Eingangsstatement Konsultation Sozialinitiative

Heinrich Bedford-Strohm

Es gilt das gesprochene Wort!

Meine Damen und Herren,

ich begrüße Sie alle herzlich zu diesem Kongress. Wir wollen heute die zehn Thesen der ökumenischen Sozialinitiative diskutieren. Wir wollen uns aus den ganz unterschiedlichen Kontexten heraus, aus denen wir hierhergekommen sind, über die Stärken und die Defizite der zehn Thesen austauschen und damit zur Orientierung über die Frage beitragen, wohin unsere Gesellschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten eigentlich gehen soll.

Sowohl aus der Sicht der Gesellschaft insgesamt als auch aus der Sicht der Kirche sind Zusammenkünfte wie die heutige von zentraler Bedeutung.

Diskurse, wie wir sie heute führen wollen, sind aus der Sicht der Gesellschaft unverzichtbar. Eine Gesellschaft, die nicht mehr nach ihren grundlegenden Orientierungen fragt, wird blind. Faktisch wird sie nicht mehr vom Willen der Menschen geleitet, wie das für das Selbstverständnis einer Demokratie zentral ist, sondern sie wird bestimmt von Mächten, die sich der demokratischen Kontrolle entziehen. Wirtschaftliche Dynamiken gehören heute in einer global vernetzten Welt ganz bestimmt zu den wirkmächtigsten Kräften, die auf unsere Gesellschaft Einfluss nehmen, ohne hinreichend demokratisch kontrolliert zu sein.

Deswegen gehört es zu den größten Herausforderungen unserer Zeit, den Primat der Politik wiederzugewinnen. Und das heißt: auf der Basis eines öffentlichen Diskurses politische Richtungsentscheidungen zu treffen, die mehr sind als pragmatisches Durchmogeln von Wahl zu Wahl – Richtungsentscheidungen, die wirklich Ausdruck einer bewussten Rechenschaft über die Frage sind, wie wir leben wollen. Es tut einer Gesellschaft gut, wenn solche Richtungsentscheidungen Ausdruck der ethischen Grundorientierungen sind, die unsere Kultur prägen und die für die Selbstachtung unserer Kultur von zentraler Bedeutung sind.

Angesichts der zentralen Bedeutung, die die jüdisch-christliche Tradition für unsere Kultur spielt, braucht unsere Gesellschaft die Kirchen und ihre über so viele Jahrhunderte gewachsene Kompetenz zur Auslegung und Aktualisierung dieser Tradition.

Auch umgekehrt gibt es gute Gründe dafür, dass die Kirche diesen Dienst an der Gesellschaft nicht schuldig bleibt. Es kann keinen Zweifel darüber geben, dass zum Auftrag des Evangeliums auch die Beteiligung am öffentlichen Diskurs zu politischen Fragen gehört. Wie anders könnte die Kirche das Doppelgebot der Liebe ernst nehmen? Gott lieben und den Nächsten lieben – das gehört nach der Aussage Jesu untrennbar zusammen. Und wer sich von der Not des Nächsten anrühren lässt, kann gar nicht anders als alles zu tun, damit diese Not überwunden wird. Dass dabei auch politische Fragen eine Rolle spielen müssen, liegt auf der Hand. Dass die biblischen Propheten mit so leidenschaftlichen Worten einen Kult kritisiert haben, der die Gerechtigkeit zur Nebensache erklärt, ist eine klare Konsequenz dieser Einsicht. Öffentliche Theologie ist der Versuch, in öffentlich diskutierten Fragen von ethischer Relevanz aus der Sicht der christlichen Tradition Orientierung zu geben. Sie gehört zum „Kerngeschäft“ der Kirche. Es kann daher keine Frage sein, ob die Kirche zu politischen Fragen Stellung bezieht, sondern nur, wie sie es tut.

Diese Überzeugung leitet uns als Kirchen, wenn wir uns wie in den 10 Thesen der ökumenischen Sozialinitiative öffentlich zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland äußern. Dass diese Thesen so viel Interesse gefunden haben, ist nicht zuallererst wichtig, weil sich hier eine gesellschaftliche Großorganisation ihrer eigenen gesellschaftlichen Relevanz zu versichern hätte. Es ist vielmehr wichtig, weil es zeigt, dass diese Gesellschaft über die Grundlagen, von denen her sie lebt, nachzudenken bereit ist – und das ist ein Zeichen der Reife.

Dass es Nachdenkbedarf gibt, liegt nun allerdings auch auf der Hand. Und dass die aktuelle Politik weit davon entfernt ist, auf die damit verbundenen Herausforderungen eine hinreichende Antwort zu geben, ist für mich auch klar.

Ich nenne nur drei Fragen:

  1. Wie kann die zunehmende Ungleichheit in der Gesellschaft, auf die die Thesen der Sozialinitiative an mehreren Stellen hinweisen, überwunden werden? Wenn auf der einen Seite in den nächsten Jahren unvorstellbarer Reichtum von einer Generation an die nächste weitervererbt wird und auf der anderen Seite Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen schon jetzt ihre Altersarmut vor Augen haben, dann ist klar: Generationengerechtigkeit hat immer auch etwas mit Verteilungsgerechtigkeit zu tun.
  2. Wie kann unsere Wirtschaft ökologisch so grundlegend transformiert werden, dass auch Menschen in anderen Teilen der Welt und zukünftige Generationen einen fairen Anteil an den Ressourcen dieser Erde bekommen? „Umweltschutz auf der einen und Armutsbekämpfung sowie soziale Gerechtigkeit auf der anderen Seite bilden die Leitplanken für eine nachhaltige Wirtschaft. Deutschland und Europa müssen beim Aufbau einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft auf nationaler, europäischer und globaler Ebene eine Vorreiterrolle übernehmen.“ - so heißt es in den 10 Thesen der Sozialinitiative. Wie weit wir davon entfernt sind, zeigt ein bloßer Blick auf die internationale Verteilung der CO2-Emissionen: Der für die Erde gerade noch verträgliche CO2-Ausstoß pro Kopf pro Jahr beträgt 2 t. Tansania hat einen Pro-Kopf-Ausstoß von 0,2 t. In Deutschland sind es über 10 t, gegenwärtig fatalerweise wieder mit steigender Tendenz. Schon jetzt bekommen Menschen in anderen Teilen der Welt die desaströsen Folgen des Klimawandels zu spüren, ohne selbst irgendetwas zu seiner Verursachung beigetragen zu haben. Sie zahlen den Preis für unseren Lebensstil. Und wenn jetzt keine grundlegenden Veränderungen passieren, zahlen auch hierzulande die zukünftigen Generationen für unseren heutigen Lebensstil.

    Es widerspricht den Maßstäben ethischer Verantwortung, wenn die Energiewende in unserem Land heute mit Kostenargumenten gebremst wird. Die Kosten werden dadurch nicht vermindert, sondern sie werden verlagert. Wer heute dadurch einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen will, dass er die ökologischen Kosten in die Budgets zukünftiger Generationen hinein vertagt, verstößt gegen grundlegende Anforderungen der Generationengerechtigkeit. Hier muss die Politik überzeugendere Antworten geben.

  3. Wie kann das Weltwirtschaftssystem und insbesondere seine Finanzarchitektur so gestaltet werden, dass es nicht mehr Spielwiese für Profitmaximierung ohne Wertschöpfung sein kann, sondern wirklich den Menschen dient, allen voran den Schwächsten? „In nicht wenigen Teilen unserer Welt ist“ – sagen die Thesen der Sozialinitiative - ist es „immer noch so, dass wirtschaftliche Entwicklung und sozialer Fortschritt in bedrückender Weise auseinanderklaffen.“ In einer Welt, so füge ich hinzu, in der noch immer jeden Tag 25 000 Menschen sterben, weil die vorhandenen Ressourcen nicht richtig verteilt sind, muss die Armutsorientierung des Wirtschafts- und Finanzsystems zum zentralen Kriterium der Beurteilung seiner Effizienz werden. Von dieser Job-Beschreibung sind jedenfalls aus der Sicht christlicher Ethik keinerlei Abstriche zu machen!

Die Herausforderungen, die ich hier nur anhand von drei Fragen benannt habe, müssen noch viel intensiver diskutiert werden als das bisher der Fall ist. Und ich bin überzeugt davon, dass in den Thesen der ökumenischen Sozialinitiative eine gute Grundlage dafür steckt. Manche waren enttäuscht, weil das Wort nicht die aufrüttelnde prophetische Qualität hat, die von ihnen vielleicht erhofft worden war. Aber man sollte das Potential für grundlegende Neubestimmungen des politischen Diskurses, das in ihnen steckt, nicht unterschätzen. Dieses Potential zu nutzen, ist für mich eine wesentliche Zielbestimmung für die Diskussion um das Papier, die ja nun begonnen hat und immer mehr Fahrt aufnimmt und die hoffentlich durch diesen Kongress noch einmal einen besonderen Schub bekommt. Wir werden die Ergebnisse dieser Diskussion noch einmal ausdrücklich ökumenisch aufzunehmen haben, indem wir Rechenschaft darüber ablegen, wo die Diskussion unsere Wahrnehmung geschärft hat.

Zwei Stärken können wir in diesen Diskussionen als Kirche in der Zivilgesellschaft fruchtbar machen:

Wir sind erstens weltweit vernetzt und wollen die Perspektive unserer Schwestern und Brüder aus den lokalen Kontexten in anderen Teilen der Welt in unsere Diskussionen hier einbringen. Wenn wir deutsche oder europäische Debatten führen, tun wir das immer in universalem Horizont. Wir haben als weltweite Kirche immer auch die weltweiten Auswirkungen unseres Handelns hier in Deutschland im Blick.

Wir haben zweitens als Kirchen in unseren Reihen eine Fülle von Kompetenzen unterschiedlicher Akteure. Dass Glieder unserer Kirche an ganz unterschiedlichen Stellen Verantwortung in der Gesellschaft tragen, ist eine große Ressource. Es ist die besondere Chance einer nach wie vor volkskirchlichen Situation, dass so viele Menschen, die Verantwortung tragen, bereit sind, sich auf christliche Grundorientierungen einzulassen und sie in den Diskurs einzubeziehen. Das ermöglicht, ethische Grundorientierungen wie die biblische Option für die Armen und ein Höchstmaß an Sachkompetenz sinnvoll aufeinander zu beziehen und miteinander ins Gespräch zu bringen. Und es ermöglicht die “Zweisprachigkeit“, die wir als öffentliche Kirche in der Zivilgesellschaft brauchen. Denn wir sprechen sowohl die Sprache unserer christlichen Tradition mit ihrer biblischen Überlieferung als auch die Sprache des säkularen Diskurses, in der wir deutlich machen können, warum der Sachgehalt unserer ethischen Grundorientierungen für alle Menschen guten Willens plausibel zu machen und deswegen auch für öffentliche Diskussionen als fruchtbar zu erweisen ist.

Alles hat seine Zeit. Prophetisches Reden hat seine Zeit und pastorale Begleitung hat seine Zeit. Moralische Dramatisierung hat seine Zeit und diskursive Auseinandersetzung hat seine Zeit. Erschrecken hat seine Zeit und Zuversichtlich-Sein hat seine Zeit. Kritisieren von falschen politischen Entscheidungen hat seine Zeit und Unterstützen von richtigen politischen Entscheidungen hat seine Zeit.

Am heutigen Tag wird vielleicht für etwas von alledem Zeit sein. Ich danke Ihnen, auch im Namen von Kardinal Marx, dass Sie den Weg hierher gefunden haben. Ich danke Ihnen, dass Sie sich an den heutigen Diskussionen beteiligen wollen. Ich danke Ihnen, dass Sie mit uns zusammen „Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ übernehmen wollen.

Ich wünsche unserer Versammlung einen guten Verlauf und in allem Gottes Segen.