Predigt im Berliner Dom zur Eröffnung der Leichtathletik-Weltmeisterschaft (1. Korinther 9, 24-27)

Wolfgang Huber

Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde. (1. Korinther 9, 24-27)

Liebe Gemeinde,

„On your marks“ - -„get set“ - - „go!“ Diese drei kurzen, klaren und unmissverständlichen Ansagen, werden in den nächsten Tagen im Berliner Olympiastadion immer wieder von der blauen Tartanbahn aus zu hören sein. Der Schuss der Startpistole hat das „go!“ als letztes Signal allerdings schon längst übertönend abgelöst. Nichts ist lauter und durchdringender als dieser Schuss. Er geht durch Mark und Bein. Noch in der letzten Reihe des Oberrings ist er im Stadion zu vernehmen und erst recht auf der Bahn, wenn der Kamprichter direkt neben einem steht. Sein Impuls bringt mit aller Kraft den Körper des Athleten schnell in Bewegung. Hatte dieser sich vor einigen Minuten noch mit Lockerungsübungen in seinen eigenen Ritualen um den Startblock bewegt, um sich dann bei der Aufforderung „on your marks“ in den Startblock zu kauern, so ist schon bei dem Signal „get set“ die Spannung im Körper jedes Athleten zu sehen.

Mir selbst ist aus dem Sportunterricht in der Schule das Geräusch der Startklappe noch im Gehör. Sie krönte die Worte: „Auf die Plätze!“, „Fertig!“ „Los!“ und entfesselte bei uns schon damals die aufgestaute Energie der Jugend, die sich dann auf den folgenden 100 oder 200 Metern in achtbarer Geschwindigkeit entlud.

All diese Impulse, all diese Signale haben nur ein Ziel, dass jeder von denen, die dort starten, die gleichen Startbedingungen hat. Die Art des Starts dient dem schnellst möglichen Erreichen des Zieles. Und so schießt denn auch der Athlet beim letzten Startsignal aus dem Startblock. Aber erst auf den  folgenden Metern zeigt sich wirklich, wer sich auf den Lauf in professioneller Weise vorbereitet hat oder wer in Schönheit oder Schmerz auf der Strecke bleibt.

Natürlich: Jeder, der zu dieser WM angereist ist, hat eine lange Trainingsphase hinter sich. Jeder, der hier in Berlin an den Start geht, hat über Jahre hinaus sich seiner Disziplin verschrieben, ist in seinem Sport gewachsen, hat sich Stück um Stück durch ausgeklügelte Trainingsmethoden und Ernährungsprogramme fit gemacht. Ohne eine solche intensive Vorbereitung ist eine Spitzenleistung nicht denkbar. Und jeder, egal zu welcher Zeit er Leistungssport getrieben hat, musste für den Sieg gegen sich selbst als erstes kämpfen. Bevor nur ein Gegner auftritt, ist die eigene Trägheit, die eigene Schwäche zu überwinden. Der Kampf gegen sich selbst, ist die beste Voraussetzung den Kampf auch gegen andere zu gewinnen.

Schon der Apostel Paulus wusste dies, wenn er der Gemeinde in Korinth schreibt:„Wisst ihr nicht, dass die, die in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis? Lauft so, dass ihr ihn erlangt. Jeder aber, der kämpft, enthält sich aller Dinge; jene nun, damit sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen. Ich aber laufe nicht wie aufs Ungewisse; ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht andern predige und selbst verwerflich werde.“

Sportlich war der Apostel Paulus nach allem, was wir wissen, nicht. Als unansehnlich galt er. Klein und untersetzt war er von Gestalt, von Krankheit gezeichnet, so wird er geschildert – und so schildert er sich selbst. Dass der Apostel Sport getrieben hat, halte ich, wenn Sie mir den Vergleich gestatten, für genauso unwahrscheinlich wie im Fall von Winston Churchill, von dem kein Zitat berühmter geworden ist als sein unnachahmliches: No sports.

Aber offenbar interessierte Paulus sich für den Sport seiner Zeit. Und in wenigen Strichen konnte er ihn genau schildern. Zwei Sportarten stellt er uns vor Augen: den Wettlauf und den Faustkampf. Denn Wettlauf muss man sich als einen Lauf über knapp zweihundert Meter vorstellen. Im antiken Olympia umfasste das Stadion eine Laufstrecke von 186 Metern. Viele schauen zu. Genau wie heute. Sie achten auf die Schönheit der Läufer genauso wie auf ihre Schnelligkeit. Nicht nur gut soll der Sieger sein, sondern auch schön. Für beides erhält er dann den Siegerkranz. Der mag anschließend wieder verwelken; im Augenblick des Sieges ist er zeitlos schön.

Schon Paulus also wusste, dass der Wettkampf selbst im Vergleich zur Länge der Vorbereitung verschwindend kurz ist. Über 100 Meter brauchen die schnellsten Läufer der Welt weniger als 10 Sekunden. Nur wer darin mehr sieht als den Erfolg des Augenblicks, kann diese Art von Schinderei auf sich nehmen. Enthaltsamkeit nennt der Apostel Paulus diese Art von Schinderei. Das war noch in Zeiten, in denen man seine Leistungsfähigkeit allein durch Askese stählte; von Doping war noch keine Rede.

Keinen Zweifel lässt er daran, was er mit dieser Askese meint. Wer siegen will, „enthält sich aller Dinge“. Dass der Apostel dabei nicht nur Essen und Trinken eingeschlossen sehen will, ist klar. Enthaltsamkeit gilt ihm als Weg zum sportlichen Erfolg.

Sportlerinnen und Sportler sind heute öffentliche Personen. Ihr Ruhm gehört zum begehrtesten, was unsere Mediengesellschaft zu vergeben hat. Aber dieser Ruhm ist vergänglich. Diese Diagnose des Paulus trifft auch heute noch zu: Jene erhalten einen vergänglichen Kranz, wir aber einen unvergänglichen.

 Gibt es das überhaupt, einen unvergänglichen Siegerkranz? Lohnt es sich, über den vergänglichen Ruhm hinaus zu denken, der nun einmal das höchste ist, was Menschen aus eigener Kraft erlangen können?

Es gibt einen solchen Kranz: Er ist nicht das Kennzeichen für einen vergänglichen Ruhm, sondern für eine unverlierbare Würde. Er verdankt sich nicht unserer menschlichen Kraft, sondern der Güte Gottes. Er ist nicht einem einzigen vorbehalten, sondern wird uns allen angeboten. Wer diesen Siegerkranz erhält, braucht dafür keinen andern auf einen zweiten Platz zu verweisen. Dieser Siegerkranz wird reichlich vergeben. In der Taufe ist er uns bereits verliehen worden.

In vielen unserer brandenburgischen Dorfkirchen findet sich ein besonderes Ausstattungsstück: ein Taufengel. An einem Seil hängt er von der Decke herab, schwebend hält er die Taufschale. Wenn eine Taufe ansteht, kann man ihn hinunterziehen, das Taufwasser in die Schale geben und die Taufe vollziehen. Wird er nicht gebraucht, so schiebt man ihn wieder in die Höhe; der Platz in der eng bemessenen Dorfkirche ist wieder frei. Ein austariertes Gegengewicht sorgt dafür, dass der Engel in jeder gewünschten Höhe schwebt.

Manche dieser Engel aber halten nicht nur die Taufschale in der einen Hand. In der anderen Hand halten sie einen Siegerkranz. Ich habe mich schon immer gefragt, woher diese Verbindung von Taufschale und Siegerkranz stammt. Dabei ist die Antwort doch so einfach. Sie stammt von Paulus. Jene empfangen einen vergänglichen Kranz, wir aber einen unvergänglichen.

Dass uns in der Taufe dieser Siegerkranz verheißen ist, macht das Laufen, das Kämpfen, das Trainieren, die Enthaltsamkeit nicht überflüssig. Aber der Unterschied ist klar. Noch einmal mit Paulus gesprochen: Ich aber laufe nicht ins Ungewisse, ich kämpfe mit der Faust, nicht wie einer, der in die Luft schlägt, sondern ich bezwinge meinen Leib und zähme ihn, damit ich nicht anderen predige und selbst verwerflich werde.

Gottes Gnade verdanken wir die Würde unseres Lebens. Wir halten uns an einen Siegerpreis, den wir nie selbst erringen können. Deshalb bestimmt Dankbarkeit unser Leben. Aber auch Dankbarkeit hat ihre Folgen. Es gibt auch eine Disziplin des Glaubens.

Wir brauchen Formen, in denen wir uns bewusst halten, was uns trägt – im Leben und auch im Sterben. Auch das Leben im Glauben braucht Trainingseinheiten, Zeiten der Besinnung und der Selbstprüfung, Zeiten der Freude und des Glücks, Zeiten der Liebe und der Hingabe an Menschen, die uns brauchen. Wer die Einheit mit Gott erleben will, braucht Zeiten, in denen er sich für Gott öffnet.

Und deswegen ist es gut und richtig, dass wir als Kirchen bei dieser Leichtathletikweltmeisterschaft klare christliche Akzente setzen. Wir öffnen Räume für Gott. Es ist notwendig, dass Sportlerinnen und Sportler in den Sportlerhotels und im Stadion die Möglichkeiten erhalten sich im Gebet an Gott zu wenden und sich im Gespräch im Glauben auszutauschen.

Wir haben oasis of silence eingerichtet, in denen sich chaplains aus vielen Nationen als Ansprechpartner zur Verfügung stellen. Im Stadion steht unsere Kapelle den Athleten, Trainern, Funktionären, Journalisten und vielen anderen offen. Hier kann die Freude über den Sieg dankbar vor Gott gebracht werden und die Enttäuschung bei Niederlagen.

Wer die Dimension des Glaubens aus dem Spitzensport heraushalten will, hat von der Ganzheitlichkeit menschlicher Existenz nichts verstanden. Die Leichtathletikweltmeisterschaft ist nicht nur eine internationale Leistungsshow der besten Leichtathleten der Welt. Nein, eine solche Weltmeisterschaft gibt auch Raum zur Begegnung.

Sportliche Großveranstaltungen haben schon immer die Kommunikation zwischen den Völkern vorangebracht und haben internationale Beziehungen gefestigt. Hier begegnen sich Menschen mit unterschiedlichen Einstellungen, Religionen, Herkünften, Sitten und Bräuchen. Sie teilen sich gegenseitig mit und helfen dazu, dass das gegenseitige Verstehen wächst. Auch diese Weltmeisterschaft birgt in sich die Chance Mauern zwischen Menschen einzureißen.  Mir ist dieser Gedanke heute besonders wichtig.

Heute vor 48 Jahren wurde die Berliner Mauer gebaut. Schießbefehl und Stacheldraht waren jahrzehntelang innerdeutsche Realität. Am 13. August 1961 wurden Familien, Freunde und auch Sportlerinnen und Sportler getrennt, die vorher in einem Verein zusammen ihren Sport trieben. Häuser und auch Kirchen wurden gesprengt, um den Todesstreifen zwischen Ost und West zu zementieren. Menschliche Begegnung und Kommunikation des Lebens sollte verhindert werden. Aber das Leben bricht sich Bahn.

Es kommt uns noch heute wie ein Wunder vor, dass vor 20 Jahren die Berliner Mauer fiel. Kerzen und Gebete halfen, dass dies möglich wurde. Fremde Menschen lagen sich in den Armen und weinten vor Glück. Die Kraft des Glaubens wurde sichtbar.

Wir wissen aber auch, dass immer wieder Situationen entstehen können, in denen neue Mauern errichtet werden. Hass und Neid, Missgunst und Habgier errichten Mauern zwischen Menschen. Und im Sport errichten unfaires Verhalten und Doping Mauern des Unverständnisses.

Wir alle haben täglich auch bei dieser Leichtathletikweltmeisterschaft die Aufgabe darauf zu achten, dass das Fallen von Mauern möglich wird und wir nicht zum Grunde dafür werden, dass Mauern neu errichtet werden. Dafür, dass dies auch bei dieser Leichtathletikweltmeisterschaft geschieht beten wir und erbitten wir Gottes Segen!

Und weil Gott seinen Segen auf diese Begegnung legt, ist auch alles fertig und bereit. Die Weltmeisterschaft kann beginnen. Für uns und alle Beteiligten kann dies nur heißen: „On your marks“ - - „get set“ - -„go!“

Amen