Bericht zur kirchlichen Lage bei der Januartagung 2010 der Evangelischen Forschungsakademie

Sehr geehrte Damen und Herren,

sehr herzlich möchte ich mich zunächst bedanken: Dass Sie mich als Berichterstatter über die kirchliche Situation angefragt haben, freut mich sehr. Die kirchliche Lage, das ist, wie Sie wissen, immer ein sehr weites und differenziertes Feld - wie der Protestantismus ja insgesamt.

Heute, immer noch eher am Anfang des ersten Monats des Jahres 2010, geht der Blick zunächst einmal zurück auf all’ das, was im alten Jahr wichtig war. Da das Zurückliegende immer auch konstituierend ist für den Status Quo und das, was uns künftig erwartet, ergibt sich daraus ganz natürlich auch die Vorschau auf das Kommende, auf diejenigen Themen, Ereignisse und Sachverhalte also, die in diesem Jahr ganz sicher oder doch aller Voraussicht nach auf der Agenda stehen.

Und da Sie mich als den „Verbindungsmann“ zwischen Kirche und Politik als Vortragenden gewählt haben, werden Sie erlauben und zu Recht erwarten, dass ich bei meinen Blicken auf die Lage der Evangelischen Kirche überwiegend die Brille trage, die das politische Geschehen in den Blick nimmt.

Diese Brille sitzt von Amts wegen auf meiner Nase. Durch sie kann ich am besten sehen. Als „Bevollmächtigter des Rates der EKD bei der Bundesrepublik Deutschland und der Europäische Union“ bin ich zusammen mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Kontakte der Evangelischen Kirche in Deutschland zu den politischen Akteuren in Berlin und Brüssel zuständig. In Berlin finden Sie unsere Dienststelle am Gendarmenmarkt. Das Büro des Bevollmächtigten in Brüssel befindet sich nicht unweit der Kommissionszentrale am Platz Schuman in der Brüsseler Rue Joseph II. Dies sind die Standorte, von denen aus wir aktuelle politische Prozesse begleiten, Verbindung zu Politikern knüpfen und halten, evangelische Positionen nach außen vertreten und den Rat der EKD und die Kirchenkonferenz über die neuesten Entwicklungen unterrichten. Auch als Seelsorger stehe ich den politischen Akteuren im Bundestag und in den Ministerien zur Verfügung.

Blicken wir zurück, stellen wir schnell fest, dass unzweifelhaft ein besonderes Jahr hinter uns liegt. Die Entscheidungen und Ereignisse von 2009 werden uns noch einige Zeit beschäftigen. Lassen Sie mich gleich zu Beginn den Horizont etwas weiten und auf die europäische Ebene gehen: Am 1. Dezember 2009 trat der Vertrag von Lissabon in Kraft.

Bei allen Hindernissen, die es zu überwinden galt, und allen Unzulänglichkeiten, die man diesem Vertragsriesen vorhalten kann, war der 1. Dezember ein guter Tag für Europa und für die Kirchen. Der Reformvertrag macht die EU demokratischer, bürgernäher und hand-lungsfähiger, und damit ein Stück besser gerüstet für die großen Heraus-forderungen der Zukunft. Nach Jahren der institutionellen Krise begibt sich die EU jetzt hoffentlich wieder in eine Phase politischen Gestaltungswillens und konkreter Projekte.

Durch den Vertrag von Lissabon wird die Europäische Union auf eine neue Grundlage gestellt, und es ergeben sich zahlreiche Änderungen, wobei die Schaffung der neuen Ämter des Präsidenten des Europäischen Rates und der Hohen Vertreterin der Union für Außen- und Sicherheitspolitik sicherlich die markantesten sind. Die neuen Spitzenposten sollen die Außendarstellung der EU verbessern und für mehr Kontinuität sorgen.

Es ändert sich aber auch das Kräfteverhältnis zwischen Europäischem Parlament (EP) und dem Rat der europäischen Fachminister. Das Mitentscheidungsverfahren beider Organe wird mit Lissabon zum Normalfall, das Parlament zum gleichberechtigten Gesetzgeber. Im Rat wird künftig die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit zum Regefall. Dadurch eröffnen sich zum Beispiel neue Spielräume in der Einwanderungspolitik. Im Übrigen gilt ab 2014 das Verfahren der „doppelten Mehrheit“, das den Entscheidungen des Rates mehr Legitimität verleihen soll. Ein Mehrheitsbeschluss muss von mindestens 55 Prozent der Staaten getragen werden, die wiederum mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung abbilden müssen.

Zur Sicherung des Subsidiaritätsgrundsatzes haben nationale Parlamente künftig die Mög-lichkeit, neue EU-Gesetzgebungen direkt zu überprüfen, wenn sie der Auffassung sind, die EU habe ihre Kompetenzen überschritten. Bei Kritik von einem Drittel der Parlamente muss die Kommission ihren Vorschlag überprüfen. Sie kann den Einwand der Parlamente auch zurückweisen, muss ihre Entscheidung aber in jedem Fall begründen. Nicht allein aufgrund des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts muss sich der deutsche Bundestag also intensiver als bisher mit der Europapolitik auseinandersetzen, und das ist gut so.

Ein Vorwurf, der immer wieder gegenüber den Brüsseler Institutionen erhoben wird, ist die fehlende Bürgernähe. Mit dem Instrument der Bürgerinitiative können nun eine Million Bürger aus einer „erheblichen Anzahl verschiedenen Mitgliedstaaten“, die Europäische Kommission auffordern, zu einem bestimmte Thema neue Gesetzgebungs-vorschläge im Rahmen ihrer Kompetenz zu unterbreiten. Derzeit diskutiert die Kommission im Rahmen einer Konsultation praktische Fragen zur bestmöglichen Umsetzung des neuen Instruments.

Schließlich verleiht der Reformvertrag der Grundrechtecharta Rechtsverbindlichkeit. In der Charta sind politische, wirtschaftliche, soziale und Bürgerrechte kodifiziert, unter anderem auch die Religionsfreiheit.

Schließlich werden mit dem Vertrag von Lissabon die Kirchen zum ersten Mal im Primärrecht der Europäischen Union erwähnt, in Art. 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union. In Absatz 1 wird bekräftigt, dass das Staatskirchenrecht Angelegenheit der Mitgliedstaaten ist. Die gewachsenen Traditionen, die Staatskirchen und der Laizismus gleichermaßen, haben ihren Raum in der Vielfalt Europas. Absatz III formuliert die institutionelle Anerkennung der Kirchen als gesellschaftliche Kraft, indem er festschreibt, dass die Union „mit diesen Kirchen (und Gemeinschaften) in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ pflegt. Damit schafft er zum einen eine wesentliche Grundlage für die aktive Partizipation von Kirchen und Religions-gemeinschaften bei der politischen Mitgestaltung der EU im allgemeinen, und bietet zum anderen die Möglichkeit, etwaige Bedenken der Kirchen im Hinblick auf Ihr Selbstbestimmungsrecht auf politischer Ebene zu Gehör zu bringen.

Wir sind sehr froh, dass es in ökumenischer Geschlossenheit gelungen ist, dem Dialog, den wir als Evangelische Kirche in Deutschland in Brüssel nun schon seit zwei Jahrzehnten aktiv führen, rechtliche Anerkennung und Absicherung zu verleihen.

Dabei ist der Austausch von Politik und Kirche von beiderseitigem Interesse. Die Kirchen sind bestrebt, mit ihren Beiträgen die universellen Werte der unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte, der Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit zu fördern. Diesen Werten, die sich auch aus dem religiösen Erbe Europas herleiten, fühlt sich auch die Europäische Union verpflichtet, so Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union.

Auch die Europäische Union hat ein vitales Interesse an der Mitwirkung der Kirchen und Religionsgemeinschaften am gesellschaftlichen und kulturellen Leben Europas, an seinen Bil-dungseinrichtungen und sozialen Diensten. Die Kirchen tragen diese Werte in ihrem pastoralen, diakonischen und gesellschaftlichen Wirken zu den Menschen. In den Kirchen haben die Institutionen der EU daher einen Partner, um die europäische Integration zu befördern und ein auf Werten basierendes Europa zu verwirklichen.
Der regelmäßige Dialog ist zudem Voraussetzung dafür, dass die Säkularisierung nicht in aggressiven Laizismus verfällt und in einer unbegründeten Antikirchlichkeit endet. Ohne die jüdisch-christlichen Wurzeln europäischer Kultur und auch Persönlichkeitsbildung hätte es die EU nie gegeben. Ohne die Versöhnungsbotschaft des Christentums, die die Gründungsväter antrieb, die Wunden zweier Weltkriege zu heilen, wäre Europa heute noch zersplittert. Diese tiefen Wurzeln kann Europa nur zu seinem schweren Schaden kappen.

Der Dialog mit den Kirchen freilich ist nicht nur bequem, weil das Christliche schon einmal quer steht zur Funktionalität des Alltags. In einer Union, die im Werden ist und nach vorn blickt, sind Kirchen auch Faktoren der Bewahrung, aber eben auch Träger der Zuversicht und der Hoffnung in das Leben.

Es braucht unser aller Anstrengung, das Bewusstsein für diese Geschichte und ihre Bedeutung wach zu halten, denn ohne dieses Bewusstsein verspielen wir auch unsere eigene Zukunft. Die Zukunft, dass Menschen weiterhin „Ja“ zu Europa sagen.

Was passiert, wenn dieses Bewusstsein schwindet, haben wir gerade vor kurzem in Straßburg erlebt. Das „Kruzifixurteil“ des Europäischen Gerichtshofs für Menschen-rechte, das sich gegen die in italienischen Schulräumen angebrachten Kruzifixe richtete, ist ein Beispiel für ein Verständnis von Säkularisierung, das von einer freiheitlichen Ordnung der Toleranz für den Glauben in eine laizistische Ordnung der Intoleranz gegen alle Religion umschlägt. „Allein, ihren Symbolen täglich zu begegnen, könne“ – so die Richter – „verstörend auf Kinder wirken“. Ein solches Urteil schadet dem europäischen Gedanken, der in Anerkennung der unterschiedlichen Kulturen und Religionen das Gemeinsame betont, ohne das Eigene zu verbieten. Wer die in die Öffentlichkeit wirkende „kreuzlose“ Gesellschaft fordert, schadet denen, die um Religionsfreiheit in wirklicher Unterdrückung kämpfen.

Der Europäische Gerichtshof der Menschenrechte hat die Aufgabe, über die Einhaltung menschenrechtlicher Mindeststandards in den über 50 Vertragsstaaten der Konvention zu wachen. Dabei ist zum Einen entscheidend, dass den Gewährleistungen der Religionsfreiheit kein laizistisches Verständnis zu Grunde liegt. Vielmehr wird ausdrücklich auch das öffentliche Bekenntnis der Religion geschützt. Zum Anderen hat der Gerichtshof die teilweise sehr unterschiedlichen Systeme der Vertragsstaaten sowohl in der Ausgestaltung des öffentlichen Schulwesens als auch im Hinblick auf die Gewährleistungen und Prinzipien des Staatskirchenrechts zu achten und zu schützen. Deshalb sagen wir: Sensibilität gegenüber unter-schiedlichen nationalen Identitäten und staatskirchenrechtlichen Systemen ist gerade hier dringend geboten! Straßburg wird das „Kruzifixurteil“ hoffentlich korrigieren. Aber dass es überhaupt so gefällt wurde, zeigt, worin unsere Aufgabe besteht: Das Verständnis wach zu halten für die Bedeutung der Religion für eine friedliche, tolerante und gerechte Gesellschaft. Frieden, Toleranz und Gerechtigkeit mag es auch ohne den religiösen Beitrag geben. Aber in Europa sind diese Werte vor allem durch die christliche Religion geprägt, und sie erfahren ihre lebendige Bewahrung täglich in ihr.
Das und Vieles mehr ist unser spezifischer Beitrag zum Gelingen der europäischen Integration.

2009 war jedoch nicht nur im europapolitischen Bereich, sondern auch im kirchlichen Feld ein Jahr des Wechsels und der Staffelstabübergabe. Personen, die sehr lang kirchlich oder politisch prägend waren, sind abgetreten oder abgewählt worden, andere haben kirchenleitende Verantwortung übernommen.

Sie alle wissen, dass dies zuallererst die höchste Ebene betraf: Seit Ende Oktober 2009 ist die hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann neue Ratsvorsitzende der EKD. Sie folgt Bischof Wolfgang Huber nach, der dieses Amt in den vergangenen sechs Jahren mit unnachahmlicher Präsenz und Begeisterung ausgefüllt und geprägt hat. Die verfasste evangelische Kirche hat Wolfgang Huber Vieles zu verdanken. Doch vor allem hat er unsere Kirche auf einen grundsätzlich neuen Weg gebracht. Mit dem Impulspapier „Kirche der Freiheit“ wurde im Sommer 2006 ein innerkirchlicher Reformprozess angestoßen, der sich seitdem unaufhaltsam weiter entwickelt. Der erste Impuls wurde auf der EKD-Synode in Würzburg im November 2006 und dann speziell auf dem Zukunftskongress im Januar 2007 in Wittenberg aufgenommen. Seitdem wurde er in vielen Leitungsgremien diskutiert, konkretisiert und weiterentwickelt. Die EKD-Synode in Dresden im November 2007 hat mit ihrem Leitthema "Evangelisch Kirche sein" vielfältige Anregungen aus dem Diskussionsgang aufgenommen und gebündelt.

Im September vergangenen Jahres schließlich ist mit der so genannten Zukunftswerkstatt in Kassel eine weitere Stufe dieser Reformbewegung erreicht worden. Der Kongress hat gezeigt, mit welcher Kreativität und Entschiedenheit überall in den Landeskirchen neu nachgedacht wird über die Kernkompetenzen unserer Kirche. Drei Themenbereiche stehen im Mittelpunkt: Qualitätsentwicklung in Gottesdienst und Kasualien, missionarischer Aufbruch so-wie Leitung und Führung auf allen kirchlichen Ebenen. Mission als glaubenweckendes Ansprechen der Menschen in unserer Gesellschaft, als Aufgabe der ganzen Kirche in allen Handlungsfeldern neu entfalten, die Sicherung und Verbesserung der Qualität von kirchlichen Kernangeboten zu diskutieren, Fragen der Ausbildung von Menschen in Leitungsfunktionen und Überlegungen zur Gestaltung von stärkenden Strukturen zu bewegen – all’ das ist ebenso notwendig wie ungewohnt. Doch in Kassel hat sich gezeigt: Ob die Ausbildung von Laien-Kirchenkuratoren in den Blick genommen wird, ein spezieller Gottesdienst für Trauernde an hohen Feiertagen oder ein generationsübergreifendes Singpatenmodell im Kindergarten – die Liste der nachahmenswerten Beispiele in den Landeskirchen ist lang.

Ja, es stimmt, dass die Zahl der Bürgerinnen und Bürger in Deutschland, die der EKD ange-hören, erneut gesunken ist. Das schmerzt. Es stimmt auch, dass die Zahl der Wiedereintritte, die einer Studie des vergangenen Jahres zufolge bei rund 60 000 liegt, diesen kontinuierli-chen Aderlass noch lange nicht kompensiert. Das von Bischof Huber angestrebte „Wachs-tum gegen den Trend“ liegt in noch weiter Ferne. Trotzdem sind wir auf dem richtigen Weg, das zeigt sich an vielen Stellen. Zum Beispiel auch daran, dass sich auch strukturell etwas tut in der EKD: Im vergangenen Jahr haben sich die Kirchenprovinz Sachsen und die thürin-gische Landeskirche – nota bene: eine unierte und eine lutherische Landeskirche! - zur Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland zusammengeschlossen. Die Verhandlungen zwischen der Nordelbischen, mecklenburgischen und pommerschen Landeskirche zur Bildung einer großen „Nordkirche“ kamen in 2009 entscheidende Schritte voran, weitere Kooperationen werden folgen.

Dass wir auf dem richtigen Weg sind, wenn wir uns um die Stärkung unserer Kompetenzen mühen und die Qualität unserer Arbeit immer weiter zu verbessern suchen, wird aber auch anderenorts deutlich. Denn es ist spürbar, dass auch das Bedürfnis nach guter geistlicher Begleitung in der Gesellschaft immer größer wird. Ich erinnere nur an die Menschenmassen, die am Abschiedsgottesdienst für Robert Enke teilgenommen haben.

Aus meiner eigenen Arbeit kann ich berichten, dass aus dem politischen Bereich Menschen auf mich zu kommen, weil sie verstärkt geistliche Begleitung wünschen. So kam es bei-spielsweise, dass mein katholischer Kollege Prälat Jüsten und ich am Ende der letzten Legislaturperiode auf Initiative einer ehemaligen Bundesministerin hin einen Dank- und Se-gensgottesdienst zur Verabschiedung der aus dem Parlament ausscheidenden Abgeordneten hielten, der große Resonanz erfuhr. Auch die großen Ökumenischen Gottesdienste des letzten Jahres anlässlich der Wahl des Bundespräsidenten, zum 60 jährigen Bestehen der Bundesrepublik, zur Konstituierenden Sitzung des neuen Parlaments oder aus Anlass des 9. November waren mehr als gut besucht. Ähnlich erfreulich ist die Teilnahme bei den Andachten, die wir in den Sitzungswochen regelmäßig unter der Woche im Deutschen Bundestag anbieten. Kritischen Stimmen, die den politischen Akteuren unterstellen, Nähe zu ihren Kirchen aus strategischen Überlegungen heraus zu suchen, muss ich daher in aller Entschiedenheit widersprechen.

Nein, wir sind mit vielen Menschen in unserer Kirche auf einem guten und immer besseren Weg. Wolfgang Huber hat den oben skizzierten Reformprozess unermüdlich begleitet und befeuert, auch seine Nachfolgerin wird diese Bewegung weiter nach vorn bringen. Trotzdem wird der Wechsel, der sich kürzlich an der Spitze der EKD vollzogen hat, von Vielen als sehr einschneidend empfunden. Zum ersten Mal hat eine Frau den Vorsitz des Rates inne, und noch dazu eine, die aufgrund ihrer Biografie immer wieder polarisiert hat, ja für Schlagzeilen herangezerrt wurde. Nichtsdestotrotz: In Ulm, als die Synode im vergangenen Oktober den neuen Rat wählte, stand Margot Käßmann sehr schnell und mit einer überwältigenden Stimmenzahl als erstes Mitglied dieses neuen Rates fest.

Die Wahl der übrigen Ratsmitglieder war nebenbei bemerkt alles andere als eine schnelle Geburt: Jeder musste eine Zweidrittelmehrheit erhalten, insgesamt sollte die Zusammenset-zung des Gremiums die „bekenntnismäßige und landschaftliche Gliederung“ der EKD wider-spiegeln, Theologen und Nicht-Theologen, haupt- und ehrenamtlich in der EKD Tätige umfassen. Die Synodalen wählten von morgens um 9 Uhr bis nachts um halb zwei. Immerhin: Wir haben einen neuen Rat, er ist sehr ausgewogen besetzt – unser jüngstes Ratsmitglied ist mit 28 Jahren jünger als die jüngste Ministerin – und er hat im Dezember seine Arbeit aufgenommen. Zunächst ging dies seinen geordneten Gang. Eine der ersten Amtshandlungen von Landesbischöfin Käßmann war die Vorstellung der neuen Ratsmitglieder am 3. Dezember im politischen Berlin. Begrüßt wurden sie von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Vertretern der Spitzen der Bundestagsfraktionen. Es war deutlich: Der neue Rat wurde mit gebührender Neugier wahrgenommen.

Mit welchen Argusaugen auch die Medien vor allem auf die neue Vorsitzende blicken, ist dann just vor wenigen Tagen deutlich geworden. Sie alle haben es in der Presse gelesen: Eine Passage in der Neujahrspredigt von Landesbischöfin Käßmann, die – ich zitiere folgendermaßen lautete:

„Nichts ist gut in Afghanistan. All diese Strategien, sie haben uns lange darüber hinweggetäuscht, dass Soldaten nun einmal Waffen benutzen und eben auch Zivilisten getötet werden. Wir brauchen Menschen, die nicht erschrecken vor der Logik des Krieges, sondern ein klares Friedenszeugnis in der Welt abgeben, gegen Gewalt und Krieg aufbegehren und sagen: Die Hoffnung auf Gottes Zukunft gibt mir schon hier und jetzt den Mut, von Alternativen zu reden und mich dafür einzusetzen. … Waffen schaffen offensichtlich auch keinen Frieden in Afghanistan. Wir brauchen mehr Phantasie für den Frieden, für ganz andere Formen, Konflikte zu bewältigen.“

Diese Passage motivierte nicht wenige Redaktionen dieses Landes zu Überschriften wie: „Deutschlands oberste Protestantin predigt gegen den Afghanistan-Einsatz“ oder „Käßmanns Abzugsforderung“ Die teilweise heftigen Reaktionen auch aus dem politischen Raum zeigen, dass die Ratsvorsitzende mit Afghanistan ein hoch sensibles Thema angesprochen hat, das viele Menschen in Deutschland bewegt. Spätestens seit dem Bombardement der beiden Tanklastwagen in Kundus und dem Rücktritt des vormaligen Verteidigungsministers Franz-Josef Jung schaut Deutschland mit noch genauerem Blick auf den Hindukusch. Und: Vielleicht sagen die überwiegend aufgeregten Reaktionen auf so wenige Zeilen einer sechs Seiten langen Predigt mehr aus über den allgemeinen Blick auf Afghanistan als das gepredigte Wort an sich.

In einer solchen sehr angespannten Situation tut es gut, sich zu besinnen auf die grundsätzlichen Äußerungen der EKD zu Frieden und Krieg. Die friedensethische Positition der EKD ist in der Denkschrift „Aus Gottes Frieden leben - für gerechten Frieden“ festgeschrieben. Die Kammer für Öffentliche Verantwortung hatte diese Schrift schon 2007 vorgelegt - als Reaktion auf den Afghanistankrieg, der Vorgeschichte und dem Verlauf des Irakkrieges, dem Zerfall von Staaten, neuen innerstaatlichen Konflikten und einer zunehmenden Zahl humanitärer Interventionen.

Der schon damals viel beachtete Text erfährt in diesen Tagen neue Aktualität. Klar spricht sich die evangelische Kirche darin für die nachhaltige Sicherung von Frieden aus. Die ge-waltfreie Lösung von Konflikten erhält eindeutigen Vorrang vor militärischem Eingreifen, das lediglich als äußerstes Mittel legitim sein soll. Statt an der Lehre vom „gerechten Krieg“, nach der Kriege unter bestimmten Voraussetzungen gerechtfertigt sein können, orientiert sich die EKD-Denkschrift am Leitbild des „gerechten Friedens“. „Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten. Wer aus dem Frieden Gottes lebt, tritt für den Frieden in der Welt ein.“ Diese Kernaussagen verdeutlichen nach wie vor die friedensethische Position des deutschen Protestantismus. Danach erfordert wirksame Friedenspolitik den Abbau von Gewalt; die Ziele militärischen Handelns sollten stets im Sinne der Wiederherstellung einer Friedensordnung klar sein und im Blick auf ihre Erfolgsaussichten festgelegt werden. Ebenfalls sollen die internationale Rechts-ordnung und eine gerechte Weltwirtschaft fortentwickelt werden. „Durchgängig wird in der Denkschrift die Notwendigkeit der Prävention hervorgehoben; gewaltfreien Methoden der Konfliktbearbeitung wird der Vorrang zuerkannt; den zivilen Friedens- und Entwicklungsdiensten wird für die Wiederherstellung, Bewahrung und Förderung eines nachhaltigen Friedens eine wichtige Rolle zugeschrieben“, heißt es in der Einleitung des Textes.

Diese Friedensdenkschrift wird sicherlich am kommenden Montag im Gepäck der Ratsvorsitzenden sein, wenn sie in Begleitung des Bevollmächtigten zu einem Gespräch mit Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg zusammenkommt.

Die Rolle Deutschlands im Blick auf die Kriege und Konflikte der Welt und im Blick auf Af-ghanistan im Besonderen kommentieren die evangelische und die katholische Kirche übrigens regelmäßig, in ihrem jährlichen Rüstungsexportbericht. Sehr genau werden darin die Rüstungsexporte, die Deutschland tätigt, protokolliert und analysiert. Wir haben hier eine Vorreiterrolle, weil wir – durch die GKKE, die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwick-lung - die einzigen Nichtregierungsorganisationen sind, die der jeweiligen Bundesregierung in dieser Sache regelmäßig und sehr präzise ein feedback geben.

Der aktuelle Bericht ist noch keine vier Wochen alt, er stammt vom Dezember vergangenen Jahres. Darin haben wir festgestellt, dass die Genehmigungen für Rüstungs-exporte für das Jahr 2008 insgesamt ein anhaltend hohes Niveau haben. Es umfasst 8,32 Milliarden Euro. Besonders besorgniserregend ist – und damit sind wir wieder in Afghanistan – besorgniserregend ist die Tatsache, dass Lieferzusagen in relevanten Größen an Drittstaaten wie beispielsweise Afghanistan und Pakistan erfolgt sind. Die einst unter dem Vorzeichen des „Krieges gegen den Terror“ begonnenen und bis heute andauernden militärischen Auseinandersetzungen in Afghanistan, im Irak ziehen ganz offensichtlich auch für deutsche Rüstungshersteller neue Exportgeschäfte nach sich. Es ist außerdem kein Geheimnis, dass der bestimmungsgemäße Verbleib von Waffen deutscher Herkunft nicht immer gesichert ist. Wir kritisieren außerdem, dass die Lieferung von deutschen U-Booten nach Pakistan im latenten Konflikt mit Indien die regionale Rüstungsspirale weiter anheizt. Die umfangreichen Gelder, die Pakistan für Rüstungskäufe ausgibt, fehlen in diesem Entwicklungsland an anderer Stelle.

Der Rüstungsexportbericht 2009 bezog sich noch auf die Genehmigungspraxis der Großen Koalition – wie wird es die neue Bundesregierung mit diesem Thema halten? Wir fordern mit Nachdruck, die Ausrichtung der Rüstungsexportpolitik weniger an außen- und industriepolitischen Aspekten zu orientieren, und dafür friedens- und entwicklungspolitische Dimensionen stärker zu berücksichtigen.

Frieden ist und bleibt also eines der bestimmenden Themen unserer Zeit. Unfrieden auf der Welt bereitet auch zusehends das Thema Klimawandel. Der Kampf gegen den Klimawandel und seine Folgen ist in der EKD seit dem letzten Jahr besonders mit dem Namen der neuen Präses verbunden. Katrin Göring-Eckardt, seit Mai 2009 Nachfolgerin von Barbara Rinke im Amt der Präses der Synode der EKD, hat schon in ihrer Antrittsrede deutlich gemacht, wie sehr ihr dieses Thema am Herzen liegt – und damit Eulen nach Athen getragen. Denn schon ein Jahr zuvor war der Klimawandel Schwerpunktthema der Synode gewesen. In ihrer Reso-lution hatten die „Kirchen-parlamentarier“ eine Trendwende in der Treibhausgas-Emissionsentwicklung gefordert.

Die Synode im vergangenen Jahr konkretisierte ihre Forderungen mit Blick auf den Kopen-hagener Klimagipfel: Die Bundesregierung möge sich verbindlich verpflichten, die CO2-Emissionen Deutschlands bis zum Jahr 2020 gegenüber 1990 um mindestens 40 Prozent zu reduzieren und sich an den Kosten zu beteiligen, die für Anpassungs-maßnahmen in vom Klimawandel betroffenen Entwicklungsländern heute und künftig anfallen. Kurz vor der Kopenhagener Konferenz haben Katrin Göring-Eckardt und ich diesen Forderungen durch eine öffentliche Erklärung noch einmal Nachdruck verliehen. Erfreulicherweise beinhaltet auch der neue Koalitionsvertrag das Ziel der Reduzierung von Treibhausgas-Emissionen in Deutschland um 40 Prozent, allerdings, Sie wissen es, kommt es in diesem Zusammenhang nicht nur auf Deutschland an.

Mit entsprechend großer Aufmerksamkeit hat die Evangelische Kirche den Klimagipfel in Kopenhagen verfolgt. Mit den Ergebnissen des Gipfels können wir kaum zufrieden sein. Das beschworene Ziel, die Temperaturerwärmung auf zwei Grad Celsius zu begrenzen, wird (nach Ansicht unserer Experten) mit der unverbindlichen Kopenhagener Absichtserklärung nicht erreicht. Die Folgen werden uns alle treffen, vor allem aber die armen und besonders schutzlosen Menschen in den schon heute deutlich vom Klimawandel betroffenen Entwicklungsländern. Daher wollen und können wir weder die Bundesregierung  noch die Europäi-sche Union auch nach Kopenhagen nicht aus ihrer unvermindert großen Verantwortung entlassen. Der Auftrag, für den überfälligen Wandel in der globalen Klimapolitik einzutreten, gilt jetzt erst recht. Die Heraus-forderungen des Klimawandels sind untrennbar verbunden mit einer anderen großen Herausforderung, die uns im vergangenen Jahr erschüttert hat: die Finanz- und Wirtschaftskrise. Beide Problemfelder fordern dringlich zu einem gründlichen Wandel des Denkens und Handelns heraus. Die Evangelische Kirche hat daher auch immer wieder eine ausführliche Debatte um die Zukunft unseres Wirtschaftssystems angemahnt, und sich für die soziale Marktwirtschaft und Regelungen zur Kontrolle der internationalen Finanzmärkte stark gemacht. Zusammengefasst wurden die evangelischen Überlegungen im „Wort des Rates zur globalen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise“, das im Juli der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Dieser Text des Rates trägt den Titel: „Wie ein Riss in einer hohen Mauer.“ Dieses Wort ist dem 30. Kapitel des Jesajabuches entnommen. Der Prophet kleidet seine Botschaft vom Verhängnis seines Volkes in das Bild eines Risses, der sich, zunächst kaum sichtbar, immer weiter in eine hohe Mauer frisst, bis der Mörtel rieselt, der die Steine hält, ja bis am Ende die ganze Mauer einstürzt. Aus der prophetischen Perspektive ist der Zusammenbruch deshalb unausweichlich, weil das Volk sich auf falsche Sicherheiten verlassen hat und den lebensdienlichen Geboten Gottes nicht gefolgt ist. In dieser Schrift formulierte der Rat: „Aus dem geforderten Umschwung muss eine Umkehr werden. Die globale Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise darf, aus der Perspektive der nötigen Umkehr gesehen, nicht isoliert betrachtet werden. Sie rückt vielmehr in den Horizont nachhaltiger Entwicklung. Kurzfristig angelegte Maßnahmen müssen auf ihre Vereinbarkeit mit weltweiter Gerechtigkeit und Generationengerechtigkeit ebenso geprüft werden wie auf ihre Umweltverträglichkeit. Eine Stabilisierung der Märkte um den Preis weiter zunehmender Armut, auf Kosten nachfolgender Generationen oder verbunden mit weiteren Umweltbelastungen würde in kurzer Zeit die nächste Krise heraufbeschwören.“

Ich habe eben von den „lebensdienlichen Geboten Gottes“ gesprochen. Ein ganz besonders wichtiges Gebot – auch und gerade in Zeiten der Wirtschaftskrise ist dasjenige, in dem es um die Ruhe von der Arbeit geht. (In der Bibel heißt es: „Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt." (2. Buch Mose, Kapitel 20)). Sie alle haben durch die Medien wahrgenommen, dass das Bundesverfassungsgericht vor wenigen Wochen, am 1. Dezember, ein Urteil zum Schutz des Sonntags gefällt hat. Dieses hat die Kirchen – und sicherlich nicht nur die – sehr gefreut. Die Richter in Karlsruhe haben festgestellt, dass das Berliner Ladenschlussgesetz in keiner Weise verfassungsgemäß ist und die bislang erlaubte Öffnung der Geschäfte zum Beispiel an allen vier Adventssonntagen nicht zulässig. Dieses Urteil ist sehr wichtig für die Kirchen und die gesamte Gesellschaft: Es stärkt die christlich geprägte Feiertagskultur in unserem Land und stärkt den Schutz des Sonntags, der in unserer Verfassung garantiert ist. Es ist ein Gewinn für die Lebensqualität der Menschen. Der Rhythmus von Arbeit und Freizeit ist wichtig für jeden Einzelnen. Wir hoffen sehr, dass dieses Urteil Folgen auch für andere Arbeitsbereiche hat. Sehr vieles, aber nicht alles, was derzeit in Deutschland an Sonntagen gearbeitet wird, ist wirklich notwendig. Außerdem verbinden wir mit diesem Urteil die Hoffnung, dass die Länderparlamente der dar-in enthaltenen Wegweisung bei künftigen Entscheidungen beherzt folgen werden.

Für diesen Erfolg hatten viele Menschen in beiden großen Kirchen hart gearbeitet. Während die Meisten aber – verständlicherweise – auf Berlin blickten, hat sich unser Büro in Brüssel zusammen mit den ökumenischen Partnern außerdem auf europäischer Ebene für den Sonntagsschutz eingesetzt. Über die Revision der Arbeitszeitrichtlinie sollte der besondere Schutz dieses Tages im Gemeinschaftsrecht verankert werden. Trotz der großen fraktions-übergreifenden Zustimmung der Europaabgeordneten wurde der Änderungsantrag zum Sonntagsschutz leider nicht zur Abstimmung zugelassen. Das bedauern wir sehr, können aber immerhin feststellen, dass es durch das abgestimmte Vorgehen der Kirchen in Europa gelungen ist, das Thema „Sonntagsschutz“ auf EU-Ebene über alle Parteigrenzen hinweg  ins Bewusstsein zu bringen.

Nachdem die Verhandlungen über die Arbeitszeitrichtlinie unter der tschechischen Ratsprä-sidentschaft gescheitert sind, soll im kommenden März mit einer Veranstaltung im Europäi-schen Parlament unter Beteilung der Kirchen und der Sonntagsallianz ein frischer Anlauf unternommen werden, den neuen Sozialkommissar für eine Verankerung des Sonntags-schutzes auf europäischer Ebene zu gewinnen.

Meine Damen und Herren, Sie hören und wissen: Mit ihrem Engagement für den Sonntags-schutz, mit ihren Anstrengungen im Blick auf Wirtschaftskrise, Klimawandel und Frieden blickt und handelt die EKD selbstverständlich immer auch über den nationalen Tellerrand hinaus. Kaum eines der heute drängenden Probleme betrifft nur uns Deutsche, alles hängt mit allem zusammen.

Das gilt auch für die Themen Migration, Integration und Flüchtlingsschutz. Sie wissen, dass sich unsere Kirche als „Anwältin der Schwachen“ diese Themen von jeher und aus dem biblischen Auftrag heraus zu Eigen gemacht hat. Wir setzen uns dafür ein, die Gründe zu minimieren, die Menschen dazu bringen, ihre Heimat zu verlassen. Und wir kümmern uns um diejenigen, die dies trotzdem tun müssen. Daher war es im vergangenen Jahr ein sehr positives Ereignis, dass die Innenminister entschieden, 2500 Flüchtlinge aus dem Irak in Deutschland aufzunehmen, für die wir uns sehr eingesetzt hatten. Viele dieser Menschen mussten fliehen, weil sie aufgrund ihrer Religions-zugehörigkeit verfolgt wurden, aber auch anderen besonders Schutzbedürftigen – Alten, Kranken und Alleinerziehenden – hat Deutschland die Aufnahme glücklicherweise nicht verweigert. Wichtig war uns, dass auf der Ebene der Landeskirchen und Gemeinden alles getan wird, um die hier Ankommenden nach Kräften zu unterstützen.

Immer wieder hat die EKD in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass auch in Deutschland eine regelmäßige jährliche Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen im Rahmen eines „Resettlement-Programms“ eingerichtet werden sollte.

Bei der Aufnahme von Flüchtlingen haben für die Kirchen immer humanitäre Grundsätze Vorrang, obwohl wir froh sind, dass wir auch unsere christlichen Schwestern und Brüdern unterstützen können. Dass Christen im Irak und anderswo unterdrückt, bedroht und verfolgt werden, kann uns nicht kalt lassen. Angehörige vieler religiöser Minderheiten leiden auch in unserer Zeit unter massiver Bedrängnis, Christinnen und Christen sind jedoch die weltweit am stärksten verfolgte Religionsgruppe. In Deutschland ist uns das oft nicht bewusst. Im kommenden Jahr werden wir daher erstmals in der Passionszeit am Sonntag Reminiszere (28. Februar 2010) einen "Tag der verfolgten Christen" begehen, wie ihn die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland vorgeschlagen hat.

Wie es um die Religionsfreiheit und die Situation der Christen in der Türkei seht, konnte ich im vergangenen Jahr persönlich erfahren. Mit einer Delegation des Rates der EKD besuchte ich das Land. Die EKD wollte durch diese Reise im Blick auf die Diskussion um die Mitglied-schaft der Türkei in der EU den christlichen Minderheiten vor Ort Aufmerksamkeit zukommen lassen. Von den ca. 100.000 Christen, die heute noch in der Türkei leben und die nicht mehr als 0,15 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen, gehören noch ca. 2000 orthodoxe Christen zu den Gemeinden des Ökumenischen Patriarchates. Dies ist nicht immer so ge-wesen. Vor dem Ersten Weltkrieg betrug der Anteil christlicher Ethnien innerhalb der Gren-zen der heutigen Türkei noch rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung, ca. 20 Prozent gehörten zu den Gemeinden des Ökumenischen Patriarchates. Dies ist eine dramatische Entwick-lung, die anhält. ((Das drängendste aller Probleme der christlichen Kirchen in der Türkei ist, dass ihre Institutionen nicht als `juristische Person` anerkannt sind. Infolgedessen dürfen die Gemeinden keine Immobilien besitzen. Das türkische Recht kennt zwar die Möglichkeit, dass Stiftungen gegründet werden können, doch kommt dieses Gesetz noch nicht regelmäßig zur Anwendung. Nicht selten war in der Vergangenheit die Konfiszierung von Immobilien die Regel.))

In der Türkei gibt es allenfalls eine „gestufte“ Religionsfreiheit: Der sunnitische Islam wird behandelt wie eine Staatsreligion, um die sich ein eigenes Ministerium kümmert. Die staatliche Anbindung des Islam hat zum Zweck, die Religion und ihre Anhänger zu kontrollieren, religiöse Eiferer und Nationalisten in die Schranken zu weisen. Während sich der Staat dem sunnitischen Islam völlig annimmt, werden die anderen Religionen als nicht türkisch angesehen. Diese und andere Formen der Unterdrückung christlicher Minderheiten haben dazu geführt, dass viele Christen aus ihrem Heimatland emigrierten. Ob die christlichen Kirchen in der Türkei eine Zukunft haben, ist zumindest bei den griechisch-orthodoxen Christen eine berechtigte Frage, denn das Priesterseminar Chalki ist seit 1971 geschlossen. Priesterlicher Nachwuchs kann seitdem nicht mehr in der Türkei selbst ausgebildet werden. Wer aber die Ausbildung von Geistlichen nicht zulässt, nimmt der Kirche die zukünftige Generation.

Der künftige Umgang der türkischen Regierung mit der Religionsfreiheit ist der Lackmustest für die Tauglichkeit der Türkei als EU-Mitglied. Bevor ein Beitritt in Erwägung gezogen wird, muss sich die Situation der christlichen Minderheiten entschieden verbessert haben.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluss. Ich will das aber nicht tun, ohne nicht noch einmal einen Blick zu werfen auf das, was uns erwartet. Wie wird es weiter gehen mit unserer evangelischen Kirche? Ich habe schon gesagt und Sie hoffentlich überzeugt, dass wir im Ringen um die Weitergabe des christlichen Glaubens in unserem Land auf einem guten Weg sind. Ich will Sie aber nicht nur mit meiner subjektiven Wahrnehmung zu diesem Thema in die Welt ziehen lassen, sondern schließlich auch noch einen Anderen zu Wort kommen lassen. Einen, der, obwohl Katholik, die Geschicke unserer Kirche schon seit vielen Jahren mit kritischem und konstruktivem Blick begleitet. Der Journalist Matthias Drobinski schreibt rückblickend auf die Neunziger Jahre: „Poltisch unbedarft und im Zweifel nicht kampagnefähig, so stand die evangelische Kirche da, nackt im kalten Wind der Säkularisierung. Sie schien die Kraft ihres Glaubens vergessen zu haben…“. Inzwischen hat sich die Außenansicht dramatisch geändert: „So steht sie da, die evangelische Kirche“, schreibt Drobinski: „Tastet sich manchmal mehr voran auf ihrem Weg als dass sie losstürmt, sucht manchmal mehr als dass sie weiß. Sie findet zusehends zu einer eigenen Spiritualität, was sie sich lange nicht mehr getraut hat. Und wenn sie gut ist, tut sie es vorsichtig und schüchtern, ohne Schwulst und esoterischen Zauber. Vielleicht ist das gar nicht schlecht, das Tastende, Suchende, Entdeckende. Weil es näher an Bibel und Bekenntnis ist als das allzu Selbstgewisse.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.