"Bildung zur Gerechtigkeit - Erträge und Erwartungen" - Vortrag bei der Festveranstaltung des Comenius-Instituts in der Friedrichstadtkirche

Wolfgang Huber

I.

An einem für den gesellschaftlichen Diskurs hervorgehobenen Ort veranstaltet das Comenius-Institut anlässlich seines fünfzigjährigen Bestehens eine Tagung und einen Empfang. In dieser Kombination von Empfang und Tagung zeigt sich das Selbstverständnis dieser „Evangelischen Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft“. Das Comenius-Institut feiert sich und seine Geschichte, indem es arbeitet. Es lässt sich herausfordern durch das offenkundige Gerechtigkeitsdefizit in unserer Gesellschaft. Als Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft reagiert das Institut auf den durch empirische Bildungsforschung wissenschaftlich belegten Sachverhalt, dass Bildungserfolg in Deutschland stärker als in vielen anderen Ländern an die soziale und ethnische Herkunft gekoppelt ist.

Der enge Zusammenhang zwischen guter Bildung und Berufschancen und der ebenso enge Zusammenhang zwischen Berufstätigkeit und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben macht das Bildungsthema nicht nur für die Gesellschaft, sondern in einer spezifischen Weise auch für die Kirche brisant. Denn es rührt an die für eine christliche Kirche grundlegende Überzeugung von der gleichen Würde und Freiheit der Menschen, mit der die Forderung an einen gleichen Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe unlöslich verknüpft ist. Wenn es das erklärte Ziel gegenwärtiger Reformpolitik ist, das Leben der Menschen sicherer und ihre Zuversicht für die eigene und die gemeinsame Zukunft stärker zu machen, dann müssen die anzustrebenden Reformen Bildung ermöglichen und den Zugang zu Arbeit eröffnen.

Im Gegensatz zu manchen Tendenzen, den sozialen Charakter unseres Gemeinwesens zurückzunehmen, geht es der evangelischen Kirche darum, die Verpflichtung auf soziale Gerechtigkeit zu erneuern. Gleichgültigkeit gegenüber ungerechten Lebensverhältnissen ist mit dem christlichen Glauben unvereinbar und beschädigt die Identität der Kirche. Insofern nimmt das Comenius-Institut mit der Wahl des Themas „Bildung zur Gerechtigkeit“ einen originären Auftrag wahr im Rahmen der Bildungsverantwortung der Evangelischen Kirche.

II.

In der gegenwärtigen Bildungsdebatte ist die evangelische Kirche in mehrfacher Hinsicht herausgefordert. Dass Bildung für den Protestantismus zu den konstitutiven Aufgaben gehört, können wir von Martin Luther und Philipp Melanchthon lernen - und nicht nur von ihnen. Die Gründung öffentlicher Schulen, um nur dies zu nennen, verdankt sich dem ausdrücklichen Ja zur Freisetzung des Subjekts zur Verantwortung aus dem Geist des Evangeliums.

Eine Bestätigung für diesen  Zusammenhang von Protestantismus und Bildung erhalten wir heute beispielsweise aus den verschiedenen Kirchen-Mitgliedschafts-Studien. In ihnen werden wir allerdings zugleich mit einem spezifischen „Bildungsdilemma“ der Kirche konfrontiert, das sich darin zeigt, dass Menschen mit formal höherer Bildung in überproportionalem Umfang die Kirche verlassen. Deutlich zeigt sich der Zusammenhang von Kirche und Bildung auch in bereichsspezifischen Studien wie der zur „Religion der ReligionslehrerInnen“ aus dem Jahre 2000.

Bildung und christliche Religion sind gerade im evangelischen Verständnis untrennbar miteinander verbunden: Das Subjekt bildet sich in der Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion, durch Deutung und Selbstdeutung. Die Freiheit der Stellungnahme zu sich selbst und zur Welt ist Bedingung der Möglichkeit, Verantwortung für sich und die Welt zu übernehmen. Der Glaube ist dadurch, dass er als ein Geschenk der göttlichen Gnade verstanden wird, aus diesem Prozess der Deutung und Selbstdeutung nicht ausgeschlossen; vielmehr ist auch er Gegenstand verantwortlicher Stellungnahme; biblisch wird in diesem Zusammenhang ausdrücklich zur „Rechenschaft von der Hoffnung“ aufgefordert, „die in uns ist“.

Aber nicht nur dadurch, dass für die evangelische Kirche auf der Grundlage ihres Glaubens- und Kirchenverständnisses Bildung von der Reformationszeit an ein zentrales Thema ist, sind wir heute herausgefordert. Sondern neben der Mitverantwortung für das Bildungswesen, z.B. im Religionsunterricht, erfordert es auch die große Zahl der von der Kirche getragenen Bildungseinrichtungen zwingend, in die gegenwärtige Diskussion klärend und vertiefend einzugreifen - und die eigene Position darzulegen. Nicht zu übersehen ist nämlich, dass in der aktuellen Bildungsdiskussion den spezifischen Themen evangelischer Bildungsverantwortung oft nur eine marginale Bedeutung zuerkannt wird. Die Fragen nach der religiösen und ethischen Bildung, nach Orientierungswissen für die Gestaltung des individuellen und gesellschaftlichen Lebens, nach Glaubenswissen als der Grundlage für die Wahrnehmung Gottes, der Welt und seiner selbst werden zu selten gestellt.

Darum ist es zu begrüßen, dass das Comenius-Institut sowohl mit der Wahl des Ortes als auch mit der Wahl des Themas eine Tradition weiterführt. Im November 2000 nämlich veranstalteten die evangelische und die katholische Kirche hier in der Französischen Friedrichstadtkirche den ersten gemeinsamen Bildungskongress. Die Absicht einer bildungspolitischen Konkretisierung des gemeinsamen Sozialworts von 1997 war unübersehbar. Und im Mai dieses Jahres haben wir diese Bemühungen durch einen Bildungskongress der Evangelischen Kirche in Deutschland hier am selben Ort fortgesetzt.

In ihrem Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage hatten sich die Kirchen "für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" stark gemacht. Darin wird das "Recht auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben" als ein Menschenrecht definiert. Zum Abbau der Arbeitslosigkeit wird eine Verbesserung des Ausbildungssystems angemahnt. Ausgaben für Bildung und Ausbildung, heißt es im gemeinsamen Wort, sind Investitionen in die Zukunft der Gesellschaft.

Für die Konzentration auf die berufsorientierten Bildungsabschlüsse gab und gibt es eine Reihe guter Gründe. Es ist vor allem der zunehmend raschere Wandel unseres Gesellschafts- und speziell unseres Wirtschaftssystems, der den Anlass für die Frage gibt, welche Bildung wir gegenwärtig und in Zukunft benötigen. Die Arbeitswelt wandelt sich rapide. Die Globalisierung trägt zu einem hohen Maß struktureller Arbeitslosigkeit bei. Für eine Denkweise, die auf Erhöhung des Profits durch Senkung der Arbeitskosten – und das heißt: durch Freisetzung von Arbeitskräften – setzt, erleben wir in Deutschland gerade wieder dramatische Beispiele. Die Wirtschaft meldet zugleich ihren Bedarf an flexiblen und gleichzeitig hochspezialisierten Fachkräften an. Seinerzeit, im Jahr 2000, setzte der Bildungskongress der Kirchen, der in engem Zusammenhang mit dem von Bund und Ländern veranstalteten forum Bildung stand, deutliche und eigene Akzente. Gegen die offensichtliche Ökonomisierung der Bildungsdiskussion stellten die Kirchen ein ganzheitliches Bildungskonzept.

Das gemeinsame Eintreten der Kirchen „für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ war zu erneuern. Das Tempo der wirtschaftlichen Entwicklung hatte sich weiter gesteigert. Das Internet zum Beispiel war im Wort der Kirchen noch kein Stichwort. In kürzester Zeit aber ist es ein Mittel und gleichzeitig ein Symbol der Globalisierung und der Beschleunigung geworden. Unter dem Vorzeichen der Beschleunigung stellte sich für den Bildungskongress im November 2000 die Frage nach der Chancengerechtigkeit auf eine ganz neue Weise.

„Tempi, Bildung im Zeitalter der Beschleunigung“, so der vollständige Titel des damaligen Kongresses, führte das Signalwort bewusst im Plural. „Tempi“, der Plural steht nach wie vor für die Anerkennung von Pluralität. Es geht dabei um eine Pluralität der Ausgangslagen, der Entwicklungsphasen und der Entwicklungsmöglichkeiten. Aus christlicher Sicht hat das Denken in Kategorien des individualisierten Wettbewerbs besonders dort seine Grenzen, wo es um das Schicksal der Schwachen geht. Es ist Aufgabe der Gesellschaft, Bildungsinstitutionen zu schaffen, die individuelle Lernwege und -zeiten ermöglichen, und kulturelle Milieus zu gestalten, in denen Bildung erworben und erprobt werden kann. An dieser Bildungsverantwortung haben die Kirchen teil.

Wie das Bildungshandeln der Kirche insgesamt, so ist das Programm einer evangelischen Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft an einer Vorstellung von einem politischen Gemeinwesen zu orientieren, das sich auf die kurze Formel bringen lässt: Die Stärke des Staates bemisst sich am Wohl der Schwachen. Es folgt aus der Option der Kirche für jene, die bedroht sind, an den Rand gedrängt zu werden, dass sie Stellung nimmt und ihnen Sprache verleiht, z. B. im Interesse von „Jugendlichen mit schlechteren Startchancen“ oder mit dem Interesse einer stärkeren Beachtung der Kindertagesstätten. Beides ist in jüngster Zeit geschehen.

Ganzheitlichkeit des Bildungsansatzes muss sich zum einen also darin bewähren, dass die Lebenslagen und die Lebensläufe, in die hinein Bildungsanstrengungen vermittelt werden, in den Blick genommen werden. Diese Ganzheitlichkeit muss sich aber auch darin bewähren, dass einer Reduzierung des Bildungsbegriffs auf die Vermittlung von Verfügungswissen gewehrt und die gleichrangige Bedeutung von Orientierungswissen wie auch von Glaubenswissen ausdrücklich anerkannt wird. Diesen Aspekt haben wir vor allem im Bildungskongress der EKD im Mai 2004 hervorgehoben. Dankbar haben wir in diesen Zusammenhängen davon Gebrauch gemacht, dass in den Stellungnahmen der Bildungskammer der EKD aus dem letzten Jahrzehnt – unter maßgeblichem Einfluss von Arbeiten aus dem Comenius-Institut – ein zusammenhängendes und zusammenstimmendes evangelisches Bildungsverständnis entwickelt worden ist, das auch politisch zur Wirksamkeit zu bringen aller Mühe wert ist.

III.

Als Erziehungswissenschaftliche Arbeitsstätte der evangelischen Kirche hat das Comenius-Institut die Aufgabe, Lösungen zu suchen für die unterschiedlichen Felder kirchlicher Bildungsverantwortung. Diese Verantwortung ist bezogen auf konkrete Lebenslagen. Seinem Anspruch folgend, Zeitgenossenschaft einzulösen, veränderten sich mit den Lebenslagen der Menschen auch die Aufgaben des Instituts. In seiner Geschichte zeigt sich das Comenius-Institut als ein wandlungsbereit und entwicklungsfähig. Die für das Institut programmatische Orientierung an den konkreten Lebenslagen bewahrt vor  einer Loslösung vom Menschen und vor einem Abwandern in einen menschenfernen Bereich von Wissenschaftlichkeit.

Dabei wechselte der Fokus des Arbeitsprogramms. Die Orientierung der Ziele am christlichen Menschenbild erwies sich als Schutz gegen Erstarrung. Die Veränderung der Rahmenbedingungen und eine Beschneidung seiner Ressourcen blieben auch dem Comenius Institut nicht erspart. Seine inhaltliche und strukturelle Anpassungsfähigkeit war eine wichtige Voraussetzung für Lebens- und Zukunftsfähigkeit. So wie ich unlängst in einem anderen Zusammenhang von einer „atmenden Reform“ gesprochen habe, mag man deshalb dieses Institut in seiner Zukunfts- und Lebensfähigkeit als ein „atmendes Institut“ bezeichnen. Seine Arbeit wird daran gemessen, ob sie den Menschen dient und beiträgt zu einem erkennbaren und nachvollziehbaren Gewinn an Orientierungssicherheit und Freiheitschancen. Denn dies ist unbestreitbar, dass ein enger Zusammenhang besteht zwischen Bildung und Freiheit. Bildung kann die Menschen befähigen, von ihrer Freiheit eigenständig Gebrauch zu machen.

Bildung meint den Zusammenhang von Wissen, Können, Wertbewusstsein, Haltung, Handlungsfähigkeit und Sinn. Es ist eine Verkürzung, wenn derzeit Bildung als Additionsverfahren verstanden wird. An kognitive Leistungen soll der Erwerb sozialer Kompetenzen und die Erschließung von Wertbewusstsein angehängt werden. Hingegen braucht unsere Zeit ein integrierendes Verständnis von Bildung und Erziehung (Maße des Menschlichen S. 70f.). Bildung als Integrationsprozess muss Sachwissen und Selbstwissen, Qualifikationswissen und Orientierungswissen, ästhetische Wahrnehmung, Intuition und Phantasie, die Fähigkeit zum Umgang mit technischen Mitteln, aber auch Glaubenswissen und religiöse Urteilsfähigkeit miteinander verschränken.

Evangelisches Bildungsverständnis versteht den Menschen als ein Beziehungswesen. Gerade um dieser Beziehungen willen darf Bildung nicht auf das äußere Erlernen der Beherrschung von Mitteln beschränkt werden. Zu ihr gehört zugleich die Einübung in diese Beziehungen:

- eine Erziehung zur Wahrheit und damit zur Offenheit für die Gottesfrage,

- eine Erziehung zu Gerechtigkeit und Erbarmen und damit zu einer Kultur der Anerkennung im Miteinander der Menschen,

- eine Bildung für eine offene Zukunft, zu der die Sensibilität für die Bewahrung der Natur und für die Lebenschancen einer nächsten Generation gehört,

- und schließlich eine Bildung zur Kultur, nämlich zu einer perspektivenreichen Selbstthematisierung, die Ausbildung einer eigenen Identität mit einer respektvollen Wahrnehmung des Fremden verbindet.

Was die EKD seit der Gründung des Comenius-Instituts an dieses Institut gegeben und für die Arbeit investiert hat, ließe sich präzise anhand von Haushaltsdaten nachrechnen. Interessanter als solche Zahlen ist sicher, was als Ertrag der Arbeit gelten kann. Am wichtigsten aber ist, welche Bedeutung diese Arbeit für die Landeskirchen hat, für die EKD  - ja für den Protestantismus in Deutschland.

Ein Institut, das als „evangelische Arbeitsstätte für Erziehungswissenschaft“ seit nunmehr 50 Jahren theoretisch, praktisch, empirisch und politisch „Bildung“ bearbeitet, ergründet, erforscht, muss konkret etwas zu den zentralen Bildungsaufgaben des Protestantismus beitragen. Es wären zahlreiche Beispiele aus der zurückliegenden Arbeit des Comenius-Instituts zu nennen, an denen dies anschaulich wird. Ich beschränke mich auf einige Beispiele aus der Institutsarbeit, die unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit besondere Bedeutung haben, und will daran auch weiterreichende Erwartungen an die künftige Arbeit des Comenius-Instituts anknüpfen.

1. Das „religionspädagogische Förderprogramm für den Kindergarten“ war in den siebziger Jahren ein Projekt, das in enger Kooperation mit Diakonischen Werken und Verbänden den akademischen Diskurs über Bildungsfragen auf ein praktisches Handlungsfeld bezog. Es machte bereits damals Vorschläge für das Lernen und Erziehen im Elementarbereich. Das geschah parallel zum Projekt des Deutschen Jugendinstituts zum „Situationsansatz“ im Kindergarten – ein Versuch bereits vor dreißig Jahren, die Bildungsqualität im Kindergarten zu verbessern und allen Kindern frühzeitig Entwicklungs- und Lernchancen zu geben.

Seit IGLU und PISA ist wieder deutlicher geworden, wie wichtig die frühe Förderung von Kindern in Kindertagesstätten ist und wie sehr sie der Integration von benachteiligten Kindern dienen kann. Erst kürzlich wurden in einem neuen Projekt, zusammen mit Erzieherinnen in Kindertagesstätten exemplarische Lernarrangements entwickelt, die den Bildungsanspruch „von den Kindern her“ entfalten und das Kind als Akteur seines Lernens in den Mittelpunkt stellen. Das geschieht nicht als Programmatik oder Versprechen, sondern mit konkreten Erfahrungsberichten, Beispielen und didaktischen Anregungen.

2. Die Bildung und religiöse Erziehung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Behinderungen wird kontinuierlich in Veranstaltungen und Projekten des Comenius-Instituts thematisiert, die gemeinsam mit anderen durchgeführt werden. So ist das „Würzburger Symposion“ inzwischen zu einem regelmäßigen „Forum für Heil- und Religionspädagogik“ geworden. Die Erträge sind inzwischen in einem „Handbuch Integrative Religionspädagogik“ zusammengefasst. Es dokumentiert nicht nur Entwicklungsstände, sondern setzt auch Maßstäbe für künftiges bildungspolitisches, wissenschaftliches und religionspädagogisches Handeln. Integration ist ein zentrales Element der Herstellung von Gerechtigkeit, von Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben.

3. Die Pluralisierung von Lebensformen und Optionen der biographischen Orientierung bringt es mit sich, dass der differenzierende pädagogische Umgang mit Heterogenität von Lernenden neu und anders entwickelt werden muss. Dazu haben einige Projekte des Comenius-Instituts Beiträge geleistet:

Die Differenzierung von Lernangeboten für Mädchen und Jungen im Religionsunterricht der Schule und in der Konfirmandenarbeit wurden vom Comenius-Institut initiiert und zwar als Beitrag zur Realisierung von Geschlechtergerechtigkeit.

Zu nennen sind auch Entwicklungsprojekte zur Freiarbeit im Religionsunterricht, zu Lernwerkstätten und zum Offenen Unterricht. Sie haben zur Frage der Individualisierung von Unterricht als Weise des pädagogischen Gerechtwerdens angesichts von Verschiedenheit entscheidende Anstöße gegeben. Wenn man Kindern und Jugendlichen Wahlmöglichkeiten im Blick auf Mittel, Methoden, Ziele und auch Inhalte ihres Lernens bereitstellt, können sie Achtsamkeit und Verantwortung für ihr eigenes Lernen gewinnen.

Auch der Umgang mit religiöser Heterogenität will gelernt werden. Das lernt man nicht durch direkte Instruktion über die Religion der anderen, sondern in Formen der Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen. Die Impulse zur konfessionellen Kooperation im Religionsunterricht („Das Gemeinsame stärken, das Differente klären“) und zum ökumenischen Lernen wurden vom Comenius-Institut aufgenommen und systematisierend verstärkt. Zum interreligiösen Lernen hat das Comenius-Institut sowohl fachliche als auch empirische Anstöße gegeben, mit nachhaltiger Wirksamkeit.

Die gegenwärtige Entwicklung von Ganztagsschulen fordert auch das kirchliche Bildungshandeln und die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen neu heraus. Jetzt steht die Kooperation von Schule und Jugendarbeit, außerschulischen Bildungsträgern und Institutionen auf dem Prüfstand. Vom Comenius-Institut werden Vorschläge erwartet, wie solche Kooperation unterschiedlicher Bildungsträger zur Verbesserung der Lern- und Bildungschancen von Kindern und Jugendlichen beiträgt.

4. Bis zu Beginn der achtziger Jahre waren erziehungswissenschaftliche und religionspädagogische Vorhaben des Comenius-Instituts auf bundesrepublikanische Handlungspraxen, teilweise auch auf Problemstellungen in den Kirchen der damaligen DDR, fokussiert. Seitdem hat eine Horizonterweiterung stattgefunden: Bildung wird in europäischem Horizont thematisiert, Religionsunterricht in Schule und Kirche wurden um die europäische Dimension erweitert. Das Comenius-Institut ist hier nicht nur strukturierend und moderierend tätig, sondern definiert auch die Themen der Auseinandersetzung und organisiert die entsprechenden internationalen Diskurse.

Darüber hinaus erfordert die Internationalisierung von wirtschaftlichen und politischen Beziehungen ein „Globales Lernen“, das die interkulturelle Handlungsfähigkeit gewährleistet und sich an der Vision einer gerechten Weltgesellschaft orientiert, indem es wirtschaftliche Abhängigkeiten benennt und die Achtung der Menschenrechte einfordert. Die an das Comenius-Institut angegliederte Fachstelle Entwicklungspädagogik hat viele Jahre lang dafür wichtige Anregungen gegeben.

IV.

Die Klärung von Grundlagen und Grundfragen der „Bildung“ zieht sich durch alle Epochen der Institutsarbeit. Was meines Wissens weithin fehlt, ist die systematische und in Projekten organisierte Auseinandersetzung mit denen, die „bildungsarm“ sind: Personen ohne schulischen oder beruflichen Abschluss, Schulverweigerer, funktionale Analphabeten, Migranten ohne zureichende Sprachkenntnisse, arme Kinder.

Von Bildungsarmut sind diejenigen betroffen, bei denen Fördern und Herausfordern unterlassen wurde. Gerade arme Eltern in schwierigen Beschäftigungsverhältnissen sind auf qualitativ hochwertige Bildungseinrichtungen angewiesen: Kinderkrippen, Kindertagesstätten, Ganztagsschulen, die für alle Kinder Chancen zum Lernen und Entwickeln ihrer Talente bereitstellen. Bildungsfragen sind stärker denn je im Zusammenhang von Sozial- und Arbeitsmarktpolitik zu klären, Problemlösungen sind in diesem Horizont zu suchen, wenn Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit ernst genommen werden sollen.

Der Spagat zwischen

- der Beteiligung an den herrschenden bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Diskursen auf der einen Seite, in denen sich die Stimme aus dem evangelischen Raum Gehör verschaffen und als Partner ernst genommen werden muss,

- und auf der anderen Seite dem parteilichen Engagement für diejenigen am Rande der Gesellschaft, die keine Lobby haben und vom Bildungssystem ausgegrenzt werden, ist vom Comenius-Institut in jedem Vorhaben und in jedem Projekt von neuem zu klären und zu bewältigen.

Die Beteiligungsformen der EKD an der allgemeinen Bildungsdiskussion und die Rolle des Comenius-Instituts haben sich bewährt und sind nach wie vor effektiv. Allerdings steht die Evangelische Kirche in Deutschland und mit ihr das Comenius-Institut angesichts der Veränderung kirchlicher Strukturen vor Herausforderungen, die sich erst skizzenhaft abzeichnen. Soviel aber ist deutlich: Das Comenius-Institut wird stärker gefordert sein, seine Aktivitäten auf den Gesamthorizont evangelischer Bildungsverantwortung zu beziehen.

Angesichts der Reduzierung von Unterstützungssystemen in den Landeskirchen werden ihm zentrale Aufgaben der Konzeptionsentwicklung in sämtlichen Bildungsbereichen zuwachsen. Dabei wird es nicht ausreichen, Bildungstheorie zu entwickeln und empirische Erkenntnisse zu gewinnen und zu sichern. Die Erwartungen richten sich auch auf die Bereitstellung von Instrumenten für Bildungsmanagement und Kooperation bei der konkreten Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse. Die EKD braucht ein Institut, das zugleich wissenschaftlich und praktisch ist, das flexibel und auf hohem Niveau die aktuellen bildungspolitischen Fragen aufgreift und Lösungswege entwirft. Als lernende Institution hat das Comenius-Institut wie kaum eine andere Bildungseinrichtung die Möglichkeit, bei Wahrung der unverwechselbaren Substanz sich unter gewandelten Rahmenbedingungen immer wieder neu auszurichten. Was für die zurückliegende Arbeit des Comenius Instituts kennzeichnend war, rechtfertigt Hoffnungen in seine zukünftige Arbeit. Für den Rat der EKD spreche ich die Hoffnung und den Wunsch aus, dass das Institut teilhat an der Bildungsverantwortung der Evangelischen Kirche, indem es jene Fragen aufnimmt und bearbeitet, an deren Beantwortung sich die bildungspolitische Kraft des Protestantismus zu erweisen hat.