Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

II. Das Gewissen als Zeuge personaler (Nicht-)Identität und die Gefahr der Mythisierung des Gewissens

4. 

In der Mannigfaltigkeit unterschiedlicher Begriffsbestimmungen gilt das Gewissen in der Regel als eine die Ganzheit oder Einheit der menschlichen Person betreffende anthropologische Instanz. Durch sie wird die Person unabweisbar, unbedingt und unüberbietbar beansprucht. In seinem Gewissen wird der Mensch so vor sich selbst zitiert, daß in der Gewissensentscheidung seine Identität auf dem Spiel steht.

5.

In diesem Sinne hat auch das Bundesverfassungsgericht die "Gewissensentscheidung" als "ein 'unmittelbar evidentes Gebot unbedingten Sollens'" begriffen, "das 'den Charakter eines unabweisbaren, den Ernst eines die ganze Persönlichkeit ergreifenden sittlichen Gebots' trägt (BVerfGE 12, 45 <54f.>)". (9)

6.

Gerade weil es im Gewissen um die Ganzheit, Einheit und Identität der menschlichen Person geht, entsteht die Tendenz, dem Gewissen mythische oder quasireligiöse Qualität zuzuschreiben, womit wiederum das Unbehagen gegenüber dem unklaren Ausdruck gesteigert wird - bis hin zur Klage über "mystisches Dunkel". (10)

7.

Die dem christlichen Glauben eigentümliche Hochschätzung des Gewissens darf die Tendenz zur Mythisierung und Vergöttlichung des Gewissens nicht begünstigen. Sie muß ihr entgegenwirken und gegebenenfalls einer - behutsam vorzunehmenden - Entmythisierung des Gewissens zugute kommen.

8.

Dazu gehört die sorgfältige Unterscheidung zwischen dem Gewissen und dem Wort Gottes, zwischen dem Menschen als Täter und dem Menschen als Person. Dazu gehört aber auch die Frage, inwiefern der Glaube selbst mit dem Gewissen übereinstimmt und inwiefern er sich von ihm unterscheidet.

8.1.

Zum Menschen als Täter gehören nicht nur seine Taten, sondern auch seine Unterlassungen. Unterlassen ist eine Unterkategorie des Handelns, insofern es ein bewußtes Verhalten meint.

9.

Die ursprünglich heidnische, aber auch von vielen Theologen vollzogene Identifizierung des Gewissens mit der Stimme der Gottheit hat die Mythisierung des Gewissens besonders begünstigt. Diese Identifizierung, dergemäß "das Gewissen uns allen Gott ist" (11), als "Herold und Bote Gottes: praeco Dei et nuntius" (12) oder als "Orakel aus der ewigen Welt" (13) gilt, ist nachdrücklich zu bestreiten.

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