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S.P.O.N. - Die Mensch-Maschine Meine Heimat Internet

Das Internet ist Medium, Kaufhauskatalog und Bankschalter, für Sascha Lobo ist es mehr - ein Treffpunkt, eine Heimat. Hier kommen Menschen zusammen, die sich etwas zu sagen haben. Wenn sie sich richtig entscheiden.

Diese Kolumne heißt Mensch-Maschine und das hat einen Grund. Der Schriftsteller Peter Wawerzinek trug 2010 beim Bachmannpreis einen Ausschnitt aus seinem Roman "Rabenliebe" vor, der mit einer eigenartigen Passage endet, der phonetischen Beschreibung der Sprache. Die Jury des Literatur-Wettbewerbs, dieser Mutter aller Castingsshows, hatte zunächst Probleme mit dem Text, erzählt aus der Perspektive eines von der Mutter verlassenen Kindes. Schließlich aber gewann Wawerzinek den Bachmannpreis. Er hatte in Ermangelung einer Familie die Sprache selbst, die nichtmaterielle, aber verbindende Sprache als Heimat beschrieben.

Viel zu lange bestand das Internet für mich aus Kabeln und Servern, mit deren Hilfe man effizient kommunizieren, organisieren und einkaufen konnte. Ein kommerziell geprägter Arbeitsraum, eine Mischung aus Büro und Einkaufszentrum. Die New Economy hatte mir wie vielen Internetinteressierten den wirtschaftlichen Aspekt des Netzes als den einzig wesentlichen eingeredet. Am Silvestertag 2002 endete dieser Trugschluss, ich entdeckte ein Internetforum namens "Höfliche Paparazzi".

Foren waren die Vorhut von dem, was man heute Social Media nennt, dem gegenwärtigen Entwicklungsstadium des Internet. Blogs waren homöopathisch verbreitet, soziale Netzwerke in einer neandertaligen Phase. Das Netz hat soziale Wurzeln, aber sie waren durch den Börsenhype überwuchert worden. Ich prallte auf das Forum und spürte etwas, das ich trotz technischer Kenntnis des Internets nie zuvor gespürt hatte: Da waren Menschen, direkt hinter meinem Bildschirm. Und sie waren mir näher als die meisten in der Offline-Welt. Wo ich zuvor nur auf Medien und Datenbanken von Unternehmen gestoßen war, gab es Leute, die meinen Humor teilten, die diskutierten, die mich liebevoll und weniger liebevoll beschimpften - Menschen, die mich wirklich interessierten.

Ich hatte das soziale Netz entdeckt. Wie Wawerzinek in der Sprache, so hatte ich eine Heimat im Internet gefunden, einen digitalen, aber sozialen Ort. Genau das ist der ausschlaggebende Unterschied in jeder Diskussion um die digitale Sphäre mit allen Facetten von Bürgerrechten bis Infrastruktur. Die einen begreifen das Netz als ihre Heimat. Die anderen begreifen das Netz als Medium oder Instrument. Die einen kennen das Glück, im Netz interessanten und wertvollen Menschen zu begegnen, die anderen buchen dort Flüge und finden Onlinebanking irre praktisch.

Das Netz als Heimat ist keine Altersfrage

Der Begriff "Digital Native", der die Metapher der digitalen Heimat benutzt, führt jedoch auf eine gefährliche Fährte. Er suggeriert, die digitale Sphäre als Heimat gälte nur für die nachgeborene Jugend. So sehr sich die Internetnutzung junger Leute unterscheiden mag, so falsch ist die Annahme, es handele sich um ein Generationenphänomen. Das Netz als Heimat ist keine Altersfrage, sondern eine Haltungsfrage. Dabei geht es nicht um die Idealisierung des virtuellen Raumes als bessere Welt, im Netz passieren wie in der Kohlenstoffwelt wunderbare bis grauenvolle Dinge. Es geht um die Akzeptanz des Lebensraums Internet. Aus keinem anderen Grund werden Attacken auf diesen Lebensraum - sei es durch die Politik oder durch fehlgeleitete Wirtschaftsinteressen - aus der Sicht Außenstehender so erbittert erwidert: Die Heimat wird angegriffen, "sie wollen unser Zuhause zerstören!"

Wer im Internet ein Instrument wie eine Schreibmaschine sieht, kann die Dimension der Empörung über scheinbar technische Details kaum verstehen. Aber die Gefährdung der Netzneutralität wirkt auf die Netzbeheimateten wie der Versuch, eine digitale Version der Berliner Mauer zu errichten, die Reisebefugte von denen trennt, die sich nur in eingrenzten Gebieten bewegen dürfen. Und die Sperrung des Netzzugangs löst bei Internetbürgern das Gefühl aus, wie in einer Geschichte von Edgar Allen Poe lebendig eingemauert und auf menschenunwürdige Weise von der Heimat abgeschnitten zu sein.

Um diese Welthaltung nachvollziehen zu können, muss man die digitale Heimat gespürt haben. Man muss im Netz Freude und Freunde gefunden haben, man muss vor dem Bildschirm gelacht und geweint, diskutiert und gestritten haben. Man muss die Netzwärme gespürt haben, denn da ist unendlich viel Wärme im Netz. Und man sollte die politische, gesellschaftliche Kraft so geballt erfahren haben wie eine Person, die vor sehr kurzer Zeit das Netz als Heimat entdeckt hat. Peter Altmaier, Geschäftsführer der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag und als einer der Strippenzieher der Innenpolitik der letzten Jahre mitverantwortlich für einen Gutteil der Attacken auf die digitale Heimat, beschrieb in der "FAZ" seinen Wandel . Für ihn kommt das Internet inzwischen in seiner Bedeutung dem "Zugang zu Wasser und Grundnahrungsmitteln sehr nahe". Er schließt eine Chronik dieser überraschenden Entwicklung zum Netzbürger mit den Worten: "Ich fühle mich hier zu Hause". Wie unendlich groß wirkt der Gegensatz zur bisherigen christdemokratischen Netzpolitik.

Das Internet besteht aus anderen Menschen

Altmaiers Bekenntnis zur digitalen Heimat ist zweifellos strategischer Natur und hat seinen Grund im Erfolg der Piratenpartei. Aber man erahnt seine Faszination und die Erkenntnis, dass das Internet mehr als ein Medium, das die Politik zu regeln und zu unterwerfen gewohnt ist. Das Internet besteht für den oberflächlichen Betrachter aus Maschinen. Für uns, die wir das Netz als Heimat empfinden, besteht es aus anderen Menschen.

Schon lange vor Peter Wawerzinek wurde Sprache als Heimat angesehen, nicht nur im Exil oder in der Diaspora. Es geht also gar nicht mehr um die Frage, ob Heimat auch nichtphysisch, also virtuell sein kann. Sondern nur noch darum, was es bedeutet, wenn sich für immer mehr Bürger das Internet wie ein Teil ihrer Heimat anfühlt, wie das Vereinsheim, die Eckkneipe, der Marktplatz, die Bibliothek und die Flaniermeile gleichzeitig.

Diese Kolumne heißt Mensch-Maschine, und das hat einen Grund: Wenn man von der einen Seite auf den Begriff "Mensch-Maschine" schaut, sieht man den Menschen vorne. Von der anderen Seite aus steht die Maschine im Vordergrund. Eigentlich ist es ganz einfach, sich für die richtige Seite zu entscheiden.

tl;dr

Das Internet ist nicht bloß Medium und Instrument, sondern eine digitale Heimat und muss entsprechend behandelt werden.

Offenlegung: Sascha Lobo ist dem sozialen Netz gegenüber positiv voreingenommen, weil er seine zukünftige Frau auf Twitter kennengelernt hat.