Gewissensentscheidung und Rechtsordnung

VI. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit in der Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland

31. 

Dieser Teil der Thesen setzt das aus theologischer Sicht erhobene Verständnis des Gewissens in Beziehung zu rechtlichen und rechtspolitischen Aussagen. Die Verknüpfung ist nicht bloß formaler Art, sondern sie ist auch inhaltlich geboten. Der christliche Gewissensbegriff hat ohne Zweifel Normierung und Anwendung des Rechts in diesem Land nachhaltig geprägt. Es ist hier nicht der Ort, der Wirkungsgeschichte der Prägekräfte des Christentums nachzugehen. Doch verstehen sich die Thesen 31 bis 50 auch als ein Beitrag zum Verhältnis von Christentum und politischer Kultur.

32.

Die freiheitliche Demokratie lebt von der aktiven Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Nicht nur die politischen Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit (vgl. Art. 21 GG). Auch in den vielfältigen Vereinigungen und Gruppen, in denen sich Menschen zusammenfinden, um ihre gemeinsamen Interessen zu wahren und ihre Überzeugungen zu äußern, wird um die gerechte Ordnung des Gemeinwesens gerungen. Die Freiheit der Meinungsäußerung, die Pressefreiheit (Art. 5 GG), die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit (Art. 9, Art. 8 GG) sind notwendige Voraussetzungen dafür, daß alle Auffassungen zum Ausdruck kommen können und die Chance haben, sich im Kampf um die politische Macht im Gemeinwesen durchzusetzen. "Was jeweils praktisch zu geschehen hat, wird ... in ständiger Auseinandersetzung aller an der Gestaltung des sozialen Lebens beteiligten Menschen und Gruppen ermittelt. Dieses Ringen spitzt sich zu einem Kampf um die politische Macht im Staate zu. Aber es erschöpft sich nicht darin. Im Ringen um die Macht spielt sich gleichzeitig ein Prozeß der Klärung und Wandlung dieser Vorstellungen ab. Die schließlich erreichten Entscheidungen werden gewiß stets mehr den Wünschen und Interessen der einen oder anderen Gruppe oder sozialen Schicht entsprechen; die Tendenz der Ordnung und die in ihr angelegte Möglichkeit der freien Auseinandersetzung zwischen allen realen und geistigen Kräften wirkt aber ... in Richtung auf Ausgleich und Schonung der Interessen aller."(28)

33

Die in freien Wahlen gebildeten parlamentarischen Mehrheiten haben die Aufgabe, das Gemeinwohl inhaltlich zu präzisieren. Die so getroffenen Entscheidungen sind für alle verbindlich, auch wenn sie die Auffassung der Mehrheit nicht teilen. Die allen Bürgerinnen und Bürgern eingeräumten demokratischen Mitwirkungsrechte ermöglichen es ihnen, auf den Prozeß der staatlichen Willensbildung Einfluß zu nehmen oder in Wahlen die Mehrheitsverhältnisse zu korrigieren.

34.

Die Grundrechte begrenzen die Entscheidungsbefugnisse der politischen Mehrheiten. Werden die Grundrechte verletzt, können sie mit dem Instrument der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht eingefordert werden. Hierdurch soll gewährleistet werden, daß niemand in seinen Freiheitsrechten stärker eingeschränkt wird, als nach der Ordnung des Grundgesetzes zulässig ist. Konflikte zwischen der staatlichen Rechtsordnung und der Gewissensfreiheit werden daher nur seltene Ausnahmen sein. Eine inflationäre Berufung auf die Gewissensfreiheit würde diese zu einem Instrument der Tagespolitik degradieren. (29) Wesentliche Elemente der demokratischen politischen Kultur sind die Mitwirkungsrechte aller Bürger und der Gebrauch ihres Rechts, am Prozeß der Willensbildung teilzunehmen.

35.

Im Unterschied zu anderen Freiheits- und Mitwirkungsrechten garantiert das Grundgesetz die Glaubens- und Gewissensfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt und unverwirkbar (Art. 4 Abs. 1; Art. 18). Sie wird aus der Würde des Menschen (Art. 1) abgeleitet. Das Grundrecht der Gewissensfreiheit "gehört zum menschenrechtlichen Grundstock der neuzeitlichen Grundrechtserklärungen". Es bildet den "Abschluß und (die) Vollendung der Idee der Freiheitsrechte" und "wird zu Recht als 'Testgrundrecht' für den Zustand von Staat und Gesellschaft bezeichnet". (30)

36.

Die Feststellung der Unverletzlichkeit des Gewissens und der Unverwirkbarkeit der Gewissensfreiheit stellt eine Selbstbeschränkung des Staates dar: Der Staat erkennt das Gewissen als ihm vorgegebenes, unverfügbares Zentrum personaler Identität an.

37.

Die Gewissensfreiheit ist der prägnanteste Ausdruck dafür, daß der religiös und weltanschaulich neutrale Staat für sich selbst und seine Zwecke keinen absoluten Wert reklamiert Auch die legitime demokratische Mehrheitsentscheidung wird durch freiheitsrechtlichen Minoritätenschutz und durch den Schutz der Gewissensfreiheit so begrenzt, daß der Mensch nicht in seiner Rolle als Staatsbürger aufgeht, sondern sich in individueller Freiheit und Verantwortlichkeit betätigen kann.

38.

Für die Rechtmäßigkeit demokratischer Mehrheitsentscheidungen - sei es in parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren, sei es bei aus solchen Mehrheitsentscheidungen hervorgehenden Anordnungen staatlicher Verwaltungen - stellt die Beachtung der Glaubens- und Gewissensfreiheit und damit der grundgesetzlich garantierten Selbstbestimmung des Individuums ein wesentliches und unaufhebbares Kriterium dar.

39.

Indem das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland die "Glaubens- und Gewissensfreiheit ohne Gesetzesvorbehalt und unverwirkbar garantiert", gestattet es allen, "auch Außenseitern und Sektierern, die ungestörte Entfaltung ihrer Persönlichkeit gemäß ihren subjektiven Glaubensüberzeugungen ..., solange sie nicht in Widerspruch zu anderen Wertentscheidungen der Verfassung geraten und aus ihrem Verhalten deshalb fühlbare Beeinträchtigungen für das Gemeinwesen oder die Grundrechte anderer erwachsen". (31)

40.

In Verbindung mit der Glaubensfreiheit gehört dazu "auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren seines Glaubens auszurichten und seiner inneren Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln". Geschützt sind dabei "auch religiöse Überzeugungen, die für eine konkrete Lebenssituation eine ausschließlich religiöse Reaktion zwar nicht zwingend fordern, diese Reaktion aber für das beste und adäquate Mittel halten, um die Lebenslage nach der Glaubenshaltung zu bewältigen. Andernfalls würde das Grundrecht der Glaubensfreiheit sich nicht voll entfalten können". (32)

41.

Die Spannung zwischen der subjektiven Gewissensentscheidung und dem allgemeinen Wertebewußtsein wird zugunsten der Gewissensentscheidung geregelt: "Das Grundrecht der Gewissensfreiheit gewährt nicht nur subjektive Rechte, sondern ist zugleich eine wertentscheidende Grundsatznorm ..., und zwar höchsten verfassungsrechtlichen Ranges, die bei Staatstätigkeit jeder Art - auch bei der Strafzumessung im Strafverfahren - Wertmaßstäbe setzende Kraft entfaltet und Beachtung verlangt". (33)

42.

Die Praxis des Bundesverfassungsgerichtes kennt darum auch ein "Wohlwollensgebot" gegenüber Gewissenstätern, insofern das Grundrecht der Gewissensfreiheit sich bei der Strafzumessung im Strafverfahren auswirkt "als allgemeines 'Wohlwollensgebot' gegenüber Gewissenstätern. Seine Auswirkung im einzelnen und die sich aus ihm ergebenden verfassungsrechtlichen Grenzen für den Strafanspruch des Staates kann nur die Prüfung im Einzelfall ergeben, wobei jeweils die Bedeutung für die Ordnung des Staates und die Autorität des gesetzten Rechts auf der einen und die Stärke des Gewissensdruckes und die dadurch geschaffene Zwangslage auf der anderen Seite in Betracht zu ziehen sind". (34)

43.

Eine Begrenzung der Gewissensfreiheit durch den Gesetzgeber darf das Grundrecht der Gewissensfreiheit "nicht in seinem sachlichen Gehalt einschränken, sondern nur die Grenzen offenlegen, die in den Begriffen des Art. 4 Abs. 3 Satz 1 GG selbst schon enthalten sind ...". (35)

44.

Art. 4 Abs. 1 GG enthält keine ausdrücklichen Schranken für das Grundrecht der Gewissensfreiheit. Das Feld möglicher Gewissensentscheidungen ist von seinem Gegenstand her kaum einer materialen Eingrenzung zugänglich. Der Berufung auf die Gewissensfreiheit werden jedoch durch verschiedene Einsichten, die mit der Eigenart des Gewissens eng verbunden sind, bestimmte formale Grenzen gesetzt:

44.1

Die Freiheit des anderen: Die Gewissensfreiheit findet eine Grenze am Übergriff in die grundrechtlich geschützte Lebensgestaltung anderer.

44.2

Das Merkmal der Friedlichkeit: Die Gewissensfreiheit kann kein gewaltsam zu handhabendes Instrument zur Gehorsamsverweigerung gegenüber der Staatsgewalt sein. (36) Das Grundrecht auf Gewissensfreiheit "verleiht niemandem die Rechtsmacht, anderen seine Vorstellungen von der Auslegung von Rechtsnormen aufzuzwingen". (37) Ebenso darf es durch die Gewissensfreiheit nicht zu einer Aushöhlung von Art. 20 Abs. 4 GG kommen: Das staatliche Gewaltmonopol ist strikt zu achten.

44.3

Das Merkmal des Unterlassens: "Ziviler Ungehorsam als begrenzte Regelverletzung ist unter dem Schirm des Art. 4 Abs. 1 GG nur dann gerechtfertigt, wenn der einzelne um der Wahrung seiner personellen Identität willen von der Beachtung einer Norm freizustellen ist. In den seltensten Fällen berechtigt dies zugleich zu aktiven Widerstandshandlungen, die wohl nur gegenüber einem 'evidenten Unrechtsregime' in Betracht kommen ... Ansonsten gilt die Grundregel, daß Gewissensbetätigung sich gemeinhin in einem Unterlassen erschöpft". (38) Die Denkschrift "Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie" spricht in dem Zusammenhang von "demonstrativen, zeichenhaften Handlungen, die bis zu Rechtsverstößen gehen können". Sofern sie Folge von "Gewissensbedenken und Gewissensentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger" sind, müssen sie, "auch wenn sie rechtswidrig sind und den dafür vorgesehenen Sanktionen unterliegen, ... als Anfragen an Inhalt und Form demokratischer Entscheidungen ernstgenommen werden". (39)

44.4

Das Merkmal der Individualität: Das Grundrecht der Gewissensfreiheit ist ein individuelles Freiheitsrecht; es kann nur von dem Einzelnen für sich persönlich in Anspruch genommen werden, auch wenn er seine Überzeugung im Austausch der Meinungen mit anderen und der hierdurch geförderten Überprüfung seines Gewissens gebildet hat (vgl. hierzu These 29).

44.5

Die Verbindlichkeit der Grundrechte: Die in der Glaubens-, Weltanschauungs- und Gewissensfreiheit ausgedrückte Selbstbeschränkung des Staates zugunsten der eigenverantwortlichen sogenannten Werteorientierung rechtfertigt gewisse vom Gewissen selbst zu bejahende Zumutungen an das Gewissen. Der sich auf das Recht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit berufende Mensch nimmt damit ein für alle geltendes Grundrecht in Anspruch. Er ist aber auch für die allgemeine Rechtsordnung mitverantwortlich und hat schon insofern einen Teil des Konflikts zwischen seiner subjektiven Gewissensentscheidung und der allgemeinen Rechtsordnung in sich auszutragen.

45.

Der Schutz des Gewissensentscheidung schließt nicht aus, daß der Staat berechtigt ist, diese Gewissensentscheidung als eine solche dadurch festzustellen, daß dem sich auf seine Gewissensentscheidung Berufenden auferlegt wird, die von ihm getroffene Gewissensentscheidung als eine solche darzulegen. "Zwar darf der demokratische Rechtsstaat als Gemeinschaft freier Menschen, der in der Möglichkeit freier Selbstbestimmung des Einzelnen einen gemeinschaftsbildenden Wert erkennt ... und die Unverletzlichkeit des Gewissens garantiert, Erklärungen seiner Bürger über ihr Gewissen und den daraus folgenden unbedingt verpflichtenden Verhaltensgeboten nicht von vornherein mit der Unterstellung der Unwahrhaftigkeit begegnen ... Je bedeutsamer für die Allgemeinheit und belastender für den Einzelnen jedoch die Gemeinschaftspflicht ist, mit der die vorgetragene individuelle Gewissensentscheidung in Konflikt gerät, um so weniger kann der die Erfüllung einer Pflicht für die Gemeinschaft fordernde Staat darauf verzichten, im Rahmen des Möglichen die in Anspruch genommene Gewissensposition festzustellen". (40) Es ist jedoch festzuhalten, daß innerhalb eines Gerichtsverfahrens die Ernsthaftigkeit einer Gewissensentscheidung nur bedingt, ihr Wahrheitsanspruch (etwa durch Überprüfung der inneren Schlüssigkeit oder Rationalität) überhaupt nicht festzustellen ist.

46.

Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts enthält nur wenig darüber, welche Rechtsfolgen bei einer (begründeten) Berufung auf eine Gewissensentscheidung entstehen.

47.

Die Berufung auf eine Gewissensentscheidung hat nicht zur Folge, daß ein dem Gewissen entsprechendes Verhalten von vornherein als rechtmäßig und gegenüber dem geltenden Recht als vorrangig angesehen wird (vgl. These 19).

48.

Der Verwirklichung der Gewissensfreiheit kann nur im Vollzug der Gesetzesanwendung Raum gegeben werden, sie kann jedoch die grundsätzliche Anwendung der für alle geltenden Gesetze selbst nicht aufheben.

49.

Die Spannung zwischen der Willensbestimmung der Mehrheit der Bevölkerung und den Freiheitsrechten des Einzelnen läßt sich nicht aufheben, sondern wird als permanentes Problem bestehen bleiben. Bis auf die (in den Thesen 44 bis 44.4 aufgezählten) evidenten Fälle wird es immer strittig und nur im Einzelfall von Gerichten zu klären sein, in welchem Maße die Berufung auf eine Gewissensentscheidung den Einzelnen von der Verpflichtung auf die für alle geltende Rechtsordnung freistellt.

50.

Die gewissensschonende Gesetzesanwendung im Rahmen gesetzlich begründeter Flexibilität (insbesondere im Hinblick auf administrative Gestaltungsspielräume oder den Verzicht auf Sanktionen) und die begrenzte Eröffnung gewissensneutraler Alternativen können im Einzelfall die Möglichkeit einer Konfliktlösung bieten, welche die Geltung des Gesetzes gegenüber dem Gewissensspruch aufrecht erhält, andererseits aber die Gewissensnot des Einzelnen zu berücksichtigen in der Lage ist.

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