Rat der EKD veröffentlicht Bildungsdenkschrift

Wissensgesellschaft: "Mündigkeit braucht lebendiges Wertbewusstsein"

"Wissen braucht ein menschliches Maß. Lernen darf nicht zum Selbstzweck werden," so der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Präses Manfred Kock, in seinem Vorwort zu der Denkschrift "Maße des Menschlichen - Evangelische Perspektiven zur Bildung in der Wissens- und Lerngesellschaft". Der Text ist von der Kammer der EKD für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend unter dem Vorsitz von Professor Karl Ernst Nipkow, Religionspädagoge aus Tübingen, erarbeitet worden. Der Rat der EKD veröffentlicht ihn am Donnerstag, 13. Februar.

"Mehr Wissen bedeutet nicht automatisch mehr Orientierung,“ so der Ratsvorsitzende in seinem Vorwort der Denkschrift. Es gehe nicht allein darum, über Wissen zu verfügen, sondern vor allem darum, es richtig zu verarbeiten und anzuwenden. Wissen brauche ein menschliches Maß und dürfe nicht zum Selbstzweck werden. Das erfordere auch moralisch-ethische Maßstäbe zur Beurteilung des Wissens. "Bildung ist mehr als Wissen und Lernen. Sie fragt nach dem Selbstverständnis und dem Weltverständnis des Menschen. Die religiöse Dimension darf darin nicht ausgeblendet werden."

Die Kirche wolle vernachlässigte Bildungsaufgaben thematisieren und mit der „Klärung des Bildungsverständnisses zur Vertiefung der gegenwärtigen Diskussion beitragen", heißt es in der Einleitung. Sie frage daher nach den "Maßstäben, an denen Bildung in ihrer humanen Qualität zu messen ist. Welche Bildung eine Wissens- und Lerngesellschaft wirklich braucht, versteht sich viel weniger von selbst, als dies in den heutigen Diskussionen und Verlautbarungen zu Bildungsfragen erkennbar wird." Mit Blick auf Leistungsanforderungen und Chancengerechtigkeit beziehe sich die Denkschrift auch auf die Ergebnisse aktueller Studien wie PISA 2000.

In ihrem Bemühen um ein zukunftsfähiges Bildungsverständnis verfolge die Kirche zum einen die Frage nach den Voraussetzungen, so die EKD. Diese stünden in Zusammenhang mit dem Verständnis von Kultur und Gesellschaft, mit der Auffassung von Zukunft, mit der Bedeutung von Bildung in einer pluralen Welt, mit der Frage, was Bildung leisten solle und was nicht. Zum anderen liege ein Bildungsverständnis zugrunde, das sich an den individuellen Biographien von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen orientiert. Mit dieser Sicht unterstreiche die evangelische Kirche die "Leistungs- und Partizipationsanforderungen des Gemeinwesens und die persönliche Verantwortung".

Das Konzept eines „bildenden Lernens“ käme den Maßstäben der PISA-Untersuchungen am nächsten. Es müsse eine „Grundbildung“ sichern und zu einem „mehrdimensionalen geistesgegenwärtigen Problembewusstsein und zu Handlungsfähigkeit" befähigen. Die Studie ergänze diese Maßstäbe für eine mehrdimensionale Bildung um weitere Kriterien, etwa die ethische, sozial oder religiöse Bildung. „Alle diese Aspekte machen zusammen eine zeitgemäße allgemeine Bildung aus.“ Bildendes Lernen brauche außerdem "hoch professionelles Lehren, das ohne in eintöniges Belehren zu verfallen nachhaltiges Lernen ermöglicht.“

Dieses Bildungsverständnis beinhalte ein vielschichtiges Bild von Leistung. „Der herkömmliche Leistungsbegriff orientiert sich an Noten und Bildungsabschlüssen. Er gerät immer wieder in Gefahr, den personalen Grund und sozialen Zusammenhang menschlicher Tätigkeit zu vernachlässigen.“ Phantasie, Verantwortungsgefühl, moralische und soziale Empfindsamkeit seien menschlich wertvolle und gesellschaftlich sowie ökonomisch wichtige Fähigkeiten. Bildung betreffe wesentlich auch die persönliche, seelische Innenseite. Die vom gegenwärtigen Beschäftigungssystem geforderte Selbstverantwortlichkeit setze Ich-Identität und Selbstwertgefühl voraus.

Mit dem Akzent auf der Bildung der Person folge die Kirche einem umfassenderen Verständnis „lebenslangen Lernens“, als mit besagter Formel in der Regel gemeint. "Wenn Mündigkeit das Leitziel bleiben solle, gewinnt gerade in der Wissensgesellschaft ein lebendiges Wertbewusstein an Bedeutung". Die zukünftige Gesellschaft müsse an ihre Mitglieder und die Heranwachsenden erhebliche Leistungsanforderungen stellen. Neben verbesserter Unterrichtsqualität seien Abbau sozialer Schranken und Stärkung der Eltern und Familien erforderlich. Bei aller Zweck- und Zeitoptimierung müsse Raum für die Reflexion über das Woher und Wohin bleiben. „Ohne diese substantiellen Fragen gibt es keine Entwicklung zur Selbständigkeit, zum qualitätsvollen Umgang mit Sachen und Menschen und zum sinnvollen Gebrauch neuer Kommunikationstechniken.“

In der heutigen Gesellschaft scheine alles lernbar, alles möglich. „Wenn die das eigene Selbst umgreifende transzendente Lebensperspektive verloren geht, hängt alles von einem selber ab. An dieser Stelle wird die Frage nach Maßen und Maßstäben zu einer dringlichen Frage nach dem Beitrag der Religionen.“ Als lebendiger Teil der Gesellschaft und in der Rolle als Arbeitgeber trage die Kirche in diesen Fragen öffentliche Mitverantwortung.

„Die evangelische Kirche versteht Bildung als Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens.“ Hauptzweck aller Bildung sei die Entwicklung der Person. Beim Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen stellten sich automatisch anthropologische Fragen, etwa die Fragen nach Leben und Tod. Diese besäßen zumindest potentiell religiöse Bedeutung. „Eine Bildung, die Kindern und Jugendlichen gerecht werden will, kann auf diese Dimension grundsätzlich nicht verzichten.“ Gerade auch die multikulturelle Gesellschaft brauche den ethisch-religiösen Diskurs. Transzendenz sei eine Zukunftsherausforderung, weil das Leben und Überleben von Menschen auf Grenzen angewiesen bliebe, die nur um den Preis der Menschlichkeit vergessen oder verletzt werden dürften. „Unter diesem Blickwinkel ist die Frage nach Gott geradezu als Schlüssel zukunftsfähiger Bildung anzusprechen – nicht so, dass es zum Gottesglauben bildungstheoretisch keine Alternativen gäbe, wohl aber so, dass die mit der Gottesfrage verbundenen Fragen bildungstheoretisch unausweichlich sind.“

Hannover, 13. Februar 2003

Pressestelle der EKD
Anita Hartmann

Auszugsweise Kapitel der Denkschrift