Barmherzigkeit mit den Zweiflern - Überlegungen zum Weg unserer Kirche, Vortrag in Offenburg

Wolfgang Huber

Es gilt das gesprochene Wort.

1.
Eine Überlegung zum Weg unserer Kirche unter die Überschrift „Barmherzigkeit mit den Zweiflern“ zu stellen, ist befremdlich. Deshalb will ich Ihnen erläutern, was mich zu dieser Perspektive veranlasst hat. Es waren viele Gespräche dieses Jahres, die mir dazu den Anstoß gegeben haben. Sie kreisten um die Bedeutung des Religiösen in unserer Zeit. Zwei Diagnosen lassen sich vernehmen:

Die eine Diagnose heißt: Säkularisierung. Zwar kann man in einer globalen Perspektive nicht von einem Rückgang der Bedeutung von Religion sprechen; vielmehr muss man von einer wachsenden Resonanz aller großen Weltreligionen ausgehen. Aber im Blick auf bestimmte Regionen, zu denen nicht nur die Mitte Europas, sondern beispielsweise auch Australien und Neuseeland gehören, kann man nicht bestreiten, dass sie in den letzten Jahrzehnten durch eine Erosion der Bedeutung von Religion für das persönliche Leben wie für das gesellschaftliche Zusammenleben geprägt waren. In Deutschland haben wir diesen Prozess verstärkt erlebt. Denn als er im Westen Deutschlands auf seinem Höhepunkt angelangt war, verknüpfte er sich infolge der Vereinigung Deutschlands zugleich mit den Folgen der Entkirchlichung im Osten Deutschlands.

Die andere Diagnose heißt: Wiederkehr der Religion. Auch in der deutschen Gesellschaft deuten sich gegenwärtig Verschiebungen an. Es gibt eine Wiederkehr der Religion. Aber sie wirkt sich keineswegs automatisch in einer verstärkten Zuwendung zum christlichen Glauben aus. Menschen verstehen sich wieder als religiös. Aber Klarheit darüber, was sie damit meinen, suchen sie oft nicht in den Kirchen. 85 Prozent der Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren sehen die Frage nach Gott als wichtig an. Aber nur zwanzig Prozent der Erwachsenen haben starke Erwartungen an die Kirchen.

Zwischen diesen beiden Diagnosen bewegt sich der Weg unserer Kirche. Diejenigen, die vom Glauben Abschied genommen haben, behält sie genauso im Blick wie diejenigen, die neu nach ihm suchen. Denn ihr Auftrag heißt – die Barmer Theologische Erklärung hat das 1934 so formuliert – „die Botschaft von Gottes freier Gnade auszurichten an alles Volk.“ Zu diesem Volk aber gehören die Glaubensfernen genauso wie die Suchenden.


2.
Erbarmt euch derer, die zweifeln, heißt es in einem neutestamentlichen Brief (Judas 22). Zum Weg des Glaubens gehört das Fragen, das Zweifeln, die Suche nach Orientierung. Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben – so lautet ein neutestamentliches Gebet, das an Kürze und Aufrichtigkeit nur schwer zu überbieten ist (Markus 9,24). Eine Kirche, zu allen Menschen von „Gottes freier Gnade“  sprechen will, steht den Zweiflern nahe. Sie nimmt die Menschen – auch die, die an den Rändern der Kirche leben – wahr und ernst.

Zweifler: Das sind heutzutage Menschen jeden Alters, die, durch Naturkatastrophen aufgeschreckt, die Frage stellen, wie Gott das zulassen konnte. Dass sie vielleicht zuvor über Jahre hin Gott vergessen hatten, kommt ihnen dabei gar nicht zum Bewusstsein. Doch ob sich an ihr Fragen etwas anschließt, ob jemand ihre Frage aufnimmt, kann für ihren weiteren Weg entscheidend sein.

Zweifler: Das sind heutzutage junge Leute, die – in kirchenfernen Familien aufgewachsen – neu und mit beeindruckender Hartnäckigkeit nach Gott fragen. Im einen Fall finden sie, im Zusammenhang der Konfirmation beispielsweise, den Weg zur Taufe; im andern Fall kapselt sich ihr Fragen ein und verstummt.

Zweifler: Das sind heutzutage Menschen, die zwar getauft sind, aber den Kontakt zur Kirche verloren haben. Viele von ihnen sind aus der Kirche ausgetreten, aus höchst unterschiedlichen Motiven. Eine nennenswerte Zahl steht nicht mehr zu der damaligen Begründung; aber die Schwelle dazu, diese Entscheidung zu revidieren, erscheint als zu hoch. Oft hilft niemand dabei, sie zu überwinden; denn das direkte Gespräch über den Wiedereintritt in die Kirche gilt sogar – oder gerade – unter Kirchentreuen als aufdringlich. Zwischen 3,5 und 5 Millionen Menschen leben in Deutschland, die evangelisch getauft sind, der evangelischen Kirche aber nicht mehr angehören. Die wenigsten von ihnen haben eine andere Konfessionszugehörigkeit angenommen. Die meisten bewegen sich im Land der Zweifler.

Zu diesen Zweiflern gehören auch diejenigen, die in einer anderen christlichen Kirche zu Hause waren, aber in ihr nicht mehr heimisch sind. Bietet unsere Kirche ihnen eine Heimstatt? In vielen Fällen ist das so, wie eine Untersuchung zu Motiven des Kircheneintritts in der badischen Landeskirche belegt. Aber in anderen Fällen bleibt eine solche neue Beheimatung aus. Der Kirchenaustritt könne den eigenen Eltern noch zugemutet werden, der Übertritt in eine andere Kirche nicht – so kann man dann hören. Zweifler haben vielfältige Biographien.

Unsere Aufmerksamkeit muss ganz besonders der kirchlichen Außenhaut gelten, also den Menschen, die man als kirchliche Membran bezeichnen kann: Menschen, die sich der Ortsgemeinde gern für einen kurzen Lebensabschnitt zuordnen; Eltern, die ab und an den Gottesdienst besuchen würden, wenn es ein geeignetes Angebot gäbe, das ihre Kinder einschließt; Interessierte außerhalb der Kirche, die für bestimmte Vorhaben erhebliche Gelder spenden; vor Jahren oder Jahrzehnten Ausgetretene, die darüber nachdenken, wieder in die Kirche zurückzukehren. Entgehen uns die Schwingungen dieser kirchlichen Membran? Oder finden solche Menschen in unserem kirchlichen und gemeindlichen Handeln die Aufmerksamkeit, die sie verdienen? Seid barmherzig mit den Zweiflern! 

Menschen fragen wieder nach dem Glauben, weil sie ihrer bisherigen Lebensdeutungen unsicher werden. Sie suchen nicht nach noch mehr Erlebensräumen und Erlebnisvielfalt. Sie suchen nach der Wurzel, die sie trägt, nach der Gemeinschaft derer, die ihnen auch in Krisen beistehen, nach einer Hoffnung für ihr Leben.

Religiöse Interessen werden wieder lebendig. Danach, was die Kirche zu sagen hat, wird wieder gefragt. Sie ist gut beraten, es ernst zu nehmen, wenn ihre Themen „dran“ sind. Manches an der neuen Zuwendung zur Religion ist gewiss problematisch; es gibt durchaus bedrohliche Formen von Religion. Ihnen darf das Feld nicht überlassen werden. Auch deshalb ist unsere Kirche zu klarer, erkennbarer Präsenz verpflichtet. Das Fragen, das Zweifeln, die Unsicherheit – sie alle markieren einen Rand, auf dessen anderer Seite der Weg des Glaubens führt.

Natürlich kann man auch den Fragen nicht ausweichen, die sich um das Thema „Religion und Gewalt“ ranken. Terroristische Gewalttaten nötigen uns diese Frage auf, die vor allem im islamistischen Umfeld religiös gerechtfertigt werden. Von New York spannt sich der Bogen über Madrid und London zu den Selbstmordattentaten im Nahen Osten. Erregte und gewalttätige Reaktionen auf eine Kritik am Islam, die als herabsetzend empfunden oder gedeutet wird, kommen hinzu. Der Karikaturenstreit hat gezeigt, dass eine geschickte Nutzung der Medien aus einem solchen Anlass leicht einen Flächenbrand entstehen lassen kann. In der ersten Reaktion auf die Regensburger Vorlesung von Papst Benedikt XVI. wurde Ähnliches versucht, was den Papst zu schnellen und nachdrücklichen Worten des Bedauern veranlasst hat. Und zuletzt wurde durch die Angst vor islamistischen Ausschreitungen eine Opern-Inszenierung in Berlin abgesetzt; dabei wurde die Intendantin kritisiert, sie gefährde die Freiheit der Kunst, statt dass wir uns gemeinsam fragen, wie die gesellschaftliche Freiheit schlechthin in einer derart irritierbaren Atmosphäre bewahrt werden kann.

„Ich wünsche mir Religionen, die Halt und Mittel zur Freiheit sind und keine Offensivwaffen.“ Diesen Wunsch hat die Journalistin Sabine Rückert zu Beginn dieses Jahres formuliert. Viele Diskussionen seitdem bestätigen, wie recht sie hat. Religionen werden verstärkt daran gemessen, ob sie Halt und Mittel der Freiheit sind. Sie werden gefragt, ob sie Gewalt und Unterdrückung klar genug entgegentreten und Frieden befördern.

Diese Debatte ist nötig. Sie darf nicht dadurch tabuisiert werden, dass jede kritische Nachfrage nach dem Verhältnis von Religion und Gewalt als Angriff auf das religiöse Empfinden des Angesprochenen gedeutet wird. Doch eine Regel sollte man besonders sorgfältig beachten: Wer anderen kritische Fragen stellt, muss sie auch sich selbst gefallen lassen. Oder in einem berühmten Bild des früheren Bundespräsidenten Gustav Heinemann: Von der Hand, mit deren einem Finger wir auf andere Menschen zeigen, weisen immer zugleich drei Finger auf uns selbst zurück.

Die katholische Deutsche Bischofskonferenz hat diese Einsicht auf kluge Weise beherzigt. Ausdrücklich hat sie erklärt, dass auch die christlichen Kirchen aus ihrer Geschichte die Versuchung der Gewalt kennen und ihr keineswegs immer widerstanden haben. Diese Klarstellung war eine hilfreiche Ergänzung zu der Vorlesung, die Papst Benedikt XVI. während seines Bayern-Besuchs in Regensburg gehalten hat. Denn eine solche selbstkritische Haltung bildet eine notwendige Voraussetzung dafür, an den Islam mit der Erwartung heranzutreten, dass er der religiösen Legitimation von Gewalt und der Instrumentalisierung von religiösen Überzeugungen zu politischen Zwecken deutlich und wirksam entgegentritt.

Manche Reaktionen auf die Vorlesung des Papstes muss man als maßlos bezeichnen. In ihnen hat sich gezeigt, dass der Karikaturenstreit möglicherweise nur ein Vorspiel war. Wenn aus Angst vor Ausschreitungen in der islamischen Welt ein offenes Wort nicht mehr gewagt oder wenn wegen möglicher Bedrohungen eine umstrittene Operninszenierung nicht mehr aufgeführt wird, dann steht mehr auf dem Spiel als die Freiheit der Kunst oder die Freiheit der Meinung. Es geht um die Freiheit insgesamt. Unter falscher Nachgiebigkeit würde nicht zuletzt die Religion leiden. Denn auch die Religionsfreiheit würde dabei Schaden nehmen. Auf einem anderen Blatt steht, dass jeder sich die Frage gefallen lassen muss, ob er von seiner Freiheit einen guten Gebrauch macht. Auch ein Regisseur muss sich das fragen lassen.

Der kritische Dialog über die Religionen gewinnt an Bedeutung. Vielen wird dabei die prägende Bedeutung des christlichen Glaubens für unsere Kultur neu bewusst. Bei entsprechenden Befragungen tritt der Wunsch deutlich hervor, dass die kommenden Generationen im Geist christlicher Nächstenliebe aufwachsen und zugleich lernen, von ihrer Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch zu machen. Weil dafür die Quellen des christlichen Glaubens unentbehrlich sind, spricht sich ebenfalls eine große Mehrheit dafür aus, dass in den Schulen ein kundiger Religionsunterrichts erteilt wird, der nicht durch einen allgemeinen Ethikunterricht verdrängt werden soll. 


3.
In diesem Horizont will die Evangelische Kirche in Deutschland im Vertrauen auf Gottes Verheißung die großen Chancen und die gleichfalls großen Herausforderungen wahrnehmen, die sich ihr in unserer Zeit stellen. Menschen, denen Gott, Religion und Kirche fremd geworden sind, sollen neu erfahren können, was es heißt, aus der Freiheit des Glaubens an Jesus Christus zu leben. Unsere Kirche soll für Menschen verschiedener Herkunft und Prägung geistliche Heimat sein oder neu zur geistlichen Heimat werden. Als „Kirche der Freiheit“ wollen wir auf den Wunsch antworten, dass der Glaube „Halt und Mittel zur Freiheit“ ist.

Viele Mitarbeitende in der Kirche stellen sich dieser Aufgabe in vorbildlicher Weise und mit hohem persönlichem Engagement. Sie gestalten das kirchliche Leben an ihrem jeweiligen Ort einladend, freundlich und geistlich. Umstrukturierungen, die an vielen Stellen –  oft auch schmerzhaft – notwendig sind, werden zum Anlass genommen, nach neuen Formen gelingender kirchlicher Arbeit zu suchen.

Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland will diesen Prozess vorantreiben. Er hat ein Impulspapier „Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ veröffentlicht, das zum ersten Mal den Versuch unternimmt, für die evangelischen Kirchen in Deutschland gemeinsam eine langfristige Perspektive zu entwickeln. Es geht darum, negativen Entwicklungstendenzen, von denen auch unsere Kirche betroffen ist, entgegenzuwirken und einen Mentalitätswandel hin zu einem „Wachsen gegen den Trend“ zu fördern.


4.
Das wollen wir aus der Mitte des evangelischen Glaubensverständnisses heraus tun. Worin dieses Glaubensverständnis besteht, will ich in einigen wenigen Strichen beschreiben.

Einen ersten Grundzug beschreiben ich so: Evangelisches Glaubensverständnis hat seine Mitte darin, dass Jesus Christus die über Leben und Tod entscheidende Wahrheit ist. Zu deren Kraft bekennt sich das Johannesevangelium mit der Aussage: Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen (Johannes 8, 32). Evangelisches Christsein orientiert sich also an der Wahrheit, die Jesus Christus in Person ist. Weil er die Wahrheit ist, ist er der Herr der christlichen Existenz ebenso wie der Herr der Kirche. In diesem sehr präzisen Sinn bekennt sich eine evangelische Kirche zum kyrios Iesous, zum Dominus Iesus. Das Bekenntnis zu dieser Wahrheit markiert nicht nur den Unterschied zwischen Kirche und Welt, sondern ebenso auch die Unterscheidung zwischen Christus, der diese Wahrheit ist, und der Kirche, die dieser Wahrheit dient.

Diese Wahrheit wird – das ist der zweite Grundzug – als befreiende Macht erfahren. Sie befreit aus der Lebenslüge, als könnten wir unser Leben selbst herstellen und dessen Sinn selbst produzieren. Sie befreit zu der Einsicht, dass der Mensch mehr ist, als wir im Bild des homo faber, des sich und seine Welt selbst erschaffenden Menschen denken. Der Mensch ist mehr, als er selbst aus sich macht. Er ist deshalb weder mit seinen Taten noch mit seinen Untaten identisch. Er ist das Lebewesen, das beständig über sich selbst hinausweist. Er ist von der Hoffnung getragen, dass er, indem er sich selbst übersteigt, nicht nur auf sich selbst trifft. Darin, dass er von Gott geliebt und anerkannt ist, findet er die Wahrheit wie den Frieden seines Lebens.

Indem Gottes Wahrheit uns – das ist der dritte Grundzug – in dem Menschen Jesus von Nazareth begegnet, tritt uns die Berufung zum Menschsein entgegen. Von Gott wird jede und jeder als menschlicher Mensch angesprochen, als eine von Gott definitiv anerkannte und mit einer unverlierbaren Würde begabte Person. Die Würde, die jedem Menschen zukommt, kann „durch keine menschliche Tat überboten und durch keine menschliche Untat zerstört werden“ (E. Jüngel). Weil es sich so verhält, kommt diese Würde nicht nur der Menschheit als Gattung, sondern in unantastbarer Weise jedem einzelnen Menschen zu. Die darin begründete Hochschätzung des einzelnen Menschen bringt evangelischer Glaube ins Gespräch der Gegenwart ein. Sie ist von Gewicht sowohl im Gespräch der christlichen Konfessionen wie im Gespräch mit dem Islam und anderen religiösen Überzeugungen. Freilich ist diese Hochschätzung des einzelnen Menschen, der in seiner Einmaligkeit von Gott geliebt und anerkannt ist, grundsätzlich wie praktisch deutlich zu unterscheiden von einem Individualismus, der gerade von der Vorstellung geprägt ist, als sei jeder Mensch der Herr des eigenen Lebens und insofern auch nur sich selbst verantwortlich.

Die protestantische Hochschätzung menschlicher Verantwortung und menschlicher Leistung gründet nicht in der Vorstellung, sich durch Eigenverantwortung selbst produzieren oder durch eigene Leistung selbst sichern zu können. Sie gründet vielmehr – und das ist der vierte Grundzug – in dem Dank für die uns anvertrauten Gaben, von denen wir in Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch machen können. Evangelische Ethik ist eine Ethik der Dankbarkeit und zugleich eine Ethik verantworteter Freiheit. Sie drängt deshalb auf Lebensformen, in denen beides Raum finden kann: Dankbarkeit und verantwortete Freiheit. Dankbarkeit drängt auf das Gotteslob und braucht deshalb einen Raum der persönlichen Glaubensfreiheit wie der gemeinschaftlichen Religionsfreiheit, in dem dieses Gotteslob laut werden kann. Verantwortete Freiheit drängt auf eine Gestalt der Gesellschaft, in der gerechte Teilhabe möglich ist. Dass sich alle an der Gestaltung des gemeinsamen Geschicks beteiligen können, ist ein Grundimpuls des evangelischen Glaubens. Die Verbürgung von Grundfreiheiten und die Ermöglichung von demokratischer Mitwirkung liegen genauso in der Richtung dieses Grundimpulses wie die Ermöglichung von wirtschaftlicher Teilhabe in einer Gesellschaft, in der für Gerechtigkeit und Solidarität Raum ist. In all dem und über all dem bilden der Respekt für die Integrität des anderen Menschen und damit der Verzicht auf Gewalt sowie eine tragfähige Gestalt des gemeinsamen Lebens – also der Frieden unter den Menschen und die Bewahrung der Natur – den unerlässlichen Horizont verantworteter Freiheit.

Eine Kirche, die aus der befreienden Wahrheit lebt, die in Jesus Christus als Person begegnet, ist eine Kirche der Freiheit. Das ist der fünfte und letzte Grundzug, den ich heute hervorheben möchte. Die Kirche der Freiheit ist dadurch geprägt, dass das Gotteslob, das der ganzen Gemeinde anvertraut ist, in Freiheit erklingt. Die Taufe ist die Ordination zu diesem Gotteslob; Frauen und Männer haben an ihm Anteil; die Gemeinde und das ordinierte Amt sind an ihm in gleicher Weise beteiligt. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie sich den Herausforderungen ihrer jeweiligen Zeit stellt und ihre Antworten auf die Fragen der Zeit vor der Botschaft der Heiligen Schrift verantwortet. Kirche der Freiheit ist sie, weil sie jeden Getauften dazu befähigen möchte, seinen Glauben zu verantworten und Rechenschaft abzulegen von der Hoffnung, die in ihm ist. Verantwortete Freiheit ist nicht nur der Grundzug evangelischer Existenz in der Welt, sie bestimmt zugleich das Profil einer evangelischen Kirche. Wir haben deshalb in der Evangelischen Kirche in Deutschland den kirchlichen Reformprozess, den wir angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen in Gang bringen wollen, unter den Leitbegriff der Kirche der Freiheit gestellt.


5.
Der Weg des Glaubens ist ein Weg in einer Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern. Auch wenn das beharrliche Festhalten an Glaubensüberzeugungen in einsame Entscheidungen führen kann, so ist doch der Weg des Glaubens niemals ein einsamer Gang; er weiß sich immer begleitet durch die Fürbitte in Gottesdienst oder persönlichem Gebet.

Schon deshalb kann der christliche Glaube die Aussage, Religion sei Privatsache, für sich selbst niemals gelten lassen. Eine einseitige Betonung der innerlichen Dimension des Glaubens oder gar seine esoterische Verflüchtigung führen in die Irre. Nikolaus Graf von Zinzendorf konstatierte: „Kein Christentum ohne Gemeinschaft.“ Er hatte Recht.

In evangelischer Sicht liegt der Hauptgrund für diese Feststellung darin, dass der christliche Glaube nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch in Gegenwart und Zukunft ohne die Gemeinschaft der Glaubenden nicht denkbar ist. Er lebt aus der um Wort und Sakrament versammelten Gemeinschaft, aus der konkreten Verbundenheit von Menschen, in der sich christliche Bildungsprozesse vollziehen, aus der Gemeinschaft des praktischen Handelns in christlicher Verantwortung. Er bewährt sich in einer Gemeinschaft des Zeugnisses und der wechselseitigen Ermutigung, in einer Gemeinschaft, die den christlichen Glauben feiert und ihn im Alltag bewährt.

Jeder und jede Glaubende hat an dieser Gemeinschaft einen eigenen und aktiven Anteil; darauf verweist die Reformation mit der These vom Priestertum aller Glaubenden. Die Gaben aller Getauften sollen dafür fruchtbar gemacht werden, dass Menschen Zugang zum Evangelium finden. Das ist der Kern des evangelischen Bilds der Kirche. Nur in dem Maß, in dem unsere Kirche von der Vielfalt der Gaben, die ihr anvertraut sind, Gebrauch macht, trägt sie das Ihre zur Weitergabe des christlichen Glaubens bei. Das ordinierte Amt wie die besonderen Beauftragungen in unserer Kirche ordnen wir diesem Allgemeinen Priestertum zu. Dabei beachten wir das ökumenische Umfeld; aber die aus der Vorstellung von einem besonderen Weihepriestertum hergeleiteten Kriterien können die evangelische Diskussion dieser Frage nicht bestimmen.


6.
Das gibt mir Anlass zu einer Überlegung zur aktuellen ökumenischen Lage. In der zurückliegenden Zeit haben in besonderer Weise Entwicklungen in der römisch-katholischen Kirche dazu genötigt, auf der Grundlage des evangelischen Bekenntnisses Klarheit über die ökumenische Lage zu gewinnen. Ich habe die gegenwärtige Phase der ökumenischen Beziehungen in diesem Zusammenhang als eine Ökumene der Profile bezeichnet.

Die Rede von einer Ökumene der Profile soll den ökumenischen Einsatz unserer Kirche auf neue Weise unterstreichen. Wir wollen das Gemeinsame stärken. Den einen Glauben haben wir zu bekennen, weil wir an den einen Herrn gebunden sind. Die eine Taufe feiern wir, weil uns der eine Geist bestimmt (vgl. Epheser 4,4-6). Deshalb werden wir in der Gemeinschaft aller Kirchen, die der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen angehören, zu einer Vereinbarung über die wechselseitige Anerkennung der Taufe kommen. Damit nehmen wir wichtige Impulse auf, die aus der weltweiten ökumenischen Arbeit, insbesondere aus der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen und dem Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen, hervorgegangen sind.

Eine erneute Verständigung darüber, dass die Taufe ein wichtiges „Band der Einheit“ zwischen den christlichen Kirchen ist, hat auch eine klärende Auswirkung auf das Verhältnis zwischen den christlichen Kirchen und den nichtchristlichen Religionen. Denn ebenso wie die Taufe im Namen des dreieinigen Gottes die Kirchen miteinander verbindet, markiert sie einen Unterschied zu den nichtchristlichen Religionen. Genauso wie die Taufe auf den Tod und die Auferweckung Jesu Christi die christlichen Kirchen zur Einheit verpflichtet, macht sie deutlich, dass diese Einheit etwas anderes ist als der Dialog mit anderen Religionen. Dabei ist das Verhältnis zum jüdischen Glauben gesondert zu betrachten. Denn Jesus war Jude; das Bekenntnis zu ihm schließt das Bekenntnis zu Gottes ungekündigtem Bund mit seinem Bundesvolk ein. Aber wer die konstitutive ökumenische Bedeutung der Taufe hervorhebt, wird von einer Makro-Ökumene der Religionen nicht sprechen können. Er wird auch dem Vorhaben von religionsverbindenden gemeinsamen Gebeten oder von interreligiösen Feiern aus besonderen lebensgeschichtlichen Anlässen nicht das Wort reden.

Das Gemeinsame zwischen den christlichen Kirchen zu stärken, bleibt die erste ökumenische Aufgabe. In diesem Rahmen muss auch über unterschiedliche Auffassungen des christlichen Glaubens wie über unterschiedliche Typen des Kircheseins offen gesprochen werden. Die Wahrnehmung von Differenzen ist keine Absage an die ökumenische Verpflichtung, sondern bildet in ihr ein unaufgebbares Moment.

Der Dialog über die jeweiligen Prägungen der unterschiedlichen Kirchenfamilien gewinnt heutzutage aus einer Reihe von Gründen an Gewicht. Die verstärkte Hinwendung des römisch-katholischen Interesses zu den orthodoxen Kirchen trägt dazu ebenso bei wie die Notwendigkeit, sich verstärkt mit evangelikalen und pflingstlerischen Strömungen zu beschäftigen. Solche Bemühungen können in wichtigen Fragen Übereinstimmungen zur Folge haben. Aber sie zielen auch darauf, dass Gemeinsamkeit auch in der Differenz bewahrt und gelebt werden kann.

Dies setzt freilich voraus, dass sich die Verschiedenen im Bewusstsein des Gemeinsamen respektieren. Versöhnte Verschiedenheit  ist und bleibt ein Grundzug des ökumenischen Miteinanders. Wir halten an der Hoffnung auf ein wachsendes Maß an Gemeinschaft fest; das Bemühen darum muss weitergehen. Aber die Verweigerung des Respekts vor dem Kirchesein eines ökumenischen Partners ist kein geeignetes Mittel, die Gemeinschaft mit ihm wachsen zu lassen. Zum wechselseitigen Respekt zwischen ökumenischen Partnern, den Respekt vor den kirchlichen Ämtern des anderen eingeschlossen, gibt es keine Alternative.

In die Ökumene unserer Zeit bringen wir gern und zuversichtlich unser evangelisches Profil ein. Wir wollen es für das gemeinsame Zeugnis fruchtbar machen. Heute bezeugen wir das Evangelium in missionarischer Situation. Ökumenisch verbunden sind wir nicht zuletzt durch den Auftrag zu einem gemeinsamen Wirken nach außen. Dieses wird nicht geschwächt, wenn die bleibenden Unterschiede zwischen den Kirchen hervortreten und verständlich gemacht werden. Es wird vielmehr dann geschwächt, wenn die Kirchen zwar voneinander getrennt bleiben, aber niemand weiß, warum. Wenn die beiden großen Konfessionen in Deutschland auf je unterschiedliche Weise dazu beitragen, dass das eine Evangelium die Menschen erreicht, brauchen sie sich ihrer Unterschiede nicht zu schämen.

Zu den Stärken evangelischen Glaubensverständnisses zählen wir die Ausrichtung an Gottes lebendigem Wort; zu ihr gehört die Bereitschaft, Glauben und Vernunft, Frömmigkeit und Aufklärung miteinander zu verbinden und nicht auseinander treten zu lassen. Persönliche Freiheit, Gewissensverantwortung und der daraus erwachsende Einsatz für das Leben in Gemeinschaft sind Grundpfeiler evangelischer Frömmigkeit. Wir suchen die Nähe zu den Menschen unserer Zeit und den Debatten, die sie bewegen; aber wir schwächen das Befremdliche am Wort der Bibel nicht ab, sondern sprechen es in unsere Zeit hinein. Angstfrei treten wir mit unserer Glaubensüberzeugung in den Dialog mit Wissenschaft und Kultur; so versuchen wir, das Weltkulturerbe von Glaube, Hoffnung und Liebe für unsere Zeit fruchtbar zu machen.


7.
Barmherzigkeit mit den Zweiflern: Das wird uns auch durch den nötigen Umbau unserer Kirche abverlangt. Der Alterswandel unserer Gesellschaft wirkt sich auch auf unsere Kirche aus. Die hohe Arbeitslosigkeit und die Veränderungen in der staatlichen Steuerpolitik tragen zu einer durchweg schwierigen finanziellen Lage bei. Wir versuchen, dem entgegenzuwirken, wo es möglich ist. Nach meiner Überzeugung sind die Steuererleichterungen im Bereich der direkten Steuern an eine Grenze gekommen; sie sollten so nicht weitergeführt werden. Steuerpolitische Entscheidungen, die einen weiteren Rückgang des Kirchensteueraufkommens nach sich ziehen, würden uns allen schaden.

Aber es gibt – insbesondere im Zusammenhang mit der demografischen Entwicklung – auch Faktoren, die der unmittelbaren kirchlichen wie politischen Einwirkung entzogen sind. Diese Entwicklungen sind mit schmerzhaften Einschnitten in wichtige kirchliche Arbeitsfelder verbunden. Das ist in den einzelnen Gliedkirchen der EKD sehr unterschiedlich ausgeprägt. Aber wo immer dies der Fall ist, kann es nur mit großem Bedauern gesehen werden. In diesem Prozess der Veränderung ist es unsere Pflicht, alles uns Mögliche zu tun, damit die Gestalt unserer Kirche klar erkennbar bleibt und, wo immer das geht, besser erkennbar wird.

An vielen Stellen in unserer Kirche ist ein Geist zu spüren, der nicht auf Abbau, sondern auf Umbau gerichtet ist und sich von dem Zutrauen auf eine gelingende Konzentration der Kräfte leiten lässt. Er weiß sich getragen durch den Auftrag Jesu. Und er lässt sich ermutigen durch die Erfahrung, dass kirchliches Engagement in unserer Gesellschaft unverzichtbar ist.


8.
Tastend wenden sich auch die Zweifler unter unseren Zeitgenossen wieder der Kirche zu – als einer Institution des Vertrauens in einer Zeit allgemeiner Verunsicherung. Das ist keine illegitime Erwartung: dass eine Institution, die den Glauben – also das Vertrauen auf Gott – zum Thema hat, auch selbst eine Institution des Vertrauens ist. Deshalb will ich am Schluss meiner Überlegungen in sieben Punkten beschreiben, worin unsere Kirche sich als eine Institution des Vertrauens bewähren oder zu einer solchen Institution entwickeln kann.

1. Vertrauen bildet sich durch den einladenden Charakter einer Gemeinde oder einer Kirche. Vertrauen als Grundlage jeder Gemeinde erneuert sich im Gottesdienst und wirkt zugleich nach außen. Wo eine Gemeinde nicht aus dem Gottesdienst lebt, wird ihr die entscheidende Vertrauensgrundlage fehlen. Wo sie aber nicht hinausgeht, sich der Öffentlichkeit stellt und sich dieser öffnet, wird es keine Gelegenheit geben, sie als vertrauenswürdig kennen zu lernen.

2. Vertrauen bildet sich insbesondere über eine persönliche Beziehung zur Pfarrerin oder zum Pfarrer. Diese Personen stehen in besonderer Weise für die Vertrauenswürdigkeit nicht nur der Gemeinde, sondern oft auch der ganzen Kirche. Verlässlichkeit im Kleinen wie im Großen bildet deshalb eine ebenso wichtige Voraussetzung für Vertrauensbildung wie die aktive Zuwendung zu Gruppen, die der Gemeinde beziehungsweise der Pfarrerin oder dem Pfarrer misstrauisch gegenüber stehen. „Das Vertrauen der Gemeindeglieder – so hat die württembergische Theologin Isolde Karle gesagt – ist die entscheidende Basis pastoralen Handelns.“

3. Wie unmittelbar kirchliches Handeln auf Vertrauen angewiesen ist, zeigt sich beispielhaft an der seelsorgerlichen Verschwiegenheit als elementarem Baustein kirchlicher Vertrauenswürdigkeit. Sie muss als hohes Gut von der Kirche bewahrt, aber auch vom Staat geachtet werden.

4. Das Priestertum aller Glaubenden gehört zur besonderen Vertrauensstruktur der evangelischen Kirche. Es ist ein unschätzbarer Reichtum unserer Tradition. Die dadurch ermöglichte Vielfalt des kirchlichen Zeugnisses bildet ein kostbares Gut. Vertrauen wird am ehesten dann wachsen, wenn unterschiedliche Auffassungen offen ausgetragen und in transparenten Verfahren gefundene Lösungen fair akzeptiert werden.

5. Vertrauen gewinnen Kirchen und Gemeinden auch durch ihr Bildungsengagement und durch ihre diakonische Präsenz. Wir sind als Kirche dazu verpflichtet, mit diesem Pfund zu wuchern und die Bildungsinstitutionen wie die diakonischen Einrichtungen unserer Kirche unter den schwierigen Bedingungen der Gegenwart zukunftsfähig zu machen.

6. Auch kirchenleitende Organe sind in diese Überlegung einzubeziehen. Unverständnis und vielleicht auch Misstrauen entstehen durch die Undurchsichtigkeit unserer kirchlichen Strukturen. Dadurch verfestigen sich Vorurteile. Vertrauen setzt Transparenz der Strukturen und Ehrlichkeit im Umgang mit eigenen Schwierigkeiten voraus. Gewiss sind Strukturen weder heilsnotwendig noch seligmachend. Doch dass wir beim Jüngsten Gericht nicht danach gefragt werden, wie wir  unsere Verantwortung für auftragsgemäße Strukturen wahrgenommen haben, würde ich nicht als sicher voraussetzen. Strukturen, die verständlich sind und Beteiligung ermöglichen, brauchen Vertrauen; aber sie schaffen und fördern auch Vertrauen.

7. Das Vertrauen in die Kirche bemisst sich auch an der Glaubenscourage ihrer Vertreterinnen und Vertreter, an der Vertrauenswürdigkeit ihres öffentlichen Worts. Immer wieder neu müssen wir den Mut gewinnen, uns aufgrund des Gottvertrauens ganz der Welt zuzuwenden, um in ihr christliche Verantwortung zur Geltung zu bringen.