„Bildungsziel Pluralitätsfähigkeit?! - Toleranz lernen an Evangelischen Schulen“

Birgit Sendler-Koschel

Vortrag zum 25-jährigen Jubiläum des Evangelischen Schulwerks in Baden und Württemberg

Im Sommer 2013 ist es wieder soweit: Alle Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Schule Berlin Zentrum brechen zu ihrer „Herausforderung“ auf. In Gruppen von mindestens vier Schülerinnen und Schülern aus den Klassen 8 - 10. Die „Herausforderung“ kann eine Fahrradtour sein, ein Auslandsaufenthalt, eine sportliche oder soziale Tat – möglichst nicht in der Heimatstadt Berlin, sondern anderswo. 150 Euro im Geldbeutel müssen reichen. Das Handy bleibt zuhause. Drei Wochen lang entdecken die Mädchen und Jungen viele unbekannte Seiten ihrer eigenen Person, ihrer Mitschüler und vor allem eine große Vielfalt an fremden Lebenskulturen. Sie starten mit wenig Geld und kommen mit reichlich neuen Erfahrungen zurück. In der Schule werden die Erfahrungen mit der Herausforderung aufgearbeitet. Das Projekt „Herausforderungen“ an der evangelischen Schule ist ein Baustein in einer Pädagogik, die Persönlichkeitsentwicklung und Pluralitätsfähigkeit fördert.

„Vielfalt ist unser Potenzial“ lautet ein Motto des Evangelischen Schulwerks in Baden und Württemberg, das in seinen 200 evangelischen Schulen eine Vielfalt von allgemeinbildenden Schulen aller Schularten bis hin zu berufsbildenden Schulen vereint. Besondere Schulprojekte und Bildungsbausteine wie den eben beschriebenen gibt es auch in ihnen.

Vielfalt kennzeichnet die pädagogischen Wege an evangelischen Schulen und die Schullandschaft selber. So vielfältig wie die innerprotestantische Pluralität[1] sind auch die Gründungsgeschichten, Gründungsmotive, Schularten und Schulprofile in den 1100 evangelischen Schulen in Deutschland[²].

Lernen die Schülerinnen und Schüler in diesem vielfältigen evangelischen Schulwesen, mit Vielfalt reflektiert umzugehen und in der Vielfalt ihre eigene Identität zu entwickeln? Wollen und können evangelische Schulen die Pluralitätsfähigkeit ihrer Schülerinnen und Schüler so geplant anbahnen und erweitern, dass von einem „Bildungsziel Pluralitätsfähigkeit“ gesprochen werden kann?
 
1. Pluralität im Schulwesen und das Grundgesetz – evangelische Schulen als Teil des öffentlichen Schulsystems

Gäbe es keine evangelischen Schulen und andere Schulen in freier Trägerschaft, dann würde dem öffentlichen Schulwesen etwas fehlen.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten nach den Erfahrungen mit der Nazidiktatur sehr bewusst über Artikel 7 des Grundgesetzes ein Schulwesen vorbereitet, das von Vielfalt und unterschiedlicher Trägerschaft geprägt sein sollte. In Deutschland sollte es Schulen geben, die Rechenschaft darüber geben können, auf der Basis welcher weltanschaulichen oder religiösen Grundlagen sie ihr pädagogisches Handeln aufbauen. Schulen in staatlicher und freier Trägerschaft sollen sich gegenseitig ergänzen und befruchten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten ebenso wie viele Menschen im Osten Deutschlands nach der Wende genug von der Einheitsschule einer Diktatur, vom Missbrauch des Bildungswesens zur Indoktrinierung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Sie sehnten sich nach dem offenen gesellschaftlichen Diskurs, den eine freiheitliche Demokratie braucht und wollten ihn auch durch ein plural aufgestelltes Schulwesen absichern. Daher sind Schulen in freier Trägerschaft vom öffentlichen Bildungsetat angemessen mit zu finanzieren, so dass sie in ihrem Bestand und in der Geldmittel benötigenden pädagogischen Qualitätsentwicklung nicht gefährdet sind.

Für die kirchlichen oder diakonischen Träger evangelischer Schulen war und ist unhintergehbar, dass evangelische Schulen offen sind für alle – und dass Kirche und Diakonie sich mit ihnen mitten in der Gesellschaft und für die Gesellschaft engagieren.

Kirche macht Schule mit einem ‚evangelischen Profil‘. ‚Evangelisches Profil‘ – das hat für viele Menschen einen guten Klang. In einer Elternuntersuchung an evangelischen Schulen im Nordosten Deutschlands[3] zeigte sich, dass der Boom auf evangelische Schulen mit darin begründet ist, dass Eltern an einer evangelischen Schule erwarten und erleben, dass „sich hier die Persönlichkeit meines Kindes am besten entfalten kann“.

Individuelle Förderung, das Engagement für ein gutes Schulklima, das Anliegen, die gottgeschenkte Menschenwürde nicht nur kognitiv zu erschließen, sondern auch erlebbar zu machen sind Eltern wichtig.

Die Grundlage dafür ist bei allen evangelischen Schulen dieselbe.

Die Evangelische Schule Neuruppin in Brandenburg, die dieses Jahr mit dem Hauptpreis des Deutschen Schulpreises ausgezeichnet wurde, benennt das, was evangelische Schulen ausmacht und dem Handeln aller an der Schule zugrunde liegt, sehr biblisch und sehr christlich: Liebe. Sie geht in ihrem Leitbild vom Hohenlied der Liebe aus 1. Kor 13,13 („Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei. Die Liebe aber ist die größte unter ihnen“.) aus und entwickelt ‚Liebe‘ entsprechend 1. Kor 13 als Gottes, Selbst- und Nächstenliebe zum offenen Leitbild. Es lautet:

"Lehren ohne Liebe macht müde,
Lernen ohne Liebe macht blind,
Leistung ohne Liebe macht erbarmungslos,
Erfolg ohne Liebe macht einsam…“.

Das Evangelisch-Sein wird in Neuruppin Tag für Tag neu in den Alltag der Schule übersetzt, indem differenzierter Unterricht und wissenschaftliche Kolloquien, Theaterspielen, Musik und Debating, Diakonieprojekte und die tägliche, persönlich gestaltete Morgenbesinnung im Geist der Nächstenliebe und im Glauben an die Liebe Gottes gestaltet werden.

Ist solch eine Schule, ist evangelische Schule überhaupt noch passend zu unserer Zeit? - so fragen manche Zeitgenossen. Konfessionalität und christlicher Glaube scheinen überholt zu sein in einer Gesellschaft, in der die religiöse und weltanschauliche Pluralität zunimmt. Religion wird eher mit Fundamentalismus verbunden denn mit Pluralitätsfähigkeit. Die Lösung scheint in der religionsneutralen Schule zu liegen. Bildung über Religion soll dann in religionswissenschaftlicher Perspektive geschehen – in der Meinung, diese neutrale Unterrichtung über Religion fördere Dialogfähigkeit. Dabei ist erkenntnistheoretisch interessant, dass damit die Religionswissenschaft eine Form der ‚göttlichen‘, alles überblickenden Perspektive einnimmt auf das, was in den Religionen jeweils als letztgültig geglaubt und erkannt wird.

In der Praxis zeigt sich mancherorts[4], dass religiöse, politische, soziale Dialogfähigkeit zu erweitern dann besser funktioniert, wenn Menschen, für die eben nicht alles gleich gültig ist, lernen, miteinander ins Gespräch zu kommen und tolerant und interessiert auf die zuzugehen, die anders glauben, denken und kulturell verortet sind als sie selbst.

In der Berichterstattung über den Hauptpreis des Deutschen Schulpreises an die ev. Schule Neuruppin war die Überraschung spürbar, dass eine so leistungsstarke Schule zugleich ein so gutes Schulklima haben kann und mit einem dezidiert christlichen Leitbild Erfolg hat. Es wurde von „Herzensbildung“ berichtet. Vom Leitbild der Gottes- und Nächstenliebe, von der Trägerschaft durch die Schulstiftung einer evangelischen Landeskirche, von der täglichen Morgenbesinnung als einer geprägten christlichen Form der Spiritualität kam in einigen Artikeln kein Wort vor.

Auch wenn evangelische Schulen sich bei Anfragen an die pädagogische Qualität nicht zu verstecken brauchen, müssen sie sich doch dem gesell-schaftlichen und politischen Diskurs darüber stellen, wie weit Religion im öffentlichen Raum und damit auch in der Schule sichtbar und engagiert gelebt werden kann und vor allem: Ob evangelische Schulen fähig sind, mit ihrem evangelischen Profil Pluralitätsfähigkeit und Identitätsfähigkeit zu fördern?

2. Pluralitätsfähigkeit in Gesellschaft und Kirche – sozio-kulturelle und psychologische Aspekte

Der reflektierte und offene Umgang mit Heterogenität, bzw. mit ‚Diversity‘ und Pluralität gehört schon jetzt zu den Schlüsselkompetenzen für das Leben in einer pluralen Gesellschaft in Europa und weltweit.

Pluralitätsfähigkeit ist die Fähigkeit, reflektiert, begründet urteilend, offen für andere und aktiv handelnd mit religiöser, kultureller, sozialer und politischer Pluralität umgehen und Pluralismus mitgestalten zu können[5]. Die Pluralitäts-fähigkeit bedarf der Identitätsfähigkeit als Ergänzung.

In einer freiheitlich und pluralistisch verfassten Demokratie gehört die Pluralitätsfähigkeit zu einer der wichtigsten Voraussetzungen für gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben. Das gilt insbesondere vor dem Hintergrund der zunehmenden religiösen und weltanschaulichen Pluralität hierzulande.

Fast zwei Drittel der Migrantinnen und Migranten in Deutschland sind Christinnen und Christen verschiedener Konfessionen, etwas mehr als ein Drittel bekennt sich zu anderen (überwiegend Islam) oder auch keiner Religion. Sie bringen Farbe und Vielfalt in das religiöse und gesellschaftliche Leben hierzulande. Der Kontakt mit ihnen und ihre Inklusion in unsere Gesellschaft ist auch Aufgabe der Evangelischen Kirche und damit ihrer Schulen. Gegenwärtig befasst sich der Rat der EKD mit der Frage verstärkter Kooperation mit Gemeinden anderer Sprache und Herkunft. Es stellt sich die Frage, wie die Evangelische Kirche in ihren Gemeinden, Kindertagesstätten und Schulen noch offener und interessierter auf Migranten zugehen kann und ihnen mehr Teilhabe und Mitgestaltung anbietet als durch die bisher oft eher distanziert gestaltete Gastfreundschaft. Als Teil unserer Gesellschaft ist die Evangelische Kirche, sind evangelische Schulen gefordert, wie sie Diversity-Konzepte aufnehmen und pluralitätsfähiger werden.

Nicht nur sozio-kulturelle, auch theologische Gründe legen eine verstärkte Beschäftigung mit der Frage nach Toleranz und Pluralitätsfähigkeit nahe. Denn die Kirche Jesu Christi schöpft aus der Einkehr bei Gott Kraft für ihre Zuwendung zur Welt. Christlicher Glaube kann sich nicht mit sich selbst begnügen. Er zielt auf die aktive Gestaltung des Lebens – nicht nur des eigenen. Gelebte Nächstenliebe hat ihren Ort mitten in Gesellschaft und Sozialraum. Und diese Gesellschaft verändert sich – hin zu mehr Pluralität.

Für die christliche Kirche war Pluralität stets ein Lernfeld. Bis heute lernt die Kirche hier. Nicht wenige Zeitgenossen, auch Christinnen und Christen, fühlen sich angesichts einer pluraler werdenden Gesellschaft verunsichert. Angst vor dem Fremden entsteht da, wo Menschen befürchten, dass durch die Fremdheitswahrnehmung ihre eigene Ordnungskonstruktion gefährdet werden könnte. Bildung trägt dazu bei, dass die für die Identität wichtige Ordnungskonstruktion stabil ist und zugleich gegebenenfalls aus guten Gründen veränderbar bleibt. Ein gebildeter Mensch kann eher das Wagnis eingehen bzw. die Chance nutzen, sich durch Anderes und Fremdes hinterfragen und in seinen Perspektiven bereichern zu lassen. Während kleine Kinder ihre inneren Ordnungsmuster erst konstruieren und daher fast allem, was ihnen an Unbekanntem begegnet, weitgehend offen entgegentreten, nehmen Menschen mit zunehmendem Alter und damit bereits fester konstruierter Ordnungskategorien das ganz Andere stärker als fremd wahr[6].

Pluralitätsfähigkeit und Identitätsfähigkeit zu fördern, muss früh beginnen. Herausgefordert sind hier besonders die Kindertagesstätten und die Schulen – auch die in evangelischer Trägerschaft. Vom Leitbild gelebter Nächstenliebe her, vom Glauben an Gott und dem Eintreten für die unverlierbare Menschenwürde jedes von Gott ins Leben gerufenen Menschen her, kann eine evangelische Bildungsarbeit gar nicht anders, als Diversity zu bejahen, sie als Reichtum zu sehen und das Lernen an der Differenz zu gestalten.

3. Toleranz als Lerngeschichte – theologische Impulse der Reformation, Intoleranz und Neuaufbrüche

Die Geschichte von Toleranz und Pluralitätsfähigkeit in der Evangelischen Kirche kann man nur als ‚Lerngeschichte der Toleranz‘ beschreiben.

Diese noch andauernde Lerngeschichte bearbeitet die Evangelische Kirche in Deutschland in diesem Jahr 2013, dem Themenjahr „Reformation und Tole-ranz“. Auf dem Weg der Dekade hin zum 500. Reformationsjubiläum 2017 bietet das Themenjahr „Reformation und Toleranz“ ein Forum für die kritische Auseinandersetzung mit Intoleranz und Toleranz in Geschichte und Gegenwart. „Toleranz gehört zum Wesen des Christentums, Intoleranz zu den offenkundigen Kennzeichen seiner Geschichte“[7].

Ob diese Geschichte 2013 auch durch und mit evangelischen Schulen erforscht und gedeutet wird – damit unsere Toleranz und Pluralitätsfähigkeit wächst?

„Von der Unentbehrlichkeit einer kleinen Tugend für die Demokratie“ betitelte der Politikwissenschaftler Iring Fetscher seine Studie zum Thema Toleranz. Er beschreibt, wie im Lateinischen mit ‚tolerantia‘ das geduldige Ertragen von Schmerzen und Niederlagen bezeichnet wurde. Tolerantia war ein Teil individueller Tapferkeit. Die lateinischen Kirchenväter sprachen von der ‚tolerantia passionis‘, der Leidensfähigkeit der Gläubigen. Nach und nach wurde ‚tolerantia‘ auf andere Bereiche des Lebens übertragen. Augustin riet aus pragmatischen Gründen zur ‚tolerantia‘ gegenüber sündigen Mitchristen und Menschen anderer Religionen. Erst der Philosoph und Kardinal Nikolaus von Kues vollzog eine Wende in der Nutzung des Toleranzbegriffs. Er entwarf schon im 15. Jahrhundert das Bild von einem frühen Pluralismus, in dem Raum ist für verschiedene Formen der Religiosität bei Einigung auf wenige zentrale Dogmen.

„Die Eindeutschung des Wortes verdanken wir Martin Luther. Er versteht „tollerantz“ von der „tolerantia Dei“ her, von der Toleranz Gottes gegenüber menschlichem Versagen. Wolfgang Huber schrieb zur Vorbereitung der Tagung der 10. EKD-Synode 2005 zum Thema „Tolerant aus Glauben“: „Auch der Toleranzbegriff wird also von dem lutherischen Kerngedanken her verstanden, dass der Mensch nicht aus eigener Kraft, sondern nur dank Gottes gnädiger Zuwendung geduldet und anerkannt wird“[8]. Mit dieser theologischen Herleitung aus der Rechtfertigungslehre haben die reformatorischen Kirchen dem Toleranzgedanken der Neuzeit eine Grundlage und Rückenwind gegeben – auch wenn die Reformatoren selber mit denen intolerant umgingen, die ihre theologischen Grundlagen und sozialen Überlegungen nicht teilten.

In der frühen Neuzeit war Toleranz noch ein Terminus für die Duldung abweichender Bekenntnisse, obwohl die Reformation die theologischen und
geisteswissenschaftlichen Grundlagen gelegt hatte für eine Toleranz, die mehr ist als das Dulden anderer. Sie zielt als Teil der Pluralitätsfähigkeit auf das aktive Interesse am Fremden und auf die Bereitschaft, ihn oder sie als Person zu akzeptieren und sich mit seiner oder ihrer abweichenden Meinung diskursiv und friedlich auseinanderzusetzen. 

Diese Toleranz aktiviert Menschen, auf Fremde zuzugehen. Sie gründet in der Toleranz Gottes, in seiner Liebe zu jedem Menschen, deren Wirkung die gelebte Nächstenliebe ist.

Doch die für ein aktives Leben-Können dieses Toleranzbegriffs nötige Pluralitätsfähigkeit musste mühsam in den konfessionellen Bürgerkriegen der frühen Neuzeit und in der Aufklärung errungen werden. Erst mit dem Gedanken der Autonomie des menschlichen Willens verbindet sich in den Lernprozessen der Aufklärung die Einsicht, dass der Grundsatz der Autonomie jeder Person auch die Anerkennung von Personen mit anderer Haltung und Meinung inkludiert. Diese Erkenntnis rang die Aufklärung oft gegen die verfassten Kirchen durch.

4. Bildungsziel Pluralitätsfähigkeit – Toleranz lernen an evangelischen Schulen

Was könnte das ‚Bildungsziel Pluralitätsfähigkeit‘ bedeuten für die 200 evangelischen Schulen, die sich im evangelischen Schulwerk Baden und Württemberg zusammengeschlossen haben?

Ich möchte die bisherigen Überlegungen bündeln, pädagogisch fokussieren und in drei Beispielen aus den 1100 evangelischen Schulen, die es in der Bundesrepublik Deutschland gibt, konkretisieren.

‚Toleranz lernen‘ und das ‚Bildungsziel Pluralitätsfähigkeit‘ anzustreben, ist eine schulpädagogische Aufgabe, die evangelische Schulen leisten können, die sie vielleicht sogar um ihres evangelischen Profils willen in besonderer Weise zu leisten haben. Denn von der Toleranz Gottes her gedacht, kann nur ein konstruktiver und aktiver Umgang mit Diversität Reaktion von Christinnen und Christen sein auf die erlebbare Vielfalt der Menschen.

Die „Pädagogik der Vielfalt“, wie sie Annedore Prengel zu Beginn der neunziger Jahre anregte, muss weiter entwickelt werden und wird weiter entwickelt. Dabei gibt es in evangelischen Schulen ein spezifisch christlich profiliertes Band, das interkulturelles und interreligiöses Lernen, das den Umgang mit Vielfalt in allen Perspektiven, das die Inklusion von Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf zusammenhält: Dieses Band ist die aus der Toleranz Gottes fließende gelebte Nächstenliebe unter gemeinsam lebenden und lernenden Menschen. Wer ihr begegnet, erlebt Achtung vor der Andersartigkeit anderer und wird ermutigt, einen eigenen Standpunkt inmitten von Menschen mit verschiedenen Haltungen zu entwickeln, und zugleich mit ihnen und vielleicht auch einmal für sie zu leben.

Es gilt, in der pädagogischen Arbeit evangelischer Schulen Identitätsbildung zu unterstützen und Pluralitätsfähigkeit anzubahnen.

Dabei geht es um religiöse, soziale und politische Pluralitätsfähigkeit.

Sie entfaltet sich jeweils in Wahrnehmungs-, Dialog-, Urteils- und Handlungsfähigkeit. Alle Bereiche der Pluralitätsfähigkeit sind in einer evangelischen Schule in der Gesamtheit der schulischen Arbeit und in gegenseitiger Ergänzung der fachlichen Zugänge anzubahnen und zu erweitern. Dabei wird - bedingt durch das evangelische Profil - ein Akzent bei der Erweiterung der religiösen Pluralitätsfähigkeit liegen, die nicht nur im Religionsunterricht in den Blick kommt.

Evangelische Schulen sind hier am Lernen. Dazu stelle ich Ihnen vier Blitzlichter aus evangelischen Schulen in Deutschland vor. Ähnliche Beispiele gibt es an verschiedenen evangelischen Schulen in Baden und Württemberg. Diese Beispiele kennen viele von Ihnen. Daher habe ich Schulen aus anderen Landeskirchen ausgewählt:

  1. Das erste Blitzlicht kam gleich zu Anfang dieses Vortrags:

    Lernen an den vielfältigen Seiten der eigenen Person und der Altersgenossen gestaltet das Projekt „Herausforderung“ der Evangelischen Schule Berlin Zentrum. Hier werden über Persönlichkeitsbildung Grundlagen zur Pluralitätsfähigkeit gelegt.

  2. Lernen an der religiösen Differenz hat sich die Evangelische Gesamt-schule Gelsenkirchen-Bismarck zum Ziel gesetzt. An ihr gibt es ein reiches geistliches Leben, so dass für die Schüler erfahrbar wird, wie gelebte christliche Spiritualität mit evangelischem Profil aussieht. Das ist nicht selbstverständlich in einem Einzugsgebiet, in dem viele Menschen in prekären Lebenslagen leben und wenig Kontakt zu Kirchengemeinden haben. Weil einige Schülerinnen und Schüler aus muslimischen Familien kommen, hat die Schule eine Fächergruppe religiöser Bildung eingerichtet. Regelmäßig kommen die Lerngruppen aus dem evangelischen und dem islamischen Religionsunterricht zusammen. Das Lernen an den Unterschieden hilft, sich des Eigenen bewusster zu werden und offen auf die Menschen anderer Religionszugehörigkeit zuzugehen. Das Konzept stärkt Gemeinsamkeiten und wird Unterschieden gerecht. Der konfessionelle Religionsunterricht wird erfolgreich verbunden mit interreligiösem Lernen.

  3. Lernen, in der freiheitlichen und pluralen Demokratie zu leben, steht im Mittelpunkt des Studienprogramms „Politische Bildung und demokratische Erziehung“ an den evangelischen Schulen der Schulstiftung in Mitteldeutschland. Hier geht es um mehr als Gemeinschaftskunde. Die fünf schon vorhandenen Themenschwerpunkte „Gegen Rechtsextremismus - für Respekt“, „Soziale und diakonische Handlungsfelder“, „Schüler-Demokratie und lokale Demokratie“, „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ sowie „Friedenserziehung“ werden konzeptionell zusammen gedacht und in Aktionen und im Unterricht aufeinander bezogen. So soll die Pluralitätsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler weiter entwickelt werden und Interesse am Engagement in der demokratischen Gesellschaft entstehen.

  4. Lernen, dass eine inklusive Gesellschaft und Schule möglich ist, initiieren die evangelischen Schulen, die bisher Förder- oder Sonderschulen waren und nun Schülerinnen und Schüler ohne sonderpädagogischen Förderbedarf aufnehmen und sich zu einer Grund- oder Gemeinschaftschule weiterentwickeln. Hier kann eine inklusive Inklusion leichter gelingen. Die für die behinderten Schülerinnen und Schüler nötigen Geräte, Räume und Lehrkräfte sind vor Ort, die Lerngruppen oft klein, so dass binnendifferenziertes Lernen leichter möglich ist. Auch hier wird Pluralitätsfähigkeit gefördert. Diese Weiterentwicklung der ehemaligen Sonderschulen gibt es inzwischen vielerorts.

So leisten evangelische Schulen einen wichtigen Beitrag für die demokratische Zivilgesellschaft. Denn wer vom Geist der tolerantia dei, der göttlichen Toleranz berührt ist, gewinnt Freude an der Begegnung mit Menschen, die anders sind als man selbst. Er oder sie lernt interessiert und tolerant auf diese zuzugehen und sich für Toleranz einzusetzen. Denn „Nächstenliebe verlangt Klarheit“[9] im Eintreten gegen Menschen verachtende Haltungen. Sie braucht und schafft gute Bildung, die Pluralitätsfähigkeit anbahnt und erweitert – auch an evangelischen Schulen.


Fußnoten:

  1. Die EKD- Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen. Zuletzt W. Huber/J. Friedrich/P. Steinacker (Hg.), Kirche in der Vielfalt der Lebensbezüge. Die vierte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2006.

  2. Der Begriff „evangelische Schule“ ist nicht geschützt. Zu den 1100 evangelischen Schulen, die in der im Aufbau befindlichen EKD-Schulstatistik aufgenommen wurden, zählen Schulen, die mit den Gliedkirchen der EKD zusammenarbeiten oder in Trägerschaft der Gliedkirchen oder der Diakonischen Werke der Gliedkirchen sind.

  3. Helmut Hanisch/Christoph Gramzow, Elternmotive zum Besuch einer evangelischen Schule. Ergebnisse einer Befragung in Mecklenburg-Vorpommern, 2008, auf http://schulen.evangelischer-bildungsserver.de/files/Untersuchung_-Eltern-_Motive.pdf.

  4. Vgl. die Debatte um „learning about religion“ (John Hull) und ‘learning from religion” (Michael Grimmitt) in Großbrittanien in: M. Grimmitt, Religious Education and Human Development: The Relationship Between Studying Religions and Personal, Social and Moral Education, Great Wakering 1987.

  5. Die anglikanische Kirche gestaltet religious education zunehmend auch in der Organisation über den jeweils regionalen syllabus als dialogisches und positioniertes „learning from religion“.
    Vgl. Friedrich Schweitzer, Pluralitätsfähigkeit als Bildungsziel. Der Beitrag der Theologie zu einer Religionspädagogik für Europa, in: ThQ 188 (2008), 293 - 306.

  6. Zu Ordnungskonstruktionen und dem Umgang mit Fremdem s. Christian Kurzke, Der Drang nach Ordnung oder von der Schwierigkeit der Normalität des Fremden. Gedanken zur Interkulturellen Pädagogik, in: Zusammen sind wir 82 Millionen, Jahrbuch 2011 Ev. Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung, Berlin 2011, S. 68 - 76.

  7. Wolfgang Huber, Toleranz im Christentum, 4. Tagung der 10. Synode der EKD, 2005, S. 64.
      A. a. O., S. 65.

  8. So der Rat der EKD am 8. Mai 2012 zur aktuellen Debatte um Rechtsextremismus, s. http://www.ekd.de/presse/pm88_2012_rechtsextremismus.html