermeier in Europa Normalität. Erst durch die Emanzipationsbewegung nach dem 2. Weltkrieg hat sich einiges daran geändert. Das gilt leider auch für die Kirchen.

Vor wenigen Wochen habe ich in Hannover gemeinsam mit anderen das Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie eröffnet. Es soll helfen, die Teilhabe von Frauen in der Kirche voran zu bringen, aber auch darauf achten, dass die mit der Genderforschung neu in den Blick genommenen Diskriminierungen unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Prägungen abgebaut werden. Die Eröffnung dieses Zentrums hat nicht nur einhelligen Jubel hervor gerufen. Es hat kontroverse Diskussionen ausgelöst, denn auch unter evangelischen Christen und Christinnen werden vor allem zu den Fragen der Teilhabe von Menschen unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Prägungen verschiedene Positionen vertreten. Aber genau dieses Ringen um gemeinsame Positionen gehört zum evangelischen Profil. Statt vorgefertigter Lehrmeinungen müssen wir selbst auf der Grundlage des Evangeliums nach evangelischen Antworten auf die relevanten Fragen der heutigen Zeit suchen. Denn das hält die evangelische Kirche in der Mitte der Gesellschaft. So hat der Rat der EKD in seiner Orientierungshilfe „Zwischen Autonomie und Angewiesenheit“ betont, dass Verlässlichkeit, Liebe, Fürsorglichkeit und Gerechtigkeit im christlichen Sinne schützenswerte Gemeinschaften prägen, wobei allerdings das Leitbild der Ehr nicht in Frage gestellt wird. Wir können wir uns Diskussionen über Geschlechtergerechtigkeit und den Umgang mit neuen Lebensformen nicht ersparen. Und wir sollten es auch der Gesellschaft nicht ersparen, unsere Beiträge aus christlicher Perspektive zu formulieren und in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen. Teilhabefragen sind immer Machtfragen, und Machtfragen gehören nicht hinter verschlossene Türen, sondern in einen offenen Diskurs. Ich bin froh, dass die Synode der Evangelischen Kirche ein Platz für diesen offenen Diskurs ist.
Die Synode hat vor 25 Jahren in Bad Krozingen wegweisende Beschlüsse zur Teilhabe von Frauen in Leitungsämtern der Kirche gefasst und wird uns ein wacher Begleiter bleiben auf dem langen Weg von Ausgrenzung hin zu voller Teilhabe.

3. Wie viel Platz hat das Fremde?

Zuwanderer haben in den vergangenen Jahrzehnten ihren Platz in unserer Gesellschaft gefunden. Aber in jedem Jahr suchen wieder Menschen in Not den Weg zu uns, je mehr Krieg und Katastrophen in den unterschiedlichsten Teilen der Welt das Leben für sie unerträglich machen. Sie bringen ihre Religion, ihre Kultur und ihre Traditionen mit. Sie sind fremd unter uns. Aber auch für sie muss gelten: sie haben ein Recht auf Teilhabe im Rahmen unserer Gesetze – das schließt den Aufbau von Parallelgesellschaften nicht ein. Doch sind diese Gesetze so gestaltet, das gerechte Teilhabe möglich wird? Darüber gehen natürlich die Meinungen auseinander. Die Synode der EKD befasst sich jedes Jahr mit der Situation der Flüchtlinge und Migranten in Deutschland und Europa und mahnt unsere Gesellschaft zu mehr Mut. Denn die Frage ist doch wirklich: tun wir genug angesichts der Not und des Elends und der enormen Anstrengungen in Ländern, die weit weniger wohlhabend sind als wir. Von etwa 10 Millionen Syrern sind etwa 6 Millionen auf der Flucht, davon die meisten im eigenen Land von umkämpften Gebieten in nicht umkämpfte. Allein im Nachbarland Jordanien leben etwa 1 Million syrische Flüchtlinge, ein Land, das selbst in großen Schwierigkeiten ist. Deutschland hat sich bereit erklärt 10 000 syrische Flüchtlinge aufzunehmen. Natürlich ist eine Diskussion um Zahlen immer schief, weil die Situation in den Ländern nicht vergleichbar ist. Aber tun wir wirklich genug? Wollen wir die Politik der Abschreckung, die alle Bundesregierungen ohne es so zu nennen in den letzten Jahrzehnten verfolgt haben und die dennoch immer wieder am Willen der Flüchtlinge zu uns zu kommen scheitert, weiter verfolgen? Ist das Teilhabe an unserer weltweiten Verantwortung? Die Synode der EKD wird weiter darauf dringen, dass der Zugang zu fairen Asylverfahren, der Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt auch  über die jetzt vorgesehenen Maßnahmen hinaus verbessert werden. Die Sorge um den Fremden ist eine zentrale Botschaft des Neuen Testaments.

4.  Vielfalt in Kirchen und Religionsgemeinschaften

Gleichberechtigte Teilhabe ist das Ziel! „Nicht nur ein irgendwie dabei sein, sondern ein gemeinsames Gestalten ohne die Angst, verschieden zu sein.“ Ohne Angst verschieden sein – der Philosoph Theodor W.  Adorno hat mit diesen wenigen Worten eine große Hoffnung ausgedrückt.

Denn unsere Geschichte ist voll von Beispielen, wo Verschiedenheit eben nicht zu Gemeinsamkeit, sondern zu Trennung geführt hat. Verschiedenheit auszuhalten – das ist eine große Herausforderung. Das sie gemeistert wird, ist keinesfalls selbstverständlich. Als evangelische Kirche kennen wird das gut – wir sind als Kirche der Reformation aus einem Trennungsprozess hervorgegangen. Heute beherbergt unsere Kirche eine große Verschiedenheit von Menschen, Meinungen, Positionen und Erkenntnissen. Da liegt es oft nahe, wie Lot und Abraham zu sagen: Gehst du nach links, gehe ich nach rechts. Oder es liegt nahe, mit Fäusten zu klären, wer teilhaben darf, und wer nicht.

Für mich gibt es einen Begriff, der in diesem Zusammenhang einen besonderen Zauber ausübt: Der Begriff der „versöhnten Verschiedenheit“. Ist nicht genau dies das Ziel von Inklusion – versöhnte Verschiedenheit? Ohne Angst verschieden zu sein? Vielfalt nicht nur zu proklamieren, sondern tatsächlich zu leben?

Dass dies trotz jahrhundertelanger Auseinandersetzungen gelingen kann, dafür steht geradezu die Leuenberger Konkordie als Kirchengemeinschaft (1973) und die Gemeinschaft Europäischer Kirchen, und die Charta Oecumenica (2001). Entscheidend für das Gelingen dieser Verständigungsprozesses, für die Überwindung von Exklusion und Separation war eben jener Begriff, den ich als Beitrag der Christen für die Kunst des Zusammenlebens von Menschen mit sehr verschiedenen Positionen festhalten möchte. Es ist die Vision einer „Versöhnten Verschiedenheit“, ein Begriff aus der dem Ökumenischen Prozess. Differenzen werden nicht bagatellisiert, sondern benannt. Benannt wird aber auch, ob in den Differenzen noch Trennendens steckt, das heute keinen Platz mehr hat und haben darf. So werden gemeinsame Perspektiven möglich, die Verschiedenheit respektieren und das je eigene neu schätzen und lieben lernen.

Kirche ist ihrem Verständnis nach doch genau dies: eine gleichberechtigte Gemeinschaft von Menschen. Die Teilhabe an Christus begründet das Miteinander. Sie werden vermutlich alle das paulinische Bild dafür kennen, was wir heute mit Inklusion benennen: Das Bild der Gemeinde als das Bild eines Leibes. Um es mit Paulus zu sagen: „Das Auge kann nicht der Hand sagen „Ich brauche dich nicht“, auch kann der Kopf nicht zu den Füßen sagen „Ich brauche dich nicht“, Nein! Gerade auf die Körperteile, die unbedeutender erscheinen, kommt es an. Gott hat den Körper zusammen gefügt und gab dem für niedrig gehaltenen Teil die umso größere Ehre, damit der Körper nicht von einer Grenze durchzogen wird, sondern die Glieder sich gemeinsam um einander sorgen“. Soweit der Apostel Paulus im 2. Korintherbrief. Wie gehen wir in der Kirche nun miteinander um? Schätzen wir unsere Verschiedenheit als Reichtum? Erleben wir die Teilhabe der so ganz anderen als willkommene Ergänzung, und erleben diese sie als gleichwertig? Gelungene Inklusion ist versöhnte Verschiedenheit. Sie darf keine Vision bleiben.

Sehr geehrte Damen und Herren, wer definiert eigentlich, was normal ist? Ich möchte über diese Frage anhand einer Untersuchung mit Ihnen nachdenken, die ein schönes und lehrreiches Beispiel für das ist, worüber wir heute Abend hier sprechen. Im Abstand von ungefähr 10 Jahren untersucht die Evangelische Kirche die Einstellungen Ihrer Kirchenmitglieder soziologisch. Es wird sie wenig verwundern, aber normale Kirchenmitglieder haben wir nicht gefunden! Es kann Sie nicht geben, ebenso wie es keine Unnormalen Kirchenmitglieder gibt. Vielmehr ist das Kirchenvolk ein buntes, ein sehr buntes. Zum Verstehen hilft, dass sich das Kirchenvolk soziologisch in Milieus einteilen lässt, um das Verständnis zu erleichtern, wer wann wessen bedarf und warum. Wer sich wo engagiert und warum. Diese Milieus in der EKD sind anhand der letzten Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung vor einigen Jahren definiert worden: Die „Kritischen“ verbinden ihr Engagement gern mit politischen Zielen, z.B. dem Kirchenasyl, die „Bodenständigen“ brauchen den Rahmen vertrauter Gemeinschaft, für die „Mobilen“ sind zeitlich klar begrenzte, erlebnisintensive Engagements attraktiv, die „Geselligen“ sind für Nachbarschaftshilfe ansprechbar, bei den „Zurückgezogenen“ muss erst das Misstrauen gegenüber großen Institutionen überwunden werden. Von Normalität keine Spur, zum Glück. Denn Kirche lebt genau in und von diesen Verschiedenheiten, die alle mit gleichem Recht Kirche bauen und Kirche sind. Nur in dieser bunten Gemeinschaft Gleichberechtigter, in der Teilhabe für alle gewährleistet ist, bildet sich Kirche ab – Kirche ist immer per se Inklusion, denn der Geist Gottes wirkt immer inklusiv. Soweit diese Milieus auch neuerdings auseinander gerückt sind, so groß die Heterogenität auch von Jahr zu Jahr wird, nur in dieser inklusiven Gemeinschaft sind wir Leib Christi. Sie gilt es, zu gestalten – eine große Aufgabe, und eine Pflichtaufgabe.

5. Europa

Diese Vision kann und wird nicht nur den Kirchen helfen, guten Zusammenhalt bei aller Unterschiedlichkeit zu gestalten, sie ist ein Schlüsselbegriff für das Gelingen der Vision von Verschiedenheiten, für die Generationen vor uns Krieg geführt haben. Es ist höchst spannend zu sehen, dass und wie Inklusion auf europäischer Ebene gelingen kann. Werfen wir –auch im Vorfeld der kurz bevorstehenden Europawahl – einen Blick auf die europäische politische Dimension der weiter gefassten Inklusionsidee.

Hierfür möchte ich zurückkehren zum Vormittag des 12. Oktober 2012, der Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. Diese Ehrung ist von großer symbolischer Bedeutung, würdigt sie doch die zentrale geschichtliche Bedeutung der EU als Friedensprojekt. Und zwar zu einem Zeitpunkt, in der es täglich um die Lösung der Schulden- und Finanzmarktkrise in der EU ging und darum, ob unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten der europäische Gedanke zukünftig überhaupt noch sinnvoll erscheint. Längst überwunden geglaubte Ressentiments begleiteten die Verschlechterung der Lebensumstände weiter Bevölkerungsteile durch nationale Sparanstrengungen, durch eine vertiefte Kluft zwischen Arm und Reich gewannen nationalistisch gesinnte Kräfte in der Wirtschaftskrise an Boden, der Gedanke der Solidarität geriet in den Hintergrund. Dass das Projekt einer europäischen gelichberechtigten politischen Teilhabe so vieler so verschiedener Menschen und Meinungen Bestand haben würde, schien nicht sicher zu sein.

500 Millionen Bürgerinnen und Bürger leben in der EU, in Frieden, in Freiheit, und die meisten, trotz der Krise in relativem Wohlstand. Für diese halbe Milliarde Menschen ein funktionierendes Gemeinwesen zu gestalten, das demokratisch ist, ist eine gewaltige Aufgabe. Sie kann nicht allein von den Institutionen, gewissermaßen Top-Down, geleistet werden, sondern die notwendige politische Debatte muss im Dialog mit den Bürgerinnen und Bürgern offen und transparent und regelmäßig geführt werden. Dazu müssen die bestehenden vertraglichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um die demokratische Legitimation europäischer Entscheidungen durch das Europäische Parlament zu stärken.

Die Krise hat gezeigt, wie rasch die Vision, die die Gründer Europas hatten, in Vergessenheit geraten kann: eine Gemeinschaft der Teilhabe, die sich gegenseitig stärkt, in einem Wirtschaftsraum, vor allem aber in einem Raum der Solidarität.

Wir erleben gegenwärtig ja täglich mit angehaltenem Atem, wie brüchig der Gemeinschaftsgedanke ist, wenn wir in die Ukraine sehen. Nicht die Kraft der Gemeinsamkeit, sondern die der Separation entfaltet ihre für europäische Augen kaum glaubhafte zerstörerische Gewalt. Noch zu Lebzeiten unserer Großväter war der Europäische Gedanke eine Vision von Träumern – heute ist das Friedensprojekt der Europäischen Union ein Beweis dafür, wie Separative Kräfte, die über Jahrhunderte verwurzelt schienen, überwunden werden können durch Vielfalt und Teilhabe, die von allen Seiten angestrebt werden muss

6. Teilhabe, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung

Ich komme zum Schluss. Inklusion, das ist heute Abend in Ihren Beiträgen mehr als deutlich geworden, meint: Alle Menschen sind verschieden, und alle Menschen sind gleichberechtigt. Inklusion ist eine Kunst. Sie ist eine theologische Selbstverständlichkeit und ein politisches Gebot. Erst dort, wo Teilhabe, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung gelten, ist die Menschenwürde gewahrt. Wir dürfen es klar benennen: Wo nicht Teilhabe, Gleichberechtigung und Selbstbestimmung herrschen, da ist dieser Zustand Diskriminierung zu nennen. Gelungene Inklusion aber herrscht dort, wo Menschen sich ihrer eigenen Würde bewusst sind, wo Wertschätzung und wechselseitige Achtung erlebt werden, wo ein wechselseitiges Miteinander erlebt wird. Inklusion in die Tat umzusetzen, sie mit Leben zu füllen, sie zu gestalten, dass unsere gemeinsame Aufgabe auf einem vermutlich langen Weg. Ich freue mich, dass wir einander dabei Wegbegleiter sein dürfen.