"FAMILIE HABEN ALLE - FÜR EINE ZUKUNFT MIT KINDERN" - Rede in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin

Wolfgang Huber

I. Familie haben alle.

Jeder Mensch hat Vater und Mutter, auch dann, wenn er nur mit einem Elternteil oder sogar als Waise aufwächst. Mit seiner Herkunftsfamilie bleibt auch der verbunden, der keine eigene Familie gründet. Der Satz, Familie sei dort, wo Kinder sind, führt, solange er alleine steht, in die Irre. Er rückt nur die Nachkommen in den Blick. Er macht damit die familienlos, die keine Nachkommen haben.

Doch das Leben ist vielgestaltiger. Auch wer als Single lebt, lebt in einem Familienverbund. Er hat Vorfahren. Jeder Mensch ist zunächst Kind. Jeder entstammt einer Familie. Seinen Eltern – wie auch immer sich das Eltern-Kind-Verhältnis geschichtlich ausgestaltet hat – „verdankt“ sich jeder Mensch. Heute geht es darum, die Bedeutung der Familie wie das Glück mit Kindern neu zu entdecken. Beides gehört zusammen. Beides ist aber auch zu unterscheiden.

Für beides ist neues Zutrauen nötig. Ein Zutrauen zur Leistungsfähigkeit unserer Familien. Und ein Zutrauen zu einem Leben mit Kindern.

Solches Zutrauen speist sich aus inneren Haltungen, aus gemachten Erfahrungen und aus konkreten Maßnahmen, die eine Zukunft mit Kindern zuversichtlich in den Blick nehmen. Nur daraus kann eine Stimmung erwachsen, die zu Familien wie zu Kindern Ja sagt.

Diese Rede unternimmt, was eine Rede kann. Sie analysiert und argumentiert, sie appelliert an Zustimmung und bessere Einsicht. Doch eine Rede taugt nur begrenzt dazu, Einstellungen zu verändern, Mentalitäten zu beeinflussen, Mut ins Herz zu geben. Es kann sich nur um einen Impuls handeln, der in den konkreten Verhältnissen aufgenommen und gelebt werden muss. Nur was durch Beispiel und Vorbild anzieht und verlockt, kann auch Einstellungen verändern und Mentalitäten beeinflussen. Doch das ist nicht mehr die Sache einer Rede, das ist eine Aufgabe für jede und jeden von uns.

II. Das Nachdenken über Familie braucht eine evangelische Perspektive.

Dazu eine Binsenweisheit vorweg: „Die“ Familie gibt es nicht. Familie ist ein biologisches Phänomen, mit dem jede Person gesegnet ist und dem niemand entrinnt. Familie ist zugleich eine durch Beziehungen gekennzeichnete Institution. Familie ist immer dort, aber keineswegs nur dort, wo minderjährige Kinder sind. Familie ist immer dort, aber keineswegs nur dort, wo Menschen verschiedener Generationen Verantwortung füreinander wahrnehmen. Familie ist immer dort, aber keineswegs nur dort, wo Menschen verwandtschaftlich füreinander eintreten.

Glück – und auch Last – einer Familie erleben alt gewordene Schwestern, die, durch Hunderte von Kilometern entfernt voneinander getrennt, einmal in der Woche treu miteinander telefonieren. Familie erleben die in den USA studierende junge Frau und ihr e-mails schreibender Großvater. Sie erlebt der bettlägerige Mann, der von seiner Schwiegertochter gepflegt wird. Glück – und auch Last – einer Familie erlebt das junge Paar, das sein erstes Kind erwartet und sich sorgt, ob es den neuen Herausforderungen gewachsen sein wird.

Familie ist nicht allein dort, wo Kinder sind; Familie haben alle. Wenn wir neu zur Familie ermutigen, dann meinen wir damit all die Formen, in denen die Generationen miteinander verbunden sind und Menschen füreinander Verantwortung wahrnehmen. Wir bejahen die Pluralität von Lebensformen; aber wir treten dafür ein, dass in diesen Lebensformen ein Lebensstil zur Geltung kommt, der Liebe und Freiheit, Verlässlichkeit und Verantwortung zur Grundlage hat.

Deshalb hat der Rat der EKD bereits vor vier Jahren in seiner Schrift "Was Familien brauchen" die Pluralität der familiären Lebensformen anerkannt, aber zugleich erklärt, warum insbesondere die durch Öffentlichkeit und bindende Rechtsbeziehungen bestimmte Institution der Ehe geeignete Grundlagen für dauerhafte Verbindlichkeit schafft.

Der Schutz dieser Lebensform steht für den christlichen Glauben außer Zweifel. Er ist tief in der biblischen Botschaft verwurzelt. Er hat sich im Wandel der gesellschaftlichen Bedingungen bewährt. Dass Mann und Frau aufeinander hin geschaffen sind und sich in Liebe und Freiheit aneinander binden, ist eine bleibende Grunderfahrung. Sie wird durch den Respekt vor Menschen mit einer gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung nicht in Frage gestellt. Dass das dauerhafte Zusammenleben von Mann und Frau nicht nur rechtlich, sondern auch ethisch geschützt ist, bringen die Zehn Gebote im Verbot des Ehebruchs klar zum Ausdruck. Dass Treue und Verlässlichkeit die Ehe bestimmen sollen, hat Jesus mit seinem Wort von der Unauflöslichkeit der Ehe eingeprägt; damit hat er zugleich einer einseitigen Scheidungspraxis seiner Zeit widersprochen, die nur dem Mann das Recht zuerkannte, seine Frau zu „entlassen“.

Die beschriebene Grundhaltung zu Ehe und Familie hat Eingang in die Grundrechtsbestimmungen unserer Verfassung gefunden. „Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. ... Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft“, heißt es in Artikel 6 des Grundgesetzes.

Mit dieser Erinnerung soll keineswegs das fast schon klischeehafte Bild einer heilen oder gar heiligen Familie wieder belebt werden. Realistisch war dieses Bild nie; stets ist es mehr Wunsch denn Abbild, wie jedes Sittengemälde vergangener Familienformen zeigt. Doch meldet sich auch in unserem Land eine wachsende Sehnsucht danach, dass das Leben in Familien gewürdigt wird. Menschen schauen wieder nach gelingenden Beispielen dafür aus; ihre Suche trifft Gott sei Dank immer wieder auf einleuchtende Vorbilder. Diese Suche zeigt sich zugleich in einer zunehmenden Orientierung an dem Fest, das Menschen immer deutlicher als ein Fest der „heiligen Familie“ verstehen. Weihnachten ist für viele zum Symbol dafür geworden, was ihre Hoffnungen bestimmt: eine Eintracht, die daraus wächst, dass Menschen füreinander da sind.

Auch wenn sie oft unerfüllt bleibt und viele Versuche scheitern und auch dem Scheitern Gerechtigkeit widerfahren muss, lassen Menschen sich diese Sehnsucht nicht austreiben – zu Recht. Es gibt keinen Grund, diese Sehnsucht madig zu machen. Familien sollten Vorbilder finden, Unterstützung erhalten, zum eigenen Weg ermutigt werden. Das ist weit besser als die abfällige Rede von der Familie als Auslaufmodell, von der die letzten Jahrzehnte in Deutschland geprägt waren. Das hat niemandem genützt. Aber es hat vielfältigen Schaden angerichtet. Es ist an der Zeit für einen Neuansatz. Er beginnt damit, dass das Familienethos in unserer Gesellschaft einen neuen Rang erhält.

Familienförderung hat es deshalb zuallererst mit mentalen Rahmenbedingungen zu tun. Sie muss mit der Frage beginnen, ob wir Familie wieder als Beruf verstehen – und zwar als Beruf der ganzen Gesellschaft. So wie Wirtschaft und Wissenschaft, Politik und Recht, Kultur und Religion Aufgaben und Verantwortungsbereiche der ganzen Gesellschaft sind, so auch die Familie. Ohne Familie, in welcher Ausgestaltung auch immer, kann keine Gesellschaft leben. Kein Gemeinwesen kann die Leistungen an Solidarität, die in Familien erbracht werden, durch soziale Dienstleistungen ersetzen. Keine professionelle Sozialarbeit kann die soziale Kohärenz herbeiführen, die in Familien entsteht und gelebt wird. Das wissen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen am besten, die dort eingreifen müssen, wo Familie misslingt.

Familie ist der Beruf der ganzen Gesellschaft. Sie ist aber auch als besonderer Beruf neu zu würdigen. Männer und Frauen, die sich aus freien Stücken darauf einstellen, Kindern beim Aufwachsen beizustehen, sollten nicht als „Aussteiger“ und „Aussteigerinnen“ betrachtet werden. Das aber wird suggeriert, wenn sie – und dies betrifft vor allem Frauen - gefragt werden, wann es denn mit dem „Berufseinstieg“ wieder so weit sei. Die Pluralität der Lebensformen zu bejahen, bedeutet auch, nicht einfach die Doppelverdienerfamilie zum Normalfall zu erklären, erst recht nicht die Doppelverdienerfamilie ohne Kinder.

So steht am Beginn meiner Überlegungen das Ja zur Familie in der Vielfalt ihrer Formen und damit das Ja zu einem gemeinsamen Leben in Liebe und Freiheit, in Verantwortung und Verlässlichkeit. Denn Familie haben alle.

III. Fürsorgende Liebe richtet sich im Besonderen auf Kinder.

In meiner unmittelbaren Umgebung sind zwei Häuser jeweils von vier Kindern bevölkert. Die Mütter nehmen sich ihrer an, Tag für Tag. Familie ist ihr Beruf. Die Väter verdienen gut; trotzdem ist ihr Gürtel nicht auf Übergewicht eingestellt. Und wenn sie abends nach Hause kommen oder sich am Wochenende ganz auf die Familie einstellen, bleibt auch für sie genug zu tun. Gewiss hört man manchmal ein Stöhnen oder ein deutliches Wort. Aber die ängstliche Frage, was denn wohl aus diesen vielen Kindern werden solle, wird nicht laut. Sie sind, das spürt man, eine Lebensfreude. Sie wurden nicht geboren, damit die Reproduktionsrate in Deutschland wieder über 1,35 Kinder pro Frau steigt. Sie wurden geboren aus Liebe, ohne weil und wozu. Sie sind Menschen, Geschöpfe Gottes, geschenktes Leben.

Doch nicht alle setzen den Verbund der Generationen heute noch fort. Es wird, so konstatiert Frank Schirrmacher mit Recht, „in den kommenden Jahren viele Familien geben, in denen das jüngste Mitglied bereits jenseits der vierzig ist und selbst keinen Nachwuchs hat. ... Familie setzt sich zunehmend nicht mehr aus Eltern zusammen, die sich um ihre Kinder, sondern bestenfalls aus Kindern, die sich um ihre Eltern kümmern.“ Welches Bild entwickeln Menschen, die nur Familienbeziehungen in die vorangehenden Generationen haben, also nur zu Eltern und Großeltern, aber nicht zu eigenen Kindern oder zu Nichten und Neffen? Sie leben zwar in Familien, aber im schlimmsten Fall kindvergessen – mangels Gelegenheit.

Vom Eigenwert jedes Menschen, von der Gabe des geschenkten Lebens, von der Gnade, dass wir Geschöpfe Gottes sind, muss wieder die Rede sein in einer Gesellschaft, die Elternzeiten als Produktionsausfall und Schwangerschaften als Krankheit betrachtet. Ein Einstellungswandel ist nötig, der Ärzte, die eine Schwangerschaft feststellen, davor bewahrt, als erstes zu fragen: „Wollen Sie es denn behalten?“ Dieser Wandel muss dazu beitragen, dass ein Firmenmitarbeiter nicht länger gebeten wird, seinen Wagen hinter dem Haus zu parken, damit man vor der Firma kein Auto mit Kindersitzen sieht; das Renommee des Hauses könnte sonst Schaden leiden.

Ein Einstellungswandel ist nötig, der Freiheit und Verantwortung wieder zusammenbringt. Eine innere Haltung soll sich ausbreiten, die Respekt vor unterschiedlichen Lebensformen wieder mit einem eindeutigen Ja zu Treue und Verlässlichkeit verbindet. Ein Lebensentwurf soll gestützt werden, in dem die Flexibilität gegenüber beruflichen Anforderungen mit den Verpflichtungen in Einklang kommen kann, die im persönlichen Lebensumkreis ihren Ort haben. Nur wenn jeder Mensch wieder in seinem Eigenwert geachtet wird, von den Kindern bis zu den Alten, nur wenn Gemeinsinn wieder gelebt wird, wird auch unsere Gesellschaft die Selbstachtung aufbringen, ohne die Zukunft nicht gelingen kann.

Eine kindvergessene Gesellschaft lebt falsch. Das Problem fängt nicht erst mit der Frage an, was aus der Rente wird. Wer vielmehr mit dieser Frage beginnt, treibt auch noch den Letzten die Lust auf Kinder aus. Auch in den Zeiten, in denen Menschen um ihrer Alterssicherung willen auf eigene Kinder angewiesen waren, wurden die Kinder nicht im Blick auf das eigene Alter geboren. Geboren wurden sie, jedenfalls in der Regel, aus Lust und Liebe.

Doch die Unwägbarkeiten eines Lebens mit Kindern können nicht verschwiegen werden. Sie sind groß genug und müssen nicht zusätzlich gesteigert werden. Um vermeidbare Unsicherheiten einzugrenzen, wird nicht nur nach mentalen, sondern auch nach politischen Bedingungen der Familienförderung gefragt. Fürsorge ist eine Aufgabe der ganzen Gesellschaft. Familie ist ihr ureigenster Beruf.

Solange im Regelfall Großeltern in erreichbarer Nähe und verfügbar waren, stellte sich die Frage nach organisierten Betreuungsangeboten noch nicht so, wie das heute der Fall ist.

Dabei hat die Rede von den „Betreuungsangeboten“ einen eigenen Kommentar verdient. Mit großer Eindeutigkeit hat die Diskussion der letzten Jahre gezeigt, dass das Aufwachsen von Kindern von Anfang an ein Bildungsgeschehen ist. In den ersten drei Lebensjahren entscheidet sich, ob die erwachende Neugier von Kindern in ihrer Umwelt ein Echo findet, und ob sich für sie ein Raum öffnet, die Welt zu entdecken. Im vierten bis sechsten Lebensjahr aber werden die Weichen dafür gestellt, ob Bildungsdefizite, die beispielsweise aus einer bildungsschwachen familiären Umgebung entstehen, noch rechtzeitig kompensiert werden können. Pointiert gesagt: Nicht die Gesamtschule, sondern die Kindertagesstätte entscheidet in ihrer Bildungskompetenz darüber, ob auch Kinder aus bildungsfernen Familien einen gleichen Zugang zu Bildungschancen erhalten. Doch nachdem wir das alles erkannt haben, fangen wir wieder an, von „Betreuungsangeboten“ zu sprechen. Dass es sich gerade in der frühen Kindheit nicht um bloße Betreuung, sondern um Bildung handelt, gerät wieder in Vergessenheit. Dies übrigens ist der Grund dafür, warum Kindergartenplätze gebührenfrei sein sollten. Dafür sprechen nicht nur familienpolitische, sondern vor allem bildungspolitische Argumente.

Wie gesagt: Vor Generationen hatte dieses Thema noch nicht eine vergleichbare Dringlichkeit wie heute. Jetzt dagegen sind solche „Betreuungsangebote“ ein wichtiger Faktor bei der Überlegung, ob die Verantwortung für Kinder sich mit der Fortsetzung der eigenen Berufstätigkeit vereinbaren lässt.

Solange nur ein Elternteil verdiente, wurde nach dem Verdienstausfall des andern Elternteils nicht gefragt. Jetzt dagegen führt eine längere Familienphase zu einem drastischen Rückgang des Familieneinkommens; sie wird als biographischer Kontinuitätsbruch befürchtet. Deshalb treten Berufstätigkeit und Kinderwunsch gegeneinander. Und es ist legitim, der Frage nachzugehen, ob ein einkommensbezogenes Elterngeld diese Furcht vor einem dramatischen Wohlstandsverlust abmildern kann.

Die Einwände liegen auf der Hand: Einkommensbezogene Regelungen kommen den Besserverdienenden stärker zu Gute als anderen. Und: Manche besonders Klugen mögen zunächst warten, bis sie eine Gehaltsstufe erreicht haben, auf der auch das Elterngeld sich lohnt. Aber den Einschnitt zu verharmlosen, der mit der Geburt von Kindern verbunden ist, wenn das Familieneinkommen damit drastisch zurückgeht, wäre ein Zeichen von Weltfremdheit. Sie aber ist ein schlechter Ratgeber. Besser ist eine Regelung, die den Mut zur Familie und die Gerechtigkeit nicht gegeneinander ausspielt, sondern miteinander verbindet.

Die Fürsorge, von der hier die Rede ist, richtet sich besonders auch auf das ungeborene Leben. Im Jahr 2005 sind in Deutschland nur 676 000 Kinder geboren worden. Hätten nur die statistisch erfassten Schwangerschaftsabbrüche sich vermeiden lassen, wären es über 800 000 Kinder gewesen. In jedem Kindergarten mit fünf Gruppen müssen wir uns eine weitere sechste Gruppe für die Kinder hinzudenken, die wegen eines Schwangerschaftsabbruchs nicht geboren wurden. Wahrscheinlich ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche eher noch höher, als es dieser Vergleich ausdrückt. Hinter solchen statistischen Zahlen verbergen sich stets individuelle Schicksale. Aber dass sich in unserer reichen und auch mit Hilfsmöglichkeiten gut versorgten Gesellschaft nicht mehr Schwangere zum Austragen Ihres Kindes entschließen und dass die Zahl der Abtreibungen nicht deutlicher zurückging, ist nicht hinzunehmen. Deshalb konzentriert sich die diesjährige ökumenische „Woche für das Leben“ auf den Schutz des ungeborenen Lebens.

In der evangelischen Kirche nehmen wir die spezifische, durch die Einheit von Mutter und Kind gekennzeichnete Situation der Schwangerschaft ernst. Wir sind deshalb davon überzeugt, dass ein Ungeborenes niemals gegen, sondern immer nur mit seiner Mutter geschützt werden kann. Doch der Lebensschutz muss besser gelingen als bisher; dass den gesetzlich ermöglichten Spätabtreibungen ein Ende gemacht wird, ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger und notwendiger Schritt. Aber auch darüber hinaus ist der Einsatz dafür notwendig, dass Schwangerschaften angenommen werden und gelingen.

Viele Paradoxien umgeben einen solchen Satz. Auf der einen Seite schieben Frauen, je höher gebildet desto eher, die Verwirklichung ihres Kinderwunsches immer weiter hinaus; auf der anderen Seite werden ungeplante Kinder immer früher geboren. Bei den einen tickt die biologische Uhr; die anderen begegnen uns als Kindmütter auf der Straße. Auf der einen Seite tun sich diejenigen, die über viele Voraussetzungen dafür verfügen, dass Kinder behütet und gefördert aufwachsen können, mit dem Ja zu Kindern immer schwerer; auf der anderen Seite wächst die Zahl der Kinder in Familien, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Von den 15,2 Millionen Kindern in Deutschland leben 1,5 bis 1,7 Millionen auf oder unter Hartz IV-Niveau. Aber in Berlin sind davon nicht nur 10, sondern 30 Prozent betroffen.

Als unsere Generation die „Pille“ in die Hand bekam, verband sich damit die große Hoffnung auf verantwortliche Elternschaft. Doch es wurde daraus die „Anti-Baby-Pille“, zu deutsch: eine gegen Babys gerichtete Pille. Jetzt müssen wir verantwortliche Elternschaft noch einmal lernen. Sie – und nicht nur eine isolierte Sexualkunde – ist ein zentrales Thema von Bildung und Erziehung. Das Ja zu Kindern muss sich mit der Fürsorge für Kinder verbinden; der Wunsch, Kindern ins Leben zu helfen, soll möglichst mit dem richtigen Zeitpunkt zusammenkommen. Familienplanung wird von der evangelischen Kirche bejaht; aber sie sollte nicht weiter zur Familienverhinderungsplanung werden. Menschliche Sexualität hat nach evangelischer Auffassung nicht nur in der Weitergabe des Lebens ihren Sinn; sie ist auch in sich selbst Ausdruck und Quelle menschlichen Glücks. Aber wir sollten nicht weiter den Weg gehen, Sexualität und Fortpflanzung vollkommen zu entkoppeln.

Junge Leute sagen heute Ja zum Wert der Familie und hoffen auf Kinder. Jede Jugendstudie belegt das. Damit dieses grundsätzliche Ja in ihrem Leben weiter gefördert wird, brauchen sie Vorbilder, die auch selbst Ja zu Kindern sagen.

IV. Die Verantwortung der Männer ist gefragt.

Wenn es um Familienförderung geht, rücken Männer wieder stärker in den Blick. Über viele Jahre galt der Gleichberechtigung der Frauen in Familie und Gesellschaft das Hauptaugenmerk. Das war dringend nötig; denn der Weg zu gleichen Rechten für Frauen war steinig und ist noch keineswegs zu Ende gegangen.

Was erreicht wurde, darf nicht wieder aufgegeben werden. Dass Frauen unabhängig von ihrem Familienstand ihrer Erwerbsarbeit nachgehen können, dass alle Diskriminierungen von Frauen im Erwerbsleben, auch die unterschwelligen, abgebaut werden müssen, dass die Erwerbsarbeit von Frauen und ihre Rolle als Mutter sich mit gutem Gewissen verknüpfen lassen – all das ist eine bleibende Aufgabe. Sie verpflichtet aber dazu, auch die andere Seite in den Blick zu nehmen: die Männer, die potentiellen oder tatsächlichen Väter.

Dabei ist zunächst nüchtern festzustellen, dass die Bereitschaft zu Kindern bei Männern deutlich geringer ist als bei Frauen. An der vergleichsweise niedrigen Zahl der Geburten in Deutschland haben Männer einen ebenso großen Anteil wie an der vergleichsweise hohen Zahl von Schwangerschaftsabbrüchen. Die Verantwortung der Männer muss neu zum Thema werden. Familienpolitik schließt die Männer notwendigerweise ein.

Nach wie vor erleben sich Männer – oft bemüht, die Ansprüche zwischen Beruf und Familie auszugleichen – in der Rolle des Haupternährers. Eine Familie zu gründen, bevor sie für deren angemessenes Auskommen sorgen können, kommt für viele Männer nicht in Betracht. Die Schwierigkeit, eine feste Arbeitsstelle und ein sicheres Einkommen zu finden, verhindert oft die Familiengründung. Auch viele noch kinderlose Männer wollen gerne Vater werden, sehen sich aber durch eine Kollision mit anderen Lebensinteressen daran gehindert. Solche ernst zu nehmenden Sorgen dürfen jedoch nicht länger ein Gewicht entwickeln, durch das sie für viele Männer das Glück einer Vaterschaft verhindern.

Auch die Rollenbilder der Männer und Väter haben sich verändert, aber doch bei weitem nicht in dem Maße wie die Rollenbilder der Frauen und Mütter. Die Erwerbstätigenquote der Frauen in Deutschland mag immer noch steigerungsfähig sein; doch wohin es führt, wenn der Anteil der Männer ain der Erziehungs- oder Elternzeit so gering bleibt wie bisher, ist leicht vorstellbar. Dabei erscheint es eher als ein Ausdruck von Hilflosigkeit, wenn auch den Männern zwei Monate Elternzeit abverlangt werden sollen, bevor das Elterngeld in vollem Umfang in Anspruch genommen werden kann. An die Wurzel kommt man eher mit der Frage, ob Männern nach wie vor eine Familienzeit in tonangebenden Kreisen unseres Landes eher verübelt wird. Aber die faktische Rolleneinengung der Männer lässt sich dadurch nicht rechtfertigen. Zeit mit Kindern zu verbringen, ist nicht nur ein Glück für die Kinder, sondern auch für die Väter; sich möglichst weite Bereiche der Haus- und Erziehungsarbeit partnerschaftlich zu teilen, hilft Frauen wie Männern. Doch die Emanzipation der Männer steht in dieser Hinsicht noch weithin bevor.

V. Die Freiheit für Frauen ist gefragt.

Viele Frauen berichten, dass sie die neu aufgeflammte Familiendiskussion als Druck empfinden, der auf sie ausgeübt wird, als eine Last, die sich auf ihre Schultern legt. Die Frage, wie Ausbildung, Berufseinstieg und beruflicher Aufstieg, Partnerwahl und Familiengründung miteinander verbunden werden können, wird vor allem an Frauen gerichtet. Sie werden mit der Aufforderung konfrontiert, dies alles in der knappen Zeit zu verbinden, die ihnen biologisch dafür zur Verfügung steht.

Die wohlmeinenden Ratschläge, die neuerdings feilgeboten werden, richten sich vor allem an Frauen. Die leuchtenden Beispiele dafür, dass es richtig sei, mit dem Kinderkriegen möglichst früh anzufangen, weil auch dann noch Zeit für die Karriere bleibt – diese Beispiele von Madeleine Albright bis Margot Käßmann und Ursula von der Leyen – werden vor allem den Frauen vorgehalten. In den Vorwürfen gegen erfolgreiche Frauen – ich sage das an dieser Stelle sehr deutlich –, die jetzt jenseits der vierzig sind und keine Kinder zur Welt gebracht haben, tobt sich ganz offensichtlich ein ungehemmter Sexismus aus.

Neue Wege aber werden sich nur finden, wenn der Freiheitsgewinn, den Frauen sich erkämpft haben, nicht wieder zur Disposition gestellt wird. Gerade für den Wechsel zwischen Berufs- und Familienphasen, der wieder in die Diskussion kommt, werden nur Vorschläge glaubwürdig sein, an deren Verwirklichung Männer genauso beteiligt werden wie Frauen.

Warum soll Männern wie Frauen ein solcher Wechsel zwischen Berufs- und Familienphasen in Zukunft nicht gelingen? Eine Neuordnung des Lebensverlaufs wird unter anderem durch die höhere Lebenserwartung und damit durch einen Gewinn an Lebenszeit möglich, auf den wir uns einstellen sollten, auch wenn niemand von uns über die Stunde seines Todes verfügt. Einen intelligenten Umgang mit gewonnener Lebenszeit hat deshalb die Kommission „Familie und demographischer Wandel“ der Robert Bosch Stiftung ins Zentrum ihrer Überlegungen gerückt. Eine durch die höhere Lebenserwartung mögliche längere Lebensarbeitszeit könnte als Zeitgewinn eingesetzt werden, um durch Berufsunterbrechungen von Männern und Frauen in der Phase des massiven Lebensstaus zwischen dem 25. und dem 35. Lebensjahr Entzerrungen zu ermöglichen. Dann fiele es jungen Menschen leichter, das in eine Sequenz zu bringen, was sie gern miteinander verbinden wollen: Familienarbeit und Berufsarbeit. Ein Wandel in solchen Parametern des Lebenslaufs ist dringlich.

Frauen sind es in erster Linie, die im Zusammenhang mit dem Aufwachsen von Kindern unter Armutsrisiken zu leiden haben. Insbesondere Alleinerziehenden, die keine Unterhaltszahlungen erhalten und keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, stehen in der Regel nur staatliche Transferleistungen zur Verfügung. Solange diese für einen Erwachsenen und ein Kind unter 1.219 Euro im Monat liegen, leben diese Alleinerziehenden unter einem Armutsrisiko.

Die elementaren Aufgaben des Familienleistungsausgleichs, der Würdigung der Familienarbeit und der besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf sind insbesondere um der Frauen willen dringlich; manchmal fragt man sich, ob die Lösung dieser Aufgaben deshalb noch immer in den Kinderschuhen steckt, weil es eben doch „nur“ die Frauen sind, die auf diese Lösung besonders dringlich angewiesen sind.

Der Familienleistungsausgleich trat deshalb lange Zeit auf der Stelle, weil Kinderlose die dafür erforderliche Mehrbelastung lautstark als diskriminierend erklärten.

Die Anerkennung der Familienarbeit kam deshalb nicht voran, weil in einem männlich dominierten Gesellschaftsbild allein die Erwerbsarbeit außerhalb des Hauses als produktive Arbeit gewürdigt wurde; Vorstellungen vom Familiengehalt oder von einer Rentenanwartschaft durch Familienarbeit hatten in einem solchen Klima keine Chance. Dabei ist es auch empirisch richtig, dass eine Frau, die Kinder aufzieht, damit ebenso zur Alterssicherung der Gesellschaft beiträgt wie eine Frau, die auf Grund ihrer Erwerbsarbeit Rentenbeiträge bezahlt.

Die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf schließlich leidet keineswegs nur daran, dass es keine ausreichenden „Betreuungsangebote“ gibt; sie leidet noch weit stärker daran, dass der Wechsel von der Familienarbeit zur Erwerbstätigkeit immer noch schwer gemacht wird. Noch immer haben nicht alle Arbeitgeber erkannt, dass Kindererziehung die soziale Kompetenz und damit auch die Berufskompetenz stärkt; diejenigen Unternehmer, die aus diesem Grund lieber Frauen oder Männer mit Kindern in Leitungsaufgaben berufen, dürfen das gar nicht laut sagen, weil es nicht mit den Gleichstellungsideen vereinbar ist, die hierzulande bald Gesetz werden sollen.

Wenn das Ja unserer Gesellschaft zu Kindern glaubhaft sein soll, dann muss ein allgemeiner Institutionen-TÜV der Frage gelten, wie diese Institutionen mit Familien umgehen. Sozialgesetze, Tarifverträge, staatliche Regelungen sind daraufhin zu prüfen, ob sie Schwangeren helfen und so dem Leben dienen. Sowohl im individuellen Verhalten als auch in den von Staat und Gesellschaft geschaffenen Rahmenbedingungen müssen Belastungen und Erschwernisse für Frauen, die Kinder wünschen oder erwarten, konsequent abgebaut werden. Ein langfristiger und wirksamer Kündigungsschutz für Frauen nach der Geburt ihrer Kinder ist nach wie vor dafür ein wichtiger Prüfstein.

VI. Kinderlose leben in der Spannung zwischen Verlässlichkeit und Einsamkeit.

Die Gesellschaft, so sahen wir, darf nicht weiter kindvergessen leben; sie hat einen Beruf zur Familie. Das bedeutet aber nicht, dass jeder einzelne von uns einen Beruf zur Familie hat. In der christlichen Kirche wurden Menschen, die sich zur Ehelosigkeit berufen sahen, immer geachtet. Unterschiedlich urteilen die Kirchen darüber, ob ein bestimmter kirchlicher Beruf mit der Pflicht zur Ehe- und Kinderlosigkeit verbunden werden darf oder muss.

Die Zahl der Singles steigt heute statistisch an. Aber die Statistik allein sagt nichts über die Zahl der Kinderunwilligen. Auch Singles haben Familie; auch Kinderlose nehmen an der Freude über Kinder teil. So hat das Patenamt in unserer Zeit eine ganz neue Funktion gewonnen. Es wird zum Ausdruck der Mitfreude über die Kinder anderer, die geboren werden und aufwachsen. Es wird zu einer Form, in der auch diejenigen, die keine eigenen Kinder haben, mit Kindern leben und für sie Verantwortung wahrnehmen. Manche Elternpaare suchen die künftigen Paten schon während der Schwangerschaft aus und lassen sie an den Höhen und Tiefen der Schwangerschaft wie an den Planungen für die Zeit nach der Geburt teilhaben.

Die Gefahr einer kindvergessenen Gesellschaft ist dann gebannt, wenn es gelingt, immer wieder „mit Kindern“ zu leben, seien es die eigenen oder fremde, seien es Enkel oder Patenkinder. Wer dagegen verlernt, mit Kindern zu leben, versteigt sich in den Wahn, er lebe für sich allein.

Auch für eine bewusste Entscheidung gegen Kinder gibt es Achtung gebietende Gründe. Da sind diejenigen, die ungewollt kinderlos bleiben, aber den Weg zur künstlichen Befruchtung nicht beschreiten wollen. Da sind Paare, die schon mehrere Kinder unter der Schwangerschaft verloren haben oder denen ein Kind mit einer seltenen Erbkrankheit im Säuglingsalter gestorben ist; wer wollte ihnen verdenken, dass sie sich vor einem weiteren Verlust dieser Art fürchten. Da sind Menschen, die um das deutlich erhöhte Risiko einer schweren Erbkrankheit wissen und sich deswegen gegen eigene Kinder entscheiden. Und es gibt Paare, die sich von Gott auf einen anderen Lebensweg berufen wissen, sich erst in einem vorgerückten Alter kennen gelernt haben oder ihrem Einsatz für die Menschen und die Gesellschaft eine ganz andere Wendung geben.

Aber solche Situationen betreffen nur eine kleine Minderheit derjenigen, die Kinder bekommen und für sie Verantwortung übernehmen könnten, es aber nicht tun. Die ganz überwiegende Mehrheit kann Kinder bekommen. Im Wege steht, vor allem nach der Auskunft vieler Frauen, dass sich kein verlässlicher Partner findet, der das gemeinsame „Abenteuer Kind“ auf sich nehmen will. Darüber hinaus ist es – besonders für Männer - nicht mehr und nicht weniger als eine Frage der persönlichen Prioritäten, ob Menschen sich auf ein Kind einlassen oder nicht.

Zu beachten bleibt: Die Zahl derjenigen, die sich in jungen Jahren Kinder wünschen, ist größer als die Zahl derer, die diesen Wunsch verwirklichen. Die Zahl der Kinderlosen, die im Nachhinein den Verzicht auf Kinder bedauern, ist höher als die Zahl derer, die dies unverändert für richtig halten. Der aufgeschobene und verspätete Kinderwunsch wird für viele zu einem Schlüsselproblem. An uns allen ist es, mit ihnen Wege zur Lösung dieses Problems zu suchen.

Dabei sind die sogenannten „Betreuungsangebote“ gewiss nicht zu unterschätzen. Dass eine derartige Unterstützung auf verlässliche Weise erreichbar ist, wird es vielen erleichtern, sich auf eine Zukunft mit Kindern einzustellen. Doch eine eindeutige Relation zwischen Betreuungsgrad und Geburtenrate gibt es gerade nicht, wie die Lage in den ostdeutschen Bundesländern zeigt. Das Ja zu Kindern entsteht nicht schon durch die Erwartung, dass man sich um ihre „Betreuung“ nicht zu sorgen bräuchte.

Wo die Bereitschaft zu Kindern abbricht, hat das Folgen bis ans Ende des Lebens. Ob Menschen bis ins hohe Alter hinein in soziale Kontakte eingebunden bleiben, hängt entscheidend davon ab, ob sie eigene Kinder haben. Das Netz der Familie trägt noch im Alter. Das wusste schon das Volk Israel auf seiner Wanderung durch die Wüste, dem das Gebot Gottes mit auf den Weg gegeben wurde: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Land, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Denn dieses Familiengebot schlechthin bezieht sich auf das Verhältnis erwachsener Männer und Frauen zu ihren alt gewordenen Eltern. Es beschreibt die Familie als wichtiges soziales Band bis ins hohe Alter. Es beschreibt im Übrigen eine Wanderung, kein festes Haus. Nichts spricht dafür, dass diese Beschreibung in einer Zeit gegenstandslos wäre, in der die Familie in aller Regel nicht mehr stationär ist, sondern eine multilokale Gestalt angenommen hat.

VII. Ein neues Ja zu Familien ist an der Zeit.

Ein evangelisches Familienverständnis tritt dafür ein, Familie in Liebe und Freiheit, Verantwortung und Verlässlichkeit zu ermöglichen.

Familien leben in einer großen Bandbreite zwischen Netzwerk und Patchwork. Dies zu bejahen bedeutet nicht, von Familien gering zu reden. Deshalb gehört auch die Rede von der „Bedarfsgemeinschaft“ im Zusammenhang mit dem Arbeitslosengeld II zu den semantischen Unglücksfällen unserer politischen Sprache.

Der Pluralität von Lebensformen begegnen wir mit Achtung und Respekt. Aber eine falsche Ängstlichkeit sollte daraus nicht folgen. Das beherzte Ja zu Ehe und Familie trägt keine Geringschätzung anderer Lebenssituationen in sich. Deshalb tritt unsere Kirche mit Nachdruck dafür ein und ermutigt dazu, dass Kinder im Rahmen von Ehe und Familie aufwachsen können; sie bestärkt Eltern darin, in ihrem Lebensentwurf dem Aufwachsen von Kindern Raum zu geben und sich dafür Zeit zu nehmen. Nach wie vor wachsen mehr als drei Viertel aller Kinder bei ihren beiden leiblichen Eltern auf. Ein Kind zu bekommen, ist keine Garantie und erst recht kein Rettungsanker für eine Partnerschaft. Aber für viele Paare ist es ein großes Lebensglück, das Aufwachsen ihrer Kinder gemeinsam zu erleben.

Das vermindert nicht den Respekt für das Lebensglück und die Leistung von Alleinerziehenden, von Ein-Eltern-Familien; sie verdienen vielmehr besondere Anerkennung und Unterstützung. Es gibt vielfältige Gründe dafür, dass Kinder nicht im Rahmen einer Ehe aufwachsen können. Keineswegs liegt dem immer eine persönliche Entscheidung gegen das Leitbild der Ehe zu Grunde; die lebensgeschichtlichen Ursachen dafür sind vielmehr mannigfach. Der Respekt für diese Lebenssituationen schließt auch die Aufgabe ein, den Ursachen, die Eheschließung und Familiengründung behindern, nachzugehen und bei deren Überwindung zu helfen.

Es gibt eine Einsicht, die leider unabhängig von der Familienform wahr ist: Wo Verantwortung verweigert wird, hält leicht Verwahrlosung Einzug. Wo Liebe entzogen wird, herrscht schnell die Gewalt. In all solchen Fällen ist das Eingreifen von außen unerlässlich. Deshalb liegt auf allen, die die Chance zum Einblick in Familien haben, eine große Verpflichtung. Kirchliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben an ihr Anteil. Pfarrer und Pfarrerinnen beispielsweise erhalten bei Hausbesuchen, bei der Vorbereitung von Taufen und Konfirmationen, Trauungen und Beerdigungen oft einen tiefen Einblick in Familienstrukturen und Familienkonflikte. Sie sollten die Verantwortung, die daraus wächst, bejahen und auf Hilfe, ja auf Abhilfe sinnen, wo sie auf Gewalt und Verwahrlosung in Familien stoßen. Aber niemand sollte das Bild der Familie nur vom Misslingen her zeichnen.

Eine Bemerkung will ich an dieser Stelle anschließen: Die in unserer Verfassung verbürgte Grundhaltung gilt für Ehen ohne Kinder genauso wie für Ehen mit Kindern. Deshalb kann ich nicht einsehen, dass in der vorgesehenen Reform des Verfahrens in Familiensachen die einverständliche Ehescheidung bei kinderloser Ehe besonders erleichtert werden soll. Wenn eine solche einvernehmliche Ehescheidung allein durch eine übereinstimmende, notariell beurkundete Erklärung verwirklicht würde, dann würde dadurch die kinderlose Lebensabschnittspartnerschaft zu einem normativen Ehebild erklärt. Damit aber würde nicht nur das Ehescheidungsrecht fortentwickelt, sondern zugleich ein neuer Typus der rechtlich geschützten Lebensgemeinschaft auf Zeit eingeführt – und das unter dem Namen „Ehe“. Wer das will, trägt gewollt oder ungewollt zur weiteren Auflösung des Zusammenhangs von Ehe und Familie bei und fördert dadurch die weitere Erosion der Familie.

Noch ein anderer Hinweis ist notwendig: Auch im Blick auf Migranten ist der Schutz von Ehe und Familie ein verfassungsrechtliches Gebot, für dessen Beachtung sich die Kirchen einsetzen. Dieser Schutz ist in den letzten Wochen in die Diskussion geraten. Um Zwangsehen zu bekämpfen, wurde der Plan entwickelt, das Familiennachzugsalter auf 21 Jahre zu erhöhen. Zugleich sollen nachziehende Ehegatten bereits im Heimatland die notwendigen Kenntnisse der deutschen Sprache erwerben und nachweisen. Den zweiten Gedanke lasse ich einmal beiseite, obwohl er zur Frage nötigt, ob sie in ihrem Heimatland, an ihrem Heimatort dazu überhaupt in der Lage sind.

Es ist jedoch fraglich, ob mit einer Anhebung des Nachzugsalters Zwangsehen wirklich verhindert werden. Die Absicht, damit auf eine andere, insbesondere die anatolische Kultur so einzuwirken, dass auf diese Weise das Heiratsalter hinaufgesetzt wird, erscheint mir als reichlich kühn. Zu befürchten ist vielmehr, dass unbeschadet der bestehenden, von den Eltern arrangierten Ehe lediglich der Zeitpunkt des Zusammenziehens herausgeschoben wird. Das aber wäre mit dem Schutz von Ehe und Familie nur schwer zu vereinbaren. Zusätzlich beträfe die Maßnahme auch freiwillig verheiratete Paare, die bereits früher als mit 21 Jahren heiraten. Aber den Handlungsbedarf in diesem Bereich unterstreiche ich mit Nachdruck. Denn die Zwangsehe ist mit einem evangelischen Eheverständnis ebenso unvereinbar wie mit den normativen Leitvorstellungen unserer Verfassungsordnung. Die Verharmlosungen, die ich in Erklärungen mancher Migrationsforscher wahrnehme, mache ich mir nicht zu Eigen.

VIII. Ohne Kinder geht es nicht.

Neben alle Achtung vor kinderlosen Lebenssituationen und Lebensformen muss die Ermutigung treten, sich für Kinder zu entscheiden. Wer mit Kindern oder Enkeln zusammenleben darf, wird jeden Tag erfüllt von der Freude, Zeuge dieses Gottesgeschenkes in unserer Mitte zu sein. Bei mancher Mühsal des täglichen Lebens wird er immer wieder angesteckt von der Unbeschwertheit, der Neugier, oft auch der heilsamen Infragestellung durch Kinder. Mit Kindern zu leben, heißt ständig herausgefordert zu sein. Mit ihnen zusammen lernt man Dankbarkeit für die ganz kleinen und die ganz großen Dinge im Leben. Wer mit Kindern lebt, begegnet dem Wunder des Lebens und erfährt neu, was für ein Wunder auch das eigene, von Gott gegebene, behütete und geliebte Leben ist.

Das Leben mit Kindern ist ein Aufbruch. Sie machen die Anfänglichkeit und Unabgeschlossenheit des Lebens heilsam bewusst. Zu der Offenheit, die ein Leben mit Kindern mit sich bringt, gehören Unwägbarkeiten und Unsicherheiten. Auch deshalb ruft das Leben mit Kindern Glaubensfragen wach, bei Kindern wie bei Erwachsenen. Es ist ein Wagnis, das die Frage nach einem stabilen Grund stellt. Eine Gewissheit wird gesucht, in der das Ungewisse uns nicht in Angst versteinern lässt. Eine Kraft wird erbeten, die dazu ermutigt, sich auf Unsicherheiten einzulassen. Deshalb ist auch Erwachsenen das Gebet dann besonders nahe, wenn sie mit Kindern beten können.

Wenn wir über die Familie und den Mut zu Kindern reden, befinden wir uns in einem Dilemma: Selbst klarste Worte, beste Gründe und scharfsinnigste Argumentationen bringen keine Kinder in die Welt.

Mit Worten lässt sich nicht erreichen, aber doch erbitten, was Not tut: Mentalitäten zu verändern und zum Leben in Familien zu ermutigen. Und wenn alle, die Familie als Glück erfahren, dieses Glück nicht nur weitersagen, sondern auch weitertragen, dann werden wir eine gute Zukunft mit Kindern haben.