Theologischer Impuls, Podium Migration - Deutscher Evangelischer Kirchentag in Stuttgart

Margot Käßmann

Wichtig ist mir im Zusammenhang mit unserem Podium heute als erster Gedanke: Aufbruch, weggehen, das Land verlassen, das ist immer wieder eine Erfahrung, von der die Bibel berichtet, und diese Erfahrung ist durchaus positiv besetzt.
Als Theologin sind für mich zuallererst biblische Motive interessant. Und da zeigt sich: Migration ist ein urbiblisches Thema! Die ersten, die sich aufmachen, sind in der biblischen Geschichte Adam und Eva: Sie müssen das Paradies verlassen, um eine neue Heimat zu finden. Und dieses Motiv bleibt konstant: Abraham und Sarah brechen auf in ein unbekanntes Land getrieben von einer Hungersnot – als Wirtschaftsflüchtlinge würden wir sie heute wohl bezeichnen. Im ersten Buch Mose heißt es: „Abraham aber zog von dannen ins Südland und wohnte zwischen Kadesch und Schur und lebte nun als ein Fremdling zu Gerar.“ (1. Mose 20,1) Das ist Teil der großen Erzählung über Abraham und Sarah. Viele Verstrickungen sind vorausgegangen, vor allem die Zerstörung von Sodom und Gomorra. Andere Verstrickungen werden folgen, etwa die mit Abimelech, dem Abraham Sarah erst einmal als seine Schwester vorstellt.

Der berühmte biblische Joseph wird von seinen Brüdern im wahrsten Sinne des Wortes verraten und verkauft. Er findet sich gezwungenermaßen in der Fremde wieder und muss sich integrieren.

Mose führt in der biblischen Erzählung das ganze Volk Israel aus Ägyptenland in die Wüste und schließlich bis zur Grenze des gelobten und verheißenen Landes. Das ganze Volk Israel bricht unter seiner Führung aus Ägypten auf aus einer Situation der Unterdrückung, in der es keine Lebensperspektiven gibt, um ein verheißenes Land zu finden, in dem „Milch und Honig fließen“ (2. Mose 3,17). Es sucht einen Ort der Freiheit angesichts der Sklaverei, ein Ort, an dem es Nahrung, Arbeit, Zukunftsperspektiven für die Kinder gibt. Dort werden die Israeliten kämpfen müssen, um ihre Kultur zu behaupten gegen die vorhandene Kultur des Landes Kanaan. Und immer wieder gibt es Auseinandersetzungen, ob denn das Volk abtrünnig sei, wenn es Kult und Religion der Völker vor Ort annehme, sich zu sehr assimiliere, statt die Differenz zu leben.

Fremd sein oder anpassen, integrieren oder okkupieren, abgrenzen oder assimilieren, das Eigene und das Andere – es sind Themen, die die Bibel auf faszinierende Weise durchbuchstabiert. So haben etwa die Gefangenen in Babylon Heimweh nach Jerusalem und der Prophet Jeremia rät ihnen in einem Trostbrief, sich nicht zurückzusehnen, sondern dort, wo sie nun einmal sind, Familien zu gründen und Häuser zu bauen. Nach der Zerstörung des Tempels im Jahre 70 nach Christus wird das jüdische Volk seine Heimat in Israel, in Jerusalem verlieren. Und Jüdinnen und Juden in aller Welt fragen sich seitdem: Was bedeutet mein Jüdischsein in der Fremde, in Argentinien oder den USA, in Frankreich oder Indien, im Libanon oder in Kenia? Wie sehr kann ich mich anpassen, wo muss ich mich abgrenzen? Wann gefährdet die Abgrenzung mein Leben? Und wo werde ich sie durchhalten, auch wenn ich mein Leben dafür riskiere - weil andere meinen, ich gehöre nicht dazu. Viele Juden fühlten sich Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland integriert. Sie hatten im Ersten Weltkrieg gekämpft, waren religiös säkularisiert oder gar zum Christentum übergetreten. Aber auf einmal wurde die Fremdzuschreibung von außen stärker als die selbst empfunden Integration. Sie wurden nicht zuallererst als Deutsche gesehen, sondern als Juden, weil andere definierten, was sie angeblich primär ausmachte…

Auch das Neue Testament, der griechische Teil der Bibel, ist vertraut mit Migration. Weise Männer aus dem heidnischen Morgenland machen sich auf nach Bethlehem in die Fremde, um einen König zu suchen, so erzählt es das Matthäusevangelium. Nach Lukas träumt Joseph, dass sein Kind gefährdet ist durch König Herodes und flieht mit ihm und seiner Mutter nach Ägypten (Mt. 2,13). Und Jesus selbst weiß als junger Mann, dass der Prophet nichts gilt im eigenen Land. Denen, die er aussendet, rät Jesus, den Staub von den Füßen zu schütteln, wenn sie nicht aufgenommen werden, d.h. sie sollen dort nicht bleiben wollen, sondern sich aufmachen zu gastfreundlicheren Orten. Und Paulus schließlich wird der erste große reisende Missionar, er ist es, der unermüdlich von Ort zu Ort geht, um das Evangelium zu verbreiten und schließlich die Grenze zu Europa überschreitet. Migrare heißt wandern – und das wandernde Gottesvolk ist ein urbiblisches Bild von Mose bis zum Hebräerbrief. Unterwegs sein, sich in fremden Kulturen beheimaten, das ist eine Kernerfahrung der biblischen Erzählungen.

Übrigens: Auch die Kirchengeschichte schließlich ist im Anschluss an Paulus Missionsgeschichte und damit Migrations-und Inkulturationsgeschichte. Der so genannte Missionsbefehl aus Matthäus 28: „Gehet hin in alle Welt und machet zu Jüngern alle Völker…“ wurde zur Grundlage einer weltweiten Ausbreitung des Christentums. Aber das ist noch ein anderes Kapitel…

Zunächst einmal können wir sehen, dass die Bibel das Motiv gut kennt: Menschen brechen auf, um ein besseres, ja erst einmal ein gutes Leben zu finden, um ihre Kinder zu schützen. Grenzübertritte in der Bibel sind in der Regel positiv gewertet, es geht um einen Neuanfang. Es ist gut, aufzubrechen, heißt es. Es geht um Menschen, die kreativ sind, Gottvertrauen haben und auch den Mut, Neues zu wagen.

Das ist mir wichtig. Denn es steht konträr zur herrschenden Ideologie: Sollen sie doch bleiben, wo sie sind! Wir haben es gehört von Nils Raymond Muiznieks: Die Situation an den Grenzen der EU ist katastrophal. Europa tut alles, um Menschen daran zu hindern, aufzubrechen.

Ich bin überzeugt, die Bibel kann uns lehren, Migration neu zu denken. Es ist großartig, dass Menschen den Mut haben, alles zu verlassen, was sie kannten und sich auf Neues einzulassen. Stattdessen werden sie als Problem benannt. Nicht die Menschen sind das Problem, sondern die Verhältnisse, unter denen sie leben.

Menschen werden inzwischen massiv an der Ausreise gehindert. Das haben wir früher Staaten wie der DDR vorgeworfen. Wir haben gesagt, es sind Diktaturen, die Menschen nicht ausreisen lassen. Heute wollen wir, die wir doch stolz darauf sind, Demokratien zu sein, Menschen an der Ausreise hindern.

Ein zweiter theologischer Gedanke: Im christlichen Glauben ist die Überzeugung tief verankert, dass es Vergebung gibt, dass jeder Mensch ein Recht auf Neuanfang hat. Auch dieser Gedanke wird verraten, wenn Menschen festgelegt werden auf ihr Grenzvergehen nach dem Motto: Einmal illegal über die Grenze, nie mehr Einreiseerlaubnis. Oder wenn es Sippenhaftung gibt: Der Vater hat eine falsche Angabe zur Herkunft gemacht, die Tochter wird ausgewiesen.

Könnte es nicht einmal Neugier geben auf die „Fremden“, auf das Fremde? In der Bibel wird „der Fremde“ zum einen als schutzbedürftig bezeichnet: „Der Fremdling, der unter euch wohnt, den sollt ihr schützen.“ Zum anderen wird „der Fremde“ als Bereicherung angesehen, ja, wir begreifen doch erst, wer wir sind, wenn wir anderen Menschen, anderen Meinungen, anderen Kulturen begegnen.

Vielleicht sollten wir in Deutschland zweierlei besonders wahrnehmen:

Zum einen müssen wir uns erinnern: Aus den ehemaligen „Ostgebieten“ des Deutschen Reiches kamen fast 13 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene in die Bundesrepublik. Auch damals haben viele 100000sende diese Flucht nicht überlebt. Aber sie wurden integriert – nicht immer mit Freundlichkeit, gewiss. Doch am Ende stand die Gemeinsamkeit.

Zum anderen wurde erst diese Woche dokumentiert, dass Deutschland den letzten Platz in der Welt einnimmt hinsichtlich der Geburtenrate. Wir können über die  Ursachen streiten. Klar aber ist: Wir brauchen Zuwanderung! Unter den Flüchtlingen sind so viele mit Qualifikation, mit der Hoffnung, sich qualifizieren zu können, mit der Sehnsucht, hier Heimat zu finden. Aber sie stehen allzu oft vor verschlossenen Türen.

Und ein dritter und letzter Zugang aus biblischer Sicht: In der Bibel heißt es im Hebräerbrief: „Vergesst die Gastfreundschaft nicht!“ Gastfreundschaft ist ein hohes Gut. Da kann Herr Sarrazin erklären: „Aus heutiger Sicht war die Gastarbeitereinwanderung in den sechziger und siebziger Jahren ein gigantischer Irrtum“[1]. Aber die Menschen sind da! Als Gastarbeiter wurden sie bezeichnet, weil sie selbst sich als Gäste fühlten und in Deutschland Geld verdienen wollten, um ihre Familien zu Hause zu unterstützen. Und weil die deutsche Gesellschaft sie als nur vorübergehend anwesend gesehen hat. Hier liegt der Ursprung der so mangelnden Integration auf beiden Seiten. „Gast sein‘“ führte gerade nicht, wie es traditionell in allen Kulturen der Fall ist, zu guter Nachbarschaft, Aufnahme, Interesse füreinander, gegenseitigem Besuch und miteinander speisen, sondern es war geprägt von Desinteresse und führte zu gegenseitiger Abschottung. Kein Begriff ist also unpassender als der des „Gastarbeiters“.

Beim Parteitag der Jungen Union im Oktober 2010 erklärte Bundeskanzlerin Merkel: „multikulti ist gescheitert“. Und der CSU Parteivorsitzende Seehofer meint „multikulti ist tot“, es gehe um die deutsche Leitkultur. Das hat viel Applaus gebracht. Aber was heißt das? Was ist denn überhaupt „multikulti“? Und was die deutsche Leitkultur? In den USA jedenfalls wurde dieser Ansatz sehr kritisch gesehen. So schrieb Leonard Pitts im Miami Herald: „Was ist denn die Alternative? Soll Deutschland sich zur Nation erklären, die nur Platz hat für eine einzige Kultur? Um es nicht zu vergessen: Das wurde schon einmal versucht. Und es hat sich nicht als sonderlich gut erwiesen.“[2] Ein Bevölkerungsanteil, der andere abwertet, eine nationale Kultur, die andere degradiert und ausgrenzt – in der Tat, damit hat Deutschland dramatische, entsetzliche, menschenverachtende und am Ende selbstvernichtende Erfahrungen gemacht.

Wir integrieren also längst in unsere deutsche Gesellschaft. Und uns liegt offenbar auch an Zuwanderung und internationaler Öffnung nationaler Grenzen. So hält das Emirat Katar inzwischen 17 Prozent der Anteile von VW. Arabische Investoren werden offensiv angeworben. Nach Dubai sind die Finanzchefs von acht deutschen Großkonzernen gleich persönlich gepilgert, um ihre Unternehmen für Investitionen zu empfehlen. BASF, Siemens, Daimler-Chrysler, große Namen der deutschen Industrie waren vertreten. Und im Manager-Magazin hieß es mit Blick auf arabische Investoren glatt und klar: „Die Chemie stimmt“. Warum ist das leichter, wenn es um Geld geht, als wenn es um Menschen geht? Die offensive Anwerbung ausländischer Fachkräfte erweist sich offensichtlich als mühsam. Oder müssen wir uns zu der These versteigen, die Thilo Sarrazin vertritt: „In der globalisierten Welt können Kapital und Güter frei fließen, doch es ist ganz undenkbar, dass dies auch für Arbeitskräfte gelten soll, denn an diesen hängen Familien, Gesellschaften, Völker“[3]? Genau das ist der Fall und genau diese Realität wurde bei den „Gastarbeitern“ lange ignoriert. Es kann aber keine globalisierte Welt des Kapitals geben ohne Globalisierung für die Menschen! Es kann keine Reisefreiheit für wohlhabende Europäer geben, deren Wohlstand auch auf ungerechten Handelsbeziehungen beruht, ohne dass im Namen der Freiheit und der Gleichheit, die grundlegende europäische Werte sind, eben dies für alle anderen Menschen gelten kann.

Das wäre doch eine „vorwärtsgewandte Utopie“: die Angst loslassen. Annehmen, was Realität ist. Und nun miteinander kreativ die Gesellschaft auf den Grundlagen ihres Rechts, ihrer Werte gestalten. Daran können alle mitwirken: länger schon Einheimische und kürzer Einheimische, neu Zugewanderte und längst Integrierte. Es gibt kein Zurück in eine vermeintlich abgeschottete einheitlich kulturelle Gesellschaft. Es gibt nur ein Nach Vorn in ein Miteinander Verschiedener, die Unterschiede kennen und praktizieren, aber in deren Vordergrund die verabredeten und rechtlich verfassten Grundlagen von Freiheit, Toleranz und engagierter Zivilcourage der Bürgerinnen und Bürger stehen – ganz gleich seit wann, wie lange sie in diesem Land leben, das unser Land ist.

„Vernachlässigt nicht die Gastfreundschaft; denn durch sie haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt.“ Nun werden wir Gäste nicht immer als Engel empfinden. Aber es kann überraschend sein, was die Begegnung mit Fremden ermöglicht. Sicher, es muss Regeln des Miteinanders geben, auf die sich eine Gemeinschaft einigt. Aber die Begegnung von Menschen verschiedener Herkunft birgt auch ein großes Potential der Horizonterweiterung für alle. Zuwanderung unter diesem Gesichtspunkt zu sehen, ist die beste Voraussetzung dafür, Phänomene wie Ausgrenzung, Parallelkultur und mangelnde Integration konstruktiv anzugehen.

Es geht um unser Land, in dem wir gemeinsam leben und auch in Zukunft leben wollen. Mir macht die Verschiedenheit keine Angst. Ich möchte sie mit anderen konstruktiv gestalten. Dabei verschließe ich nicht die Augen davor, dass es Gewalt gibt gegen Frauen, Perspektivlosigkeit von Jugendlichen, religiösen Fanatismus. Doch all das kann ja nicht zur Resignation führen, sondern wird für mich immer Herausforderung sein, mich als Christin und Deutsche von meiner Herkunft her mit anderen, die Juden oder Muslime oder Buddhisten sind aus Israel oder Russland, Iran oder der Türkei, aus Argentinien oder Indien einzusetzen für ein gewaltfreies Miteinander auf der Grundlage von Recht und Gesetz, mit Religions- und Meinungsfreiheit in UNSEREM Land. Das sind nicht „DIE“ und „WIR“, da sind nur wir, die wir miteinander hier leben und miteinander Zukunft gestalten wollen.

Kurzum:

  • Aufbruch und Migration werden in der Bibel positiv gesehen
  • Menschen, die Zuwandern, sind schutzbedürftig
  • „Fremde“ sind eine Bereicherung für die Gesellschaft
  • Deutschland braucht dringend Zuwanderung.

Wir brauchen ein neues Narrativ für Migration als positiven Impuls. Warum all die Abwehr? Es geht darum, Menschen zu befähigen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen, ihr Leben selbst gestalten zu können! Wir müssen dringend die Menschenrechte hochhalten. Tut Europa das nicht, verliert es seine Identität, ja seine Seele. Europa ist das Ergebnis von Migration.

Ich wünsche mir, dass wir uns freuen können an Vielfalt. Dass wir die Gaben der Menschen respektieren, die zu uns kommen. Das bedeutet nicht, dass wir nicht alles tun sollten, dass überall auf dieser Welt Menschen Nahrung, Obdach, Bildung und Gesundheitsversorgung haben, um zu bleiben, wenn sie wollen. Aber die Freiheit, zu bleiben oder zu gehen, die Kreativität, die Aufbruch bedeutet, die dürfen wir nicht einschränken. Sonst verraten wir selbst, was wir doch so gern preisen: Freiheit zu Reisen, Globalisierung, interkulturelle Begegnung. Wir verraten die europäischen Ideale der Freiheit, wenn sie nicht auch die Freiheit der anderen bedeutet. Und wir verraten die so viel zitierten christlichen Werte, wenn sie nicht für jeden Menschen gelten, ganz gleich woher er kommt oder wohin sie will.


Fußnoten:

  1. Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, Berlin 2010, S. 259.
  2. Übersetzung durch die Verfasserin. Original: “What after all is the alternative? Shall Germany officially declare itself a nation with room enough for one culture only? For the record, that´s been tried already. And it didn´t work so well, either.”
  3. Sarrazin, aaO., S. 357.