Bildung als Überlebenswissen. Was Melanchthon uns heute zu sagen hat. Vortrag zur Eröffnung des Melanchthonjahrs am 31. Oktober 2009, Nürnberg, St. Sebald und St. Lorenz

Petra Bahr

Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist mir eine große Freude und Ehre, heute am Reformationsfest sprechen zu dürfen.

Lassen Sie sich mit mir doch auf ein Gedankenexperiment ein. Stellen Sie sich für ein paar Minuten vor, Philipp Melanchthon, der praeceptor germaniae, der große Lehrer der Deutschen, stünde heute höchstpersönlich vor ihnen, um Sie mit seinen Überlegungen zur Bildung als Überlebenswissen in eine Diskussion zu verwickeln. Er war ja schon mal hier, im Jahr 1526, als in Nürnberg eines der ersten humanistischen Gymnasien eingeweiht wurde. Melanchthon hat dazu das Schulkonzept, heute würde man wohl sagen, das Leitbild und den Bildungsplan geschrieben und wenn es dem Rat der Stadt damals gelungen wäre, den jungen Griechischprofessor aus dem Osten des Reiches in den Süden zu locken, wer weiß, wie die Reformationsgeschichte dann verlaufen wäre. Eine berühmte Rede hat er damals gehalten, eine Art bildungspolitisches Programm, das buchstäblich Schule gemacht hat und in vielen Klassikern zur abendländischen Bildungsgeschichte nachzulesen ist.

Aber zurück nach Wittenberg. Stellen Sie sich vor, wie der junge Melanchthon sich gestern frühmorgens auf den Weg gemacht hätte, um erst den ICE nach Berlin und dann den Billigflieger nach Nürnberg zu nehmen. "Vergiss nicht zwischendurch zu essen!", hat Frau Melanchthon ihm hinterher gerufen. Sie kennt ihren Mann und weiß, dass der vor lauter Neugier auf die Welt mit ihren Herausforderungen nicht gut auf sich achtgibt. Er hätte unwirsch abgewunken und sich stattdessen noch einmal vergewissert, dass er genug Lesestoff eingepackt hätte für die lange Reise. Ich bin mir sicher, er wäre gestern schon angereist, um sich noch ein wenig umzuschauen in der Stadt. In einer Bäckerei hätte er sich noch schnell einen Kaffee auf die Hand und ein belegtes Brötchen genehmigt, um rechtzeitig zur großen Pause den Vorplatz zu der Schule zu betreten, die seinen Namen trägt. Vermutlich wäre er gar nicht aufgefallen, der zarte Mann mit dem Charme des ewigen Jungen. Ein neuer Referendar, hätten die Schüler gedacht. Sicher hätte er zuerst die Griechischstunde in der siebten Klasse besucht und sich gewundert, wie schwer sich die jungen Leute mit seiner Lieblingssprache tun. In ihrem Alter hat der hochbegabte Bengel schließlich schon die Universität besucht. Und auch in der Bildungsoffensive der Reformation hat er ganz auf die alten Sprachen und die großen Klassiker der Antike gesetzt. Ovid und Aristoteles, Terenz und Cicero, das waren die Texte, die er verschlang wie heute junge Leute die Abenteuer des Harry Potter. Auch der Religionsunterricht, für den er sich immer wieder energisch eingesetzt hat, hätte ihn sicher interessiert. Nur eine Stunde in der Woche? Hätte er mit Blick auf den Stundenplan verwundert gefragt. Bei einem Gespräch im Lehrerzimmer wäre ihm aufgegangen, dass sich auch heute wieder das Gerücht hält, Religion käme ohne Bildung aus und hätte in der öffentlichen Schule nichts zu suchen, weil es bei ihr um ein rein privates Sinnbedürfnis ginge, das zugunsten wirklich relevanter, heißt arbeitsmarkttauglicher Kompetenzen abgeschafft oder doch zumindest reduziert oder an die Randstunden verbannt werden dürfe. Hätte man ihm zugehört, wenn er wie im Jahr 1543 die Bildungspolitiker der Stadt Soest ermahnt hätte: "Viele unvernünftige Leute denken, ob gleich Religion vonnöten sei, so bedürfe man doch keine Kunst und Studien dazu, es wisse ein jeder aus einem natürlichen Verstand, was er tun solle. Diese ist ein ganz törichte Rede."?

Wer von Melanchthon bittere Kulturkritik erwartet, nach der früher alles besser war, der hat vom Geist des Reformators wenig verstanden. Ich kann mir genauso gut vorstellen, wie der "kleine Grieche" in einer stillen Ecke vor dem Chemielabor mit seinem neuen Handy ins Internet geht, um sich auf elektronischem Wege sein Hotelzimmer zu buchen. Das hat er nämlich trotz wiederholter Erinnerung vergessen. Melanchthon war ein neugieriger Mensch. Die Fülle des Wissens über die Welt und den Menschen hat ihn genauso interessiert wie die Kommunikationsstrategien der Medien und der Werbung. Rhetorik hieß diese Disziplin zu seiner Zeit. Strategien der Überzeugung und der geschickten Überredung wurden schon damals verhandelt. Geschichte und Astronomie haben ihn genauso begeistert wie die neusten Ergebnisse der Medizin. Wer in ihm einen Gewährsmann für die geistige Bildung sieht, die abfällig auf die Naturwissenschaften, die Ingenieurskunst, die Wirtschaft oder die Politik herabsieht, der hat seine Schriften nie gelesen. Melanchthon ist kein Bündnispartner für das Geschimpfe über die verlotterte Jugend. Er stellt sich immer auf ihre Seite und machte die für das Bildungsdesaster verantwortlich, die zu seiner Zeit die Macht hatten, aus der radikalen Verunsicherung seiner Zeit bildungspraktische Konsequenzen zu ziehen. Die Herrschenden an Hof und Kirche, denen das Maß der Unbildung ihrer Untertanen oft genug ganz gut gefiel, weil sie aus der Unmündigkeit von Untertanen und Gläubigen Kapital schlagen konnten. Über Unwissenheit regiert es sich leichter.

Wer Melanchthon für ein klassisches Bildungsideal in Anspruch nimmt, sollte sich deshalb der politischen Sprengkraft vergewissern, die in dem Programm "Bildung für alle" bis heute steckt. Mädchen, die lesen können, Bauernlümmel, die über Stipendien in die Bildungselite des Landes aufsteigen sollten - das sind Forderungen, die auch heute noch für Diskussionsstoff sorgen. Wie würde Melanchthon auf die Nachricht reagieren, dass im Lande des reformatorischen Bildungsaufbruchs immer noch die Herkunft eines Kindes über den Bildungserfolg entscheidet?

Wenn Aische aus Berlin trotz bester Noten keine Gymnasialempfehlung bekommt, weil die Lehrerin ihren Eltern die Begleitung der Tochter auf dem Bildungsweg nicht zutraut? Oder Kevin aus einem Wohnblock vor München. Schon der Rufname des Jungen ist Bildungsforschern verdächtig. Dritte Generation Hartz IV - was ist nötig, damit Kevin Spaß am Lesen bekommt und merkt, wie Leistung zu neuer Leistung anspornt? Bildung für alle - das ist bis heute keine harmlose Forderung. Sogar Melanchthons stete Werbung für die literarischen Klassiker zielte nicht darauf, höhere Bildung gegen praktischen Nutzen und handwerkliches Geschick, wirtschaftlichen Erfolg oder politische Macht auszuspielen. Seine Leidenschaft für die alten Sprachen, die Künste und die Wissenschaften diente im Gegenteil dazu, sich im Rückbezug auf einen klassischen Kanon in einer unübersichtlichen Welt zu orientieren. Sein Bildungsprogramm ist keine Flucht vor der Wirklichkeit und schon gar Ausdruck der Sehnsucht nach einer heilen elitären Bildungswelt, die die harten sozialen Verwerfungen seiner Gegenwart ignoriert. Im Gegenteil. Wenn er heute vor ihnen stände, gehörte er nicht zu denen, die sich nach den guten alten Zeiten zurücksehnen, in der das Gymnasium noch ein Gymnasium und der Gebildete noch ein Goetheaner war, der in seiner guten Bürgerstube am Stutzflügel Wagnerpartituren übte. Nun mag der eine oder die andere dem berühmten Besucher aus Wittenberg entgegenhalten, dass seine reformatorischen Bildungsideen in einer Zeit entstanden sind, in der es noch einen festen Kanon und eine verbindliche christliche Weltanschauung hab. Die frühe Neuzeit hat mit den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts doch wahrlich wenig zu tun, oder? Wer sich durch die hauptsächlich in anspruchsvollem Latein geschriebenen Texte wühlt, mit einem dicken Wörterbuch, das über die Fallen des Unverständnisses oft genug auch nicht hinweghilft, ahnt etwas über den Graben, der zwischen der Gegenwart des Bildungsreformers im 16. Jahrhundert und unserer Gegenwart liegt. Wer seine Ideen deshalb nun in die ehrwürdigen Hallen nationalstaatlicher Geschichtserinnerung einsperren will, macht es sich trotzdem zu leicht. Eine geschickte Strategie der Immunisierung gegen die bleibenden Herausforderungen, die der Bildungsgedanke Melanchthons uns heute noch aufgibt. Erlauben Sie mir deshalb, das Gedankenspiel an dieser Stelle abzubrechen und hinter den Buchstaben der Melanchthonschen Einreden gegen die Bildungskatastrophe seiner Zeit den Geist der Ideen hervorzulocken, der wie der Geist in der Flasche allzu lange eingesperrt war - auch in Form von Vitrinen und sentimentalen Erinnerungen.

Melanchthon entwickelt seine Ideen für eine fundamentale Neugewichtung der Bildung als lebenslangem Vollzug in einer Zeit, die durch radikale Umbrüche geprägt ist. Die reformatorische Bewegung, aus der die Kirchen der Reformation entstehen, gleicht einem Erdbeben, das schon lange vor dem Thesenanschlag Luthers die Seismographen ausschlagen lässt. Bürgerliche Städte entstehen und verdrängen mit Handel, Recht und Künsten die Agrargesellschaft. Die Wissenschaften stehen vor neuen Herausforderungen, weil auch die Weltbilder wanken. Moralische Ordnungsgefüge werden genauso in Frage gestellt wie medizinische Tabus. Fremde Kontinente werden entdeckt. Der Buchdruck provoziert eine Medienrevolution, die der Verlagerung auf die Digitalisierung unserer Informationswelt in nichts nachsteht. Soziale Unruhen künden von gesellschaftlichen Orientierungsnotständen. Die reformatorische Einsicht in einen Gott, der vor aller religiösen Leistung gerecht und selig macht, verändert das Menschenbild gravierend. Berufe entstehen, die es vormals nicht gab. Die reformatorische Würdigung der weltlichen Berufe schlägt sofort auf Schulen und Universitäten durch. Diese tektonischen Verschiebungen, die den Menschen den Boden unter den Füßen wegziehen und große Ängste provozieren, bilden die Kulisse der Melanchthonschen Bildungsideen. Keine Spur von heiler Geisteswelt. Lassen Sie mich den Geist dieser Ideen an einigen Punkten festmachen.

Erstens: Bildung zielt auf den ganzen Menschen. Bildung ist ein Vollzug, der nicht im Kopf beginnt und dort nicht endet. Melanchthon, der hochbegabte Intellektuelle, wusste, dass Bildung durch Aufredung, das Memorieren von Faktenwissen und die gehorsame Wiederholung von Einsichten anderer oberflächlich bleibt. Er hat deshalb ins Zentrum seiner Überlegungen über den gebildeten Menschen die Affekte gestellt. Bildung ist für ihn eine Form der Selbstbegegnung mit sich und der Welt, die einen ganzheitlichen Raum braucht. Zorn und Neid, Geiz und Gefühlskälte sind für ihn Kennzeichen der Unbildung. Bildung ist deshalb zwangsläufig Wertebildung, wenn sie die ganze Person ergreift. Auch die Wertebildung, von der in diesen Tagen wieder so viel die Rede ist, braucht Orte der Ethik, in der lebendige Erfahrungen gemacht werden können. Wer den kategorischen Imperativ oder die goldene Regel auswendig gelernt hat, lebt noch nicht danach. Erst der emotionale Nachvollzug des Gelernten kann nachhaltige Bildungsprozesse bewirken. Heute bestätigen Hirnforscher und Neurowissenschaftler, das Melanchthons Überlegungen buchstäblich ins Herz neuer Bildungsdiskussionen führen. Wir dürfen als Gesellschaft Bildungsprozesse nicht an Schule und Universität delegieren, sondern müssen uns fragen, wo neue Orte der Bildung entstehen, in denen der sinnlich-praktische Nachvollzug von Demut und Barmherzigkeit, von Aufrichtigkeit und Wahrheitsliebe erprobt und erfahren werden kann. Melanchthons Leidenschaft für Bildung im Kindesalter gewinnt hier neue Brisanz. Kinder lernen spielerisch, sinnlich und praktisch am besten. Erfahrung ist ihr Schlüssel zur Welt. Die christliche Lehre von der Rechtfertigung aus Gnade bleibt ein theoretisches Konstrukt, wenn die Erfahrung unbedingten Angenommenseins mit der je eigenen Lebensgeschichte und den je eigenen Bildungserfolgen nicht ernst genommen werden. Emotionale Bildung ist Orientierung fürs Leben und unterscheidet sich radikal von den frühkindlichen Bildungsangeboten, in denen schon Vierjährige mit Chinesischkursen und Medientraining für erfolgreiche Karrieren abgerichtet werden. Die Bildung des ganzen Menschen, die Melanchthon vor Augen hatte, führt nicht in eine Wettbewerbsgesellschaft, wo jeder jedem schon von frühster Kindheit an unliebsamer Konkurrent auf dem Weg nach oben ist. Bildung, wie Melanchthon sie versteht, ist immer ein Unterwegssein in Gemeinschaft. Ein gemeinsames Projekt, ein geteiltes Ziel, ein Gespräch. Nicht tote Gegenstände, nein, ein lebendiges Gegenüber ist das vornehmste Bildungsgut. Für Melanchthon waren auch Bücher und Theorien wie Freunde, mit denen er rangelte und diskutierte, von denen er sich beeindrucken ließ und die ihn zum Widerspruch aufforderten.

Bildung braucht Vorbilder. Wenn Melanchthon immer wieder auf seine geliebten Klassiker der griechischen und römischen Antike zurückkommt, dann hat das seinen tieferen Grund in diesem Gedanken und nicht im Bildungsdünkel, das sich absetzt von den armen Wichten, bei denen es nur zu praktischer Ausbildung gereicht hat. Die großen antiken Klassiker leben vom Exempel, von der Beispielerzählung. Deshalb insistiert Melanchthon auch immer wieder auf eine gründliche Beschäftigung mit der Geschichte. Hier, im tiefen Brunnen der Vergangenheit, können wir uns selbst im Spiegel sehen. Das macht wach für die Gegenwart und führt dazu, dass wir uns als in Geschichte verwickelte Menschen begreifen lernen, die ohne diesen Zusammenhang der Generationen nicht auskommen. Auch die Bibel war für Melanchthon ein Buch der Überlebens- und der Lebensgeschichten. Wo sind heute die Vorbilder, die junge und nicht mehr junge Menschen zu Bildungsversuchen anstacheln? Welche Geschichten erzählen wir, auf dass wir, biblisch gesprochen, klug werden? Melanchthon hat sich übrigens mit einigem Eifer auf die Weltgeschichten seiner Zeit gestürzt. Seine Neugier ging weltwärts, zu fremden Sprachen und neuen Entdeckungen. Er liebte es, Abenteurer einzuladen und von ihren Expeditionen zu hören. Bildung braucht Vorbilder.

Bildung zielt auf Eigensinn. Immer wieder kommt Melanchthon in seinen Bildungstraktaten, seinen Briefen und Reden auf einen Kerngedanken des Humanismus und der Reformation zu sprechen, die das Vorurteil von der sturen Paukerei der Klassiker Lügen straft. Das Ziel der mühevollen Aneignungsprozesse fremder Texte war immer das Selber-denken, Selber-reden und Selber-machen. Die großen Rhetorikwettbewerbe zu Wittenberg, Disputationen genannt, hatten eine enorm sportliche Seite, weil hier junge Leute dazu ermuntert wurden, ihre Argumente zu schärfen und im Widerspruch zu bestehen. Ausgangspunkt für diese Art gebildeter Selbstständigkeit war die Nachahmung. Der Weg von den Vorbildern zur selbstständigen gebildeten Person ist bei Melanchthon nicht weit. Ein herausfordernder Gedanke, denn allen Beteuerungen zum Trotz sind kreative Querdenker und kluge Widerspruchsgeister weder in der Politik noch in der Wirtschaft besonders gefragt. Auch in der Kirche haben sie es schwer. Nun ist ein selbstständiger Geist nicht immer ganz leicht vom Querulanten zu unterscheiden, aber ich bin mir sicher, dass wir dringend mehr eigenständige Visionäre brauchen, die andere mitziehen auf dem Weg, die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Bildung ist für Melanchthon unvollkommen ohne Kreativität. Sie braucht ein solides Wissen, sie ist verliebt in die Tradition und weiß die Überlieferungen zu schätzen, aber nicht, um sie zu konservieren, sondern um in ihnen Anregungen und Hinweise für den Umgang mit der Gegenwart zu entdecken.

Bildung braucht Religion. Der Satz ist heute eine Provokation, hat man doch seit der Aufklärung Bildung als Prozess der Selbständigkeit gegenüber allen Einreden von außen verstanden. Und doch bleibt ein gebildeter Mensch in Melanchthons Perspektive bei allem Wissen allerhöchstens halbgebildet, wenn er nicht auch sich selbst gegründet weiß in einer Kraft, die größer und anders ist als er selbst. Erst, wer sich selbst von woanders her getragen und bestimmt weiß, kann gelassen mit Scheitern umgehen und gegen den eigenen Vorteil Freude an dem gewinnen, was in der Welt sein soll. Zur Bildung im anspruchsvollen, protestantischen Sinne gehört die Einsicht in die eigenen Grenzen und das stete Verwiesensein auf andere. Nur wer sich in Gott gegründet weiß, braucht keine Angst vor der schier uferlosen Welt des Wissens und seiner Herausforderungen zu haben. Religion braucht Bildung bei Melanchthon aber auch, weil von diesem festen Grund auch die Kriterien für das kommen, was uns orientieren soll. Der christliche Glaube ist deshalb für Melanchthon im strengen Sinne Orientierungswissen. Nicht, weil es gegen das sogenannte funktionale Wissen, gegen die Techniken und Fertigkeiten auszuspielen wäre, sondern weil es in diesen Kompetenzen leitet wie ein Horizont, an dem man seinen Blick festmacht, um sich nicht in der Landschaft zu verlieren. Wer mit Melanchthon über Religion und Bildung redet, der kann sich deshalb nicht damit zufrieden geben, für den Religionsunterricht in öffentlichen Schulen zu streiten. Die wahre Herausforderung liegt vielmehr darin, das, was im Religionsunterricht gelernt wird, in Beziehung zu den anderen Fächern zu bringen. Orientierung ist ja mehr denn je gefragt, weil wir in einer Zeit leben, in der die Flut, ja, man möchte sagen, ein Tsunami an Informationen auf uns einströmt und über uns zusammenbricht, der uns mitreißt, ohne dass wir auf ihrer Oberfläche schwimmen könnten. Welche Informationen sind wichtig? Welche sind wahr? Welche bedeutungsvoll? Wem können wir trauen und wem wollen wir trauen?

Die Digitalisierung verändert das, was wir bisher mit Medien verbunden haben, radikal. Diese Herausforderung trifft nicht nur Menschen im besten Bildungsalter zwischen 6 und 26. Wir alle sind längst mehr oder weniger Teil eines digitalen Netzwerkes, das uns ungeahnte Möglichkeiten und ungeahnte Gefährdungen beschert. Ich bin mir sicher, dass mit Melanchthon eine schlichte Abwehr des Neuen nicht zu haben wäre. Er hat sich mit großer Begeisterung auf die neuen Möglichkeiten des Buchdrucks gestürzt und wir wissen im Rückblick, dass viele der in den konfessionellen Medienkonflikten in Umlauf geratenen Texte und Bilder allerhöchstens Boulevard sind. Die Schattenseiten der Medienrevolution des Buches waren schnell absehbar und doch unaufhaltbar. Wir stehen deshalb mit Melanchthon vor der neuerlichen Aufgabe, Bildungsprozesse angesichts einer technischen und kulturell-geistigen Revolution zu initiieren und zu verantworten, die das Neue nicht dämonisiert, aber auch nicht naiv oder gar fatalistisch kommen lässt, ohne Gestaltungsräume zu erkunden. Mehr denn je sind Menschen gefragt, die schnell letzte und vorletzte Dinge unterscheiden können, die noch nach Wahrheit fragen, wenn Bilder suggestiv Evidenzen vortäuschen und nach der Würde eines Gegenübers, wenn der Begriff der Freundschaft und der sozialen Nachbarschaft über das Internet einen völlig anderen Sinn gewinnt. Bildung in diesem Sinne ist anderes und anders als ein Bündel von Kompetenzen und Techniken zur beruflichen und privaten Weltbewältigung. Um es etwas provozierend mit dem Philosophen Hans Blumenberg zu formulieren: "Bildung ist das, was bleibt, wenn einer alles vergessen hat." In einer Zeit, in der das Wissen von heute morgen schon Geschichte sein kann, ist diese Art vertiefter Orientierung, die so kühn und getröstet ist, sich in der Obhut Gottes zu wissen, wird diese Art der Bildung zum Überlebenswissen. Menschen, die sich nicht an jedem Reiz von außen orientieren, die sich nicht beirren lassen und kritische Urteilskraft mit Neugier in Gleichgewicht bringen können, die Haltungen der Barmherzigkeit und der Demut, der Wahrhaftigkeit und der Klugheit nicht wie einen Modeartikel heute anziehen und morgen abstreifen, sondern als authentische Haltung verinnerlicht haben, werden wir als Gesellschaft in Zukunft brauchen, wenn wir die Herausforderungen, die sich vor uns auftürmen wie Alpengipfel, spontan und fröhlich, sponte et hilariter, wie Melanchthon gesagt hätte, angehen wollen.