Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

IV. Irrtumsfähigkeit oder Unfehlbarkeit des Gewissens?

13. 

Ob das Urteil des Gewissens unfehlbar ist oder aber irren kann, ist eine innerhalb und außerhalb der Theologie umstrittene und schwer entscheidbare Frage. Die Einschätzung ihrer Bedeutung und ihre Beantwortung hängen davon ab, was unter 'Gewissen' zu verstehen ist.

14.

Versteht man das Gewissen mit der vorchristlichen Überlieferung als Stimme der Gottheit, dann muß es als unfehlbar und insofern auch als vollkommen gelten. In diesem Sinne haben Dichter, Philosophen und Theologen das Gewissen als "ein Heiligthum" verstanden, "welches anzutasten Frevel wäre" (15), und "ein irrendes Gewissen" als "ein Unding" behauptet. (16)

15.

Dementsprechend gilt nur das, was gegen das Gewissen geschieht, als Sünde: "peccatum non est nisi contra conscientiam". (17)

16.

Gegen die Behauptung der Unfehlbarkeit des Gewissens wurde von kirchlicher, gesellschaftlicher und staatlicher Seite geltend gemacht, daß dann das subjektiv für gut und recht beziehungsweise böse und unrecht Erachtete gegen das allgemein als gut und recht bzw. böse und unrecht Geltende aufgeboten werden kann und daß dadurch die Institutionen des geistlichen und weltlichen Rechtes und die ihnen zugeordnete Sittlichkeit problematisiert werden können.

17.

Man hat deshalb entweder generell die Irrtumsfähigkeit des Gewissens behauptet oder aber innerhalb des Gewissens unterschieden zwischen

17.1

der irrtumsfähigen und aufgrund falscher Information und Orientierung irrenden conscientia des Sünders und

17.2

der durch den Sündenfall nicht lädierten, mit den Prinzipien des Naturrechtes beziehungsweise des geistlichen Rechtes übereinstimmenden unfehlbaren synteresis, deren formaler Akt ein "dem Bösen Entgegenmurmeln und Hinneigen zum Guten: remurmurare malo et inclinare ad bonum" ist. (18)

18.

Die Unterscheidung von conscientia und synteresis, die von Luther und erst recht durch Kants (19) Bestreitung eines "Gewissens hinter dem Gewissen" ad absurdum geführt worden war, lebt gleichwohl fort in Hegels Unterscheidung des bloß "formalen Gewissens" als des subjektiven Selbstbewußtseins, "in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist", und des "wahrhaften Gewissens" als der "Einheit des subjektiven Wissens und dessen, was an und für sich ist". (20) "Der Staat kann deswegen das Gewissen in seiner eigenthümlichen Form, d.i. als subjektives Wissen nicht anerkennen". (21)

19.

Anerkennt man die Irrtumsfähigkeit des Gewissens, so hebt das seine Verbindlichkeit für den Handelnden keineswegs auf, solange er sich nicht selbst seines Irrtums bewußt ist. Gegen sein Gewissen zu handeln, darf niemand gezwungen werden. Das subjektiv irrende Gewissen ist und bleibt selbst dann unantastbar, wenn die Gewissensentscheidung als nicht rechtmäßig anzusehen ist und der so Handelnde für sie zur Verantwortung gezogen werden muß (vgl. These 47).

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