Grenzen überschreiten und sich Grenzen setzen - Ein theologischer Beitrag zum Umgang des Menschen mit den biomedizinischen Möglichkeiten und mit sich selbst - Vortrag auf der Tagung der Evangelischen Forschungsakademie in Berlin-Schwanenwerder

Hermann Barth

Tu deine Arbeit in Demut;
das ist besser als alles, wonach die Welt trachtet.
Je größer du bist, desto mehr demütige dich;
so wirst du beim Herrn Gnade finden.
Denn groß ist allein die Majestät des Herrn,
und von den Demütigen wird er gepriesen.
Strebe nicht nach dem, was zu hoch ist für dich,
und frage nicht nach dem, was deine Kraft übersteigt,
sondern was dir Gott befohlen hat, das halte dir immer vor Augen,
denn es nützt dir gar nichts, wenn du nach seinen vielen Werken gaffst.
Mit dem, was dich nichts angeht, gib dich nicht ab;
denn dir ist schon mehr gezeigt, als Menschenverstand fassen kann;
schon viele hat ihr Denken irregeleitet,
und gefährliche Vorstellungen haben sie gestürzt.
Wer sich in Gefahr begibt, der kommt darin um.

Es schließt, meine sehr verehrten Damen und Herren, gut an den Gottesdienst an, daß mein Vortrag mit einem Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach (3,19-27 ), sozusagen einer alttestamentlichen Lesung, begonnen hat. Und um die Verbindung zu den gottesdienstlichen Elementen noch enger zu machen, füge ich gleich noch eine weitere, aber ganz kurze Lesung aus dem Evangelium an:

Jesus sprach zu seinen Jüngern:

Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele? (Matthäus 16,26)

Niemand von uns erwartet, daß die Bibel zum Umgang des Menschen mit den biomedizinischen Möglichkeiten unmittelbar etwas zu sagen hat. Um so erstaunlicher ist es, wie spielend leicht mittelbar Bezüge herzustellen sind zwischen den beiden von mir ausgewählten biblischen Texten und der aktuellen bioethischen Debatte. Manche werden in den biblischen Formulierungen ihre eigene skeptische Frage wiedererkennen, ob bei der Anwendung der Gentechnik nicht die Kräfte des Menschen überschätzt werden und er sich am Ende in der Rolle des Zauberlehrlings wiederfindet. Andere mögen sich durch das Lob der Demut zu der kritischen Rückfrage provoziert fühlen, ob die bahnbrechenden und der Lebensrettung, der Lebensverlängerung und der Verbesserung der Lebensqualität dienenden medizinischen Entwicklungen jemals stattgefunden hätten, wenn Wissenschaftler und Ärzte, Jesus Sirach folgend, alle kühnen Ideen sogleich als "gefährliche Vorstellungen" weggeschoben hätten. Das Jesuswort scheint auf den ersten Blick von den biomedizinischen Themen weit weg zu sein; aber haben wir bei einem so enormen Zuwachs an Wissen und technischen Eingriffsmöglichkeiten, wie er für die moderne Biomedizin kennzeichnend ist, nicht allen Grund, zu fragen, was diese Macht mit uns und unsrer Seele tut?

Ich werde im Laufe meines Vortrags verschiedentlich auf biblische Texte und Gedanken zurückkommen. Aber ein "theologischer Beitrag zum Umgang des Menschen mit den biomedizinischen Möglichkeiten und mit sich selbst" muß weiter ausgreifen und medizinische, naturwissenschaftliche, politische und ethische Aspekte aufeinander beziehen und miteinander ins Gespräch bringen. Der Gedankengang, auf den ich Sie mitnehmen möchte und der eine knappe Stunde in Anspruch nehmen wird, beginnt bei der Parkinsonschen Krankheit; an diesem Beispiel soll im I. Teil gezeigt werden, welche Erwartungen sich auf die heutige Biomedizin richten und in welche Dilemmata Forscher, Ärzte und Patienten geraten. Die grundlegende Erwartung ist die von Hilfe und Heilung; der II. Teil widmet sich darum der Ethik des Helfens und Heilens; für sie ist es charakteristisch, die Möglichkeiten des Helfens und Heilens beständig ausweiten zu wollen und im Zuge dessen in Neuland vorzustoßen, also bisher bestehende Grenzen zu überschreiten. Allerdings ist es nicht zu rechtfertigen, die Möglichkeiten des Helfens und Heilens um jeden Preis zu erweitern; vielmehr kann es, wie der III. Teil darstellen wird, ethische Gründe geben, sich selbst Grenzen zu setzen und deshalb auf eine Therapie oder Forschungsrichtung bewußt zu verzichten, aber auch durch die Rechtsordnung für alle verbindlich Grenzen zu setzen. Das Urteil, ob im konkreten Fall bisher bestehende Grenzziehungen überschritten oder ob sie bewahrt und eventuell sogar enger gefaßt werden sollen, weicht nicht selten voneinander ab - mit der Folge, daß in Kirche und Gesellschaft unterschiedliche Positionen nebeneinander und gegeneinander vertreten werden; der IV. Teil soll herausarbeiten, daß es in dieser pluralistischen Situation darauf ankommt, das Eintreten für die eigene Überzeugung und das Respektieren anderer Überzeugungen miteinander zu verbinden.

I. Hoffnungen und Erwartungen im Blick auf die Parkinsonsche Krankheit

Die Parkinsonsche Krankheit wird verursacht durch Störungen im Zusammenspiel verschiedener Botenstoffe im Zentralnervensystem. insbesondere durch den Untergang dopaminproduzierender Nervenzellen im Mittelhirn. Ihre Kardinalsysmptome sind Bewegungsverlangsamung, Muskeltonuserhöhung, Zittern und Haltungsinstabilität. Die Zahl der Parkinson-Patienten in Deutschland wird derzeit auf etwa 150.000 bis 200.000 geschätzt, also kein ganz geringer Anteil an der Gesamtbevölkerung. Die Möglichkeiten zur Behandlung der Symptome sind, insbesondere in den ersten Jahren der Erkrankung, nicht schlecht; eine Heilung ist aber bisher nicht möglich.

1. Wenn es darum geht, besonders lohnende Ziele der biomedizinischen Forschung anzugeben und damit diese Forschung zu legitimieren, dann werden regelmäßig Ansätze für eine Heilung oder jedenfalls eine verbesserte Behandlung der Parkinsonschen Krankheit genannt. Dem wird kritisch entgegengehalten, daß alle Überlegungen zu künftigen Therapiemöglichkeiten derzeit nicht mehr als Denkmodelle und darauf begründete Hoffnungen seien und man auf dem sensiblen Feld bisher unheilbarer Krankheiten mit der Heilungshoffnung kranker Menschen und ihrer Angehörigen nicht Schindluder treiben dürfe. In der Tat wäre es leichtfertig, zum gegenwärtigen Zeitpunkt irgendwelche konkreten Heilungserwartungen hervorzurufen. Die Kritik sollte allerdings auch nicht übers Ziel hinausschießen. Die Verbesserung der Parkinsonbehandlung ist angesichts der Schwere, Dauer und Verbreitung der Krankheit tatsächlich ein lohnendes Ziel. Nur wer vom hohen Rang dieses Ziels überzeugt ist, ist in der Lage, alle Kräfte zu seiner Erreichung freizusetzen. Günter Stock, seit 2006 neuer Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, hat vor ein paar Monaten in einem Interview  gesagt: "Wenn man von seiner Arbeit nicht begeistert ist und im biomedizinischen Bereich nicht daran glaubt, dass man für den Menschen etwas Gutes bewirken kann, dann könnte man mit den vielen Fehlschlägen, die es dabei gibt, nicht umgehen ... Niemand hat richtig Geduld, 40 Jahre zu planen. Das heißt, es kann sein, dass es manchmal zu Versprechungen kommt, die zwar nicht falsch sind, die aber suggerieren, dass die Erfolge früher kommen, als sie tatsächlich kommen."

2. Insbesondere der Stammzellforschung und dem sogenannten therapeutischen Klonen wird in einem Großteil der scientific community zugetraut, Durchbrüche zu einer verbesserten Behandlung oder gar Heilung der Parkinsonschen Krankheit zu erzielen. Weltweit werden diese Forschungsrichtungen intensiv gefördert. In Deutschland freilich ist - wie in einer relativ kleinen Zahl weiterer Länder - das sogenannte therapeutische Klonen nicht erlaubt und die Stammzellforschung nur unter engen Restriktionen möglich. Vor knapp fünf Jahren wurde das Stammzellgesetz beschlossen. Danach bleibt in Deutschland die Herstellung humaner embryonaler Stammzellinien verboten. Entsprechend ist auch der Import solcher Stammzellinien grundsätzlich nicht gestattet. Ein kleines Fenster für Stammzellforschung auch in Deutschland wurde jedoch dadurch geöffnet, daß unter bestimmten Voraussetzungen der Import von Stammzellinien genehmigt werden kann; insbesondere soll eine Stichtagsregelung dafür sorgen, daß keine menschlichen Embryonen eigens zur Lieferung von Stammzellinien nach Deutschland verbraucht, d.h. getötet werden.

Auf die neueste Entwicklung in der deutschen Debatte zur Stammzellforschung gehe ich erst später ein. Schon hier aber muß von dem entscheidenden Grund die Rede sein, der jedenfalls in Deutschland der intensiven Förderung der Stammzellforschung entgegensteht: nämlich von der ethischen Überzeugung - die ich im übrigen voll teile -, daß der menschliche Embryo von Anfang an unter den Schutz der Menschenwürde und des uneingeschränkten Lebensrechts zu stellen ist, und vom Embryonenschutzgesetz, mit dem diese ethische Sicht zur Grundlage der einschlägigen rechtlichen Regelungen gemacht und damit ein Bollwerk gegen die Zulassung verbrauchender Embryonenforschung errichtet wurde. Der Embryo entwickelt sich, wie es das Bundesverfassungsgericht formuliert hat, nicht zum Menschen, sondern immer schon als Mensch. Der Embryo wird nicht erst im Lauf seiner Entwicklung Mensch, er wird vielmehr immer besser wahrnehmbar als das, was er ist, nämlich Mensch. Die Achtung der Menschenwürde aber gebietet es, den Menschen stets als Zweck an sich und niemals als bloßes Mittel zu gebrauchen. Wer diese Sicht teilt, kann, ohne in einen gravierenden Selbstwiderspruch zu geraten, keinem Forschungsvorhaben zustimmen, das - wie die Stammzellforschung - auf die Tötung menschlicher Embryonen angewiesen ist. Man darf allerdings nicht verschweigen, was mit dieser Position den Parkinsonkranken abverlangt und zugemutet wird: Sie müssen die Einsicht aufbringen, daß verglichen mit der Hoffnung, im Wege der Stammzellforschung eines Tages verbesserte Behandlungsmöglichkeiten oder gar Chancen der Heilung für Parkinson-Kranke zu entwickeln, die Tötung von Embryonen ein zu hoher Preis ist. Ich bin nicht sicher, ob auf längere Sicht die Abwägung, jedenfalls bei einer Mehrheit der Betroffenen, zugunsten des Schutzes von Embryonen ausgehen wird.

3. In dieser Tagung war bereits die Rede davon, daß Helmut Dubiel, der als Professor für Soziologie in Gießen lehrt, ein Buch  über seine Erfahrungen mit der Parkinsonschen Krankheit und der Implantierung eines Hirnschrittmachers veröffentlicht hat. Er gibt darin ehrlich Rechenschaft über seine ambivalenten Empfindungen:

"Der allgemeine Begriff für die Sonde in meinem Kopf und den Schrittmacher in meiner Brust ist 'Neuroimplantat' ... Neuroimplantate sind medizinische Geräte, die ins Gehirn des Menschen implantiert werden und die vielfältigen therapeutischen Zwecken dienen. Vornehmlich dienen sie als Ersatz verloren gegangener oder beschädigter neuronaler Funktionen. Noch ist ihr Einsatz im Wesentlichen auf Menschen, die an Parkinson erkrankt sind, beschränkt. Aber rasch wachsen auch die Anwendungen bei Depressiven, bei Menschen mit Zwangsstörungen und Epileptikern ... Die Hirnschrittmacher sind die Pioniere einer Entwicklung, die weit über die medizinische Anwendung hinausgeht. Aber schon als solche sind sie problematisch wegen des großen Missverhältnisses zwischen der 'Invasivität', der Eindringtiefe in die ultrakomplexe Struktur des Hirns, und der weitgehenden Unklarheit, wie genau eigentlich die Wirkungsweise der vorliegenden Interaktion von Mensch und Maschine ist ... Die 'New York Times' berichtet von einer Tagung, auf der Neurowissenschaftler und Philosophen über die gesellschaftlichen Konsequenzen verbesserter Medikamente für das Gehirn diskutiert haben. Die Rede war z.B. von Ritalin, einem Medikament, das schwere Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern mindert. Debattiert wurde auch über ein kurz vor der Zulassung stehendes Alzheimer-Medikament, das die Gedächtnisleistung enorm verbessern soll. Wären diese Medikamente - zu denen man auch noch die neuen Potenzmittel, die neue Klasse der Antidepressiva und auch den Hirnschrittmacher rechnen kann - eindeutig Hifen für Kranke, und für Kranke allein, so hätten wir kein Problem. Aber das Problem ist, dass diese neuen Hilfsmittel die klassische Demarkationslinie zwischen 'krank' und 'gesund' unterlaufen. Die große publizistische Aufmerksamkeit, die diese Mittel erfahren, deutet schon darauf hin, dass die Pharmakonzerne einen größeren Kreis von Konsumenten im Blick haben als die eindeutig als neurologisch krank definierten Patienten. Sie zielen vielmehr auf den unendlich viel größeren Markt derer, die mit ihrer Leistung, sei es des Gedächtnisses, der sexuellen Potenz, ihrer Stimmung etc., unzufrieden sind. 'Neuro-Enhancement' ist der in Fachkreisen gebräuchliche Begriff für diese Hilfen, die als Nebenprodukt der neurologischen Forschung auch Gesunden dazu verhelfen können, ihr Leben besser zu meistern."

II. Dem Helfen und Heilen verpflichtet

1. Anläßlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Göttingen hat im Sommer 2005 der seinerzeitige Bundeskanzler Gerhard Schröder eine viel beachtete und viel kommentierte Rede über den naturwissenschaftlichen und medizinischen Fortschritt gehalten. Darin sagte er unter anderem:

"Wir mussten ... in der Vergangenheit erleben, dass Forscher, die sich für die Arbeit mit embryonalen Stammzellen ausgesprochen haben, öffentlich als gewissenlos oder geltungssüchtig diffamiert wurden. Ich finde diese Kritik in keiner Weise akzeptabel ... Ich finde es anmaßend, die Motive dieser Biologen und Mediziner in Zweifel zu ziehen. Sie stellen ihre Forschungen in den Dienst ihrer Mitmenschen. Sie wollen anderen helfen und Krankheiten heilen. Kann es überhaupt eine großartigere Aufgabe geben?"

Und er fuhr dann - zu dem aus seiner Sicht ethisch Gebotenen übergehend und Folgerungen für sein politisches Programm ziehend - folgendermaßen fort:

"Solange das große medizinische Potenzial der Stammzellenforschung nicht ausgelotet ist, und zwar mit adulten wie mit embryonalen Stammzellen, solange die Chance besteht, Leiden lindern und heute noch unheilbare Krankheiten bekämpfen zu können, haben wir die Pflicht, diese Forschung zu nutzen. Wir müssen der Chance eine Chance geben ... Wir wollen in Deutschland eine neue Kultur der Wissenschaft etablieren. Eine Kultur der Freiheit. Eine Kultur der Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen ... Ich will erreichen, dass wir bei neuen Technologien die Chancen, die sich ergeben, verantwortungsvoll nutzen. Und zwar nicht, weil ich glaube, dass alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden muss. Sondern damit alles, was gemacht werden muss, auch gemacht werden kann."

2. Auch wenn es vielleicht eine Spur zu verklärend ist, weil es ja noch eine Menge anderer, nicht so edler Motive gibt - man wird Gerhard Schröder im Kern zustimmen müssen: Biologen und Mediziner "stellen ihre Forschungen in den Dienst ihrer Mitmenschen. Sie wollen anderen helfen und Krankheiten heilen. Kann es überhaupt eine großartigere Aufgabe geben?" Diese Ethik des Helfens und Heilens verdankt sich wesentlich der Wirkungsgeschichte des Gebots der Nächstenliebe.

Dieses Gebot wird für uns historisch zum ersten Mal in der hebräischen Bibel, die bei den Christen Altes Testament genannt wird, faßbar. Im 3. Buch Mose heißt es in einer Sammlung göttlicher Gebote: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst; ich bin der Herr" (19,18). Von diesem Quellpunkt aus hat sich das Gebot der Nächstenliebe im gesamten jüdisch-christlichen Einflußbereich verbreitet. Die Verkündigung und das Wirken Jesu kommen selbst aus dieser Tradition und sind zugleich der stärkste Faktor für ihre gewaltige Wirkung geworden. Jesus hat Gottesliebe und Nächstenliebe aneinander gebunden und das Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe als Zusammenfassung des Willens Gottes gedeutet (Matthäus 22,35-40).

Daß das Gebot der Nächstenliebe in besonderer Art die Zuwendung zu den Kranken einschließt, ergibt sich in der christlichen Tradition schon daraus, daß von Jesus zahlreiche Krankenheilungsgeschichten überliefert und bei ihm in den Horizont der Reich-Gottes-Erwartung gestellt sind. Im Matthäusevangelium heißt es über seine Wirksamkeit summarisch: "Und Jesus zog umher in ganz Galiläa, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und Gebrechen im Volk" (4,23). Entsprechend lautete dann auch der Auftrag, den Jesus seinen Jüngern bei ihrer Aussendung gab: "Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt böse Geister aus" (Matthäus 10,7f). Eine besondere Rolle bei der Ausrichtung der Nächstenliebe auf die Zuwendung zu den Kranken spielt aber noch das Gleichnis, das Jesus über das Weltgericht erzählt (Matthäus 25,31-46). In diesem Gleichnis scheidet der zum Weltgericht wiederkehrende Christus die vor seinem Thron Versammelten voneinander, "wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet". Zu denen zu seiner Rechten sagt er dann: "Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! Denn ich bin hungrig gewesen, und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis gewesen, und ihr seid zu mir gekommen." Das heißt: In jedem notleidenden Menschen, darum auch in jedem kranken Menschen, der Hilfe braucht, begegnet mir Gott selbst. Auf dieses Gleichnis geht im übrigen der Gedanke von den sieben Werken der Barmherzigkeit zurück: Hungrige speisen, Durstigen zu trinken geben, Fremde aufnehmen, Arme mit Kleidung versorgen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und - dieses siebte Werk wurde hinzugefügt - Tote begraben.

Rudolf Virchow, der bedeutende Wissenschaftler und Sozialpolitiker in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, hat von der Ausbreitung der Spitäler im Mittelalter gesagt, "daß man in ihr die Grundlage des modernen Krankenhauswesens suchen darf". Vom Lübecker Heilig-Geist-Hospital, das im 13. Jahrhundert entstanden ist und zu den besterhaltenen mittelalterlichen Spitälern gehört, ist eine Hospitalordnung aus dem Jahr 1263 erhalten. Sie legt fest, daß Kranke barmherzige Aufnahme finden sollen, um die notwendige Pflege zu erhalten. Aber nicht nur das moderne Krankenhauswesen, sondern die gesamte moderne Medizin und damit auch die medizinische und naturwissenschaftliche Forschung liegen grundsätzlich in der Konsequenz des Gebots der Nächstenliebe. Wie Jesus sich der Aussätzigen erbarmte oder die Bürger Lübecks sich durch die Errichtung des Heilig-Geist-Spitals der Gebrechlichen annahmen, so sind wir heute gefordert von der Not von Menschen, deren Nieren nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren, von der Not der an Diabetes Erkrankten, von der Not der Alzheimer-Patienten, auch von der Not der ungewollt Kinderlosen. In vielen Fällen gelingt die Überwindung der Not nur dadurch, daß bisher Unvorstellbares unternommen, also die Grenze des zuvor Möglichen verschoben wird: Organe verpflanzen, mithilfe der Gentechnik menschliches Insulin herstellen, die Verbindung von Ei- und Samenzelle außerhalb des Mutterleibes zuwegebringen und den Embryo in die Gebärmutter einpflanzen.

3. Insofern habe ich nicht nur nichts daran auszusetzen, sondern stimme aus ganzem Herzen zu, wenn Gerhard Schröder Naturwissenschaftler und Mediziner vor Diffamierung in Schutz nimmt. Die Probleme liegen an einer anderen Stelle. Gerhard Schröder hat sie angedeutet in der widersprüchlichen Formel von einer "Forschung ohne Fesseln, aber nicht ohne Grenzen". Was denn nun: "ohne Fesseln" oder "nicht ohne Grenzen"? Jede Grenzziehung schränkt ein, kann also als Fessel empfunden werden. Forschung ohne Fesseln ist, für sich genommen, eine gefährliche Losung. Wie alles menschliche Handeln so muß es sich auch die Forschung gefallen lassen, daß ihr Grenzen gesetzt werden. Es ist nicht zuletzt ihre ureigenste Aufgabe, sich selbst Grenzen zu setzen. Denn nicht alles, was der Mensch tun kann, ist ihm ethisch auch erlaubt.

III. Der Zweck heiligt niemals die Mittel, auch nicht beim Helfen und Heilen.

1. Eine Ethik des Helfens und Heilens würde sich selbst diskreditieren, wenn sie für Mittel plädierte, die ethisch nicht vertretbar sind. Der Zweck heiligt niemals die Mittel. Anders gesagt: Helfen und Heilen können nicht um jeden Preis geschehen.

Eines der Beispiele, mit denen ich soeben aktuelle Herausforderungen der Nächstenliebe illustriert habe, betraf die Not von Menschen, deren Nieren nicht mehr ordnungsgemäß funktionieren. Ihnen kann durch eine Organtransplantation geholfen werden. Aber es gibt, insbesondere in Deutschland, einen Mangel an Spenderorganen. Dieser "nationale Notstand bei der Transplantationsmedizin" wird unter Überschriften wie "Sterben auf der Warteliste" in der Presse regelmäßig thematisiert. Was tun? Jedenfalls unter unseren kulturellen und rechtsstaatlichen Rahmenbedingungen leuchtet es ohne weiteres ein, daß es aus ethischen und entsprechend aus rechtlichen Gründen völlig inakzeptabel wäre, sich das benötigte Organ durch die Tötung eines anderen Menschen zu beschaffen. Nicht ganz so selbstverständlich, aber doch weithin unstrittig ist das Verbot des Organhandels, also einer kommerziellen Verwertung von Lebendspenden. Eine Ethik des Helfens und Heilens kann zwar mit guten Gründen dafür eintreten, die Zahl der nach dem Hirntod explantierten und für eine Transplantation verfügbaren Organe, etwa durch Bemühungen um eine Steigerung der Bereitschaft zur Organspende, meinetwegen vielleicht auch durch den Übergang von einer Zustimmungsregelung zu einer Widerspruchsregelung, zu erhöhen. Aber das Mittel des Organhandels ist - nicht nur in Deutschland - bewußt, und dies sogar mit einer gesetzlichen Regelung, ausgeschlossen worden. Obwohl feststeht, daß zu wenig Spendernieren verfügbar sind, um den gegenwärtigen Bedarf zu befriedigen, und es gleichzeitig auf der Welt genügend Menschen gäbe, die gegen Geld bereit wären, eine ihrer beiden Nieren als Lebendspende abzugeben - der Zweck heiligt auch hier nicht die Mittel. Denn man würde durch die Etablierung des Organhandels Menschen, die in Armut leben, in die Versuchung bringen, sich einem unvertretbaren gesundheitlichen Risiko auszusetzen. Neuerdings wird darüber diskutiert, die Organspende mit finanziellen Kompensationen oder Anreizen zu versehen. Je nach dem, wie die Regelung konkret aussieht, könnte sie sich als ein gefährlicher slippery slope erweisen.

Ich füge ein weiteres Beispiel an. Unter den Entwicklungen der modernen Medizin und Biologie gehört die Möglichkeit eines Eingriffs in das menschliche Erbgut zu den folgenreichsten. Bei Pflanzen und auch bei Tieren wird das bereits praktiziert: Durch gezielte Veränderungen des genetischen Bestandes werden neue Eigenschaften gezüchtet. Soll es das auch beim Menschen geben, etwa zur Heilung von Erbkrankheiten? Nun muß man gleich klarstellen: Das ist keine aktuelle Frage, es ist Zukunftsmusik. Manchmal leidet die bioethische Diskussion daran, daß zu viel und zu lange über ferne, noch gar nicht absehbare Möglichkeiten gestritten wird, statt sich auf die heute anstehenden Probleme zu konzentrieren. Dennoch - gewissermaßen vorbeugend benenne ich den Grund, der nach meiner Auffassung entscheidend gegen verändernde Eingriffe in das menschliche Erbgut spricht: Die Entwicklung neuer Methoden in Medizin und Biologie ist, wie die Erfahrung lehrt, mit vielen Experimenten und Fehlversuchen verbunden. Bevor vor über 20 Jahren das erste extrakorporal gezeugte Kind geboren wurde, haben 283 nicht erfolgreiche Versuche stattgefunden. Eine ähnlich hohe Rate war nötig, um "Dolly" zu produzieren. Es mag noch hingehen, wenn bei der genetischen Veränderung von Pflanzen Fehlschläge auftreten. Die Sache wird schon problematischer, wenn bei Tieren die genetische Veränderung nicht gelingt und Fehlbildungen auftreten. Ethisch unerträglich wäre es jedoch, wenn in der unvermeidlichen Experimentalphase genetischer Veränderungen beim Menschen Ergebnisse zustande kämen, die die menschliche Identität und Lebensfähigkeit beeinträchtigen. Von unserem Verständnis des Menschen her kann es keine sozusagen fehlgeschlagenen Menschen geben. Sie experimentell in Kauf zu nehmen, gewissermaßen menschlichen "Ausschuß" zu produzieren ist ein monströser Gedanke.

2. Gerade das letzte Beispiel lenkt den Blick noch einmal zurück auf den eingangs zitierten Abschnitt aus dem Buch Jesus Sirach: "Strebe nicht nach dem, was zu hoch ist für dich, und frage nicht nach dem, was deine Kraft übersteigt." Sicher - von der Bibel geht auch die Wirkungsgeschichte des Gebots der Nächstenliebe aus, und sie drängt zumal im Horizont der Reich-Gottes-Erwartung auf Ausweitung, quantitativ wie qualitativ. Aber sicher nicht im Geist der new frontiers, des unaufhörlichen Vorwärtsdrängens auch über die nächsten und die letzten Grenzen hinaus, sondern eher im Geist der Demut, der Achtsamkeit und der Vorsicht.

In der Vorbereitung auf diese Tagung und diesen Vortrag habe ich wieder einmal nach den Texten von Hans Jonas  gegriffen, und ich muß schon sagen: Sie sind wie bei kaum einem anderen Autor Fleisch vom Fleisch, Geist vom Geist der jüdisch-christlichen Bibel. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, eine Passage zu zitieren, in der Hans Jonas - ausgehend von einer großartigen Auslegung der biblischen Sintfluterzählung - seine Gedanken zu einer Ethik der Furcht oder Ethik der Bescheidenheit entwickelt:

"Sehen wir uns den Text [der Sintfluterzählung] einmal einen Moment an. Zunächst ... steht da: Gott hat es gereut, den Menschen geschaffen zu haben, denn er sah das Treiben, wie es auf der Erde zuging. Und er hat also die Sintflut verhängt usw., und nachher sagt Gott, und das geht eben dem Regenbogen ... voran: 'Das Trachten des menschlichen Herzens ist böse von Jugend an.' Damit muß man sich abfinden, und damit muß die Welt bestehen können. Daraus muß das Beste gemacht werden. Und: 'Ich werde hinfort nicht mehr die Erde vernichten wollen um des Tuns der Menschen willen.' Das heißt, ein bescheideneres Ziel als der vollkommene Mensch ist von Gott selbst akzeptiert worden, und ich finde, wir müssen es auch akzeptieren. Und das bedeutet für die Ethik, um die ich mich bemühe, ... eine gewisse Abkehr von der Ethik der Perfektibilität, die irgendwie unter den heutigen Machtverhältnissen des Menschen ihre besonderen Gefahren hat ... Eine Ethik der Furcht vor unserer eigenen Macht wäre statt dessen doch mehr eine Ethik der Bescheidung, einer gewissen Bescheidenheit ... Freilich, das Wort 'Bescheidenheit' inspiriert nicht. 'Der vollkommene Mensch' oder 'der neue Mensch' - das inspiriert und hat ja Menschen auch zu ganz außerordentlicher Hingabe und den größten Selbstaufopferungen gebracht, während es sehr schwer ist, Begeisterung zu erwecken für ein Ziel der Bescheidung ... Und trotzdem, dieses ist nun eine Möglichkeit, erwachsen zu werden, die uns gerade aus der quasiutopistischen, gefährlichen Machtfülle der heutigen Menschheit zuwächst, daß wir uns vielleicht gewisse Träume des ... realisierbaren höchsten Gutes auf Erden versagen, uns ihrer entledigen und uns auf das Erreichbare des fehlbaren Menschen einstellen."

3. Sich damit bescheiden, daß wir fehlbare Menschen sind - das ist ein anderer Ausdruck für: seine eigene Begrenzung akzeptieren und sich selbst Grenzen setzen. Wie geschieht das? In meiner Jugendzeit gab es - ich hoffe, ich habe den Wortlaut noch einigermaßen in Erinnerung - folgenden Spruch: In England ist alles erlaubt, wenn es nicht ausdrücklich verboten ist. In Deutschland ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. In Frankreich ist alles erlaubt, auch wenn es verboten ist. In Rußland ist alles verboten, auch wenn es erlaubt ist. Der Spruch war, schon damals, sehr holzschnittartig und klischeehaft. Aber ein klein bißchen war und ist schon dran: Unter unterschiedlichen kulturellen und politischen Verhältnissen besteht ein unterschiedliches Verhältnis zwischen Rechtsordnung und Freiheit. Die Sympathie des Spruches galt offenkundig den englischen Verhältnissen: Was nicht ausdrücklich verboten ist, ist erlaubt; die Freiheit hat Vorrang; die Rechtsordnung markiert lediglich die äußersten Grenzen eines breiten Handlungskorridors.

So sollte es in der Tat sein: Die Rechtsordnung soll sich auf die Regelung des unerläßlichen Minimum beschränken, um den Freiheitsraum für den einzelnen wie für zivilgesellschaftliche Akteure zu erhalten. Zwischen Ethos und Recht ist ein Unterschied. Ja, mehr noch: Zwischen Ethos und Recht muß ein Unterschied sein, und zwar um des Rechts wie um des Ethos willen. Die Gesellschaft kann und muß es aushalten, ja, ihre Dynamik und Veränderungsfähigkeit lebt davon, daß in ihr ein Pluralismus ethischer Überzeugungen herrscht. In sehr vielen Fällen genügt es, wenn die Rechtsordnung dafür sorgt, daß unterschiedliche Überzeugungen frei geäußert und gelebt werden können, sie braucht hier nichts verbindlich zu regeln.

Ich veranschauliche das an der pränatalen Diagnostik und der In-vitro-Fertilisation. Die pränatale Diagnostik erlaubt es, mit einer Reihe von Untersuchungsmethoden Erkenntnisse über den Verlauf der Schwangerschaft und die gesunde Entwicklung des ungeborenen Kindes zu gewinnen. Viele nehmen diese Diagnostik gern in Anspruch, weil es beruhigend ist, zu wissen, daß alles gut verläuft und man sich keine Sorgen machen muß. Andere hingegen haben eine kritischere Einstellung und verzichten ganz bewußt jedenfalls auf bestimmte Möglichkeiten der pränatalen Diagnostik. Denn so unbestreitbar es ist, daß ein unauffälliger Befund Beruhigung verschafft - ein auffälliger Befund, insbesondere dann, wenn er eine schwerwiegende gesundheitliche Beeinträchtigung des ungeborenen Kindes vermuten läßt, stürzt in ein Dilemma und führt in den meisten Fällen zum Schwangerschaftsabbruch. Eine ähnliche Konstellation zeigt sich im Blick auf die In-vitro-Fertilisation. Sie wird von den einen als Hilfe zur Überwindung ihrer ungewollten Kinderlosigkeit dankbar benutzt; andere lehnen sie ab, zum Beispiel deswegen, weil diese Methode nur mit Hilfe der verbrauchenden Embryonenforschung hat entwickelt werden können. Die Vorbehalte gegen die pränatale Diagnostik und die In-vitro-Fertilisation sind beachtlich. Dennoch gibt es aus meiner Sicht keine überzeugenden Gründe, wegen dieser ethischen Vorbehalte auf ein rechtliches Verbot der pränatalen Diagnostik und der In-vitro-Fertilisation hinzuwirken. Die Rechtsordnung sollte sich hier heraushalten und den unterschiedlichen Überzeugungen Raum geben. Das schließt ja ein, daß diejenigen, die ethische Bedenken haben, frei sind, für sich selbst entsprechende Konsequenzen zu ziehen und für ihre Überzeugungen öffentlich einzutreten.

Daß zwischen Ethos und Recht zu unterscheiden ist und ethische Bedenken nicht in jedem Fall ein rechtliches Verbot nach sich ziehen können, muß auch Konsequenzen haben für die Art und Weise, in der sich die evangelische (und - warum nicht? - auch die römisch-katholische) Kirche zu bioethischen Fragen äußert. Nicht in jedem Fall ist es angebracht, über unterschiedliche Forschungsziele und Behandlungswege in der Alternative von "richtig" und "falsch" zu urteilen und gar noch Folgerungen im Blick auf das rechtlich zu Erlaubende und zu Verbietende anzuschließen. Es gibt auch die Möglichkeit, sich auf einen Rat oder eine Empfehlung zu beschränken, also diejenigen Gründe möglichst überzeugend vorzutragen, die mehr für die eine als für die andere Handlungsalternative sprechen. Als sich die Synode der EKD 1987  erstmals mit den "Maßstäben für Gentechnik und Fortpflanzungsmedizin" beschäftigte, kam sie bei ihrer abschließenden Beschlußfassung im Blick auf die In-vitro-Fertilisation zu folgendem Ergebnis: "Gewichtige Gründe sprechen gegen die extrakorporale Befruchtung. Aber die Not der ungewollten Kinderlosigkeit darf nicht gering geschätzt werden. Der Wunsch nach einem Kind rechtfertigt jedoch noch nicht jede medizinische Maßnahme. Darum rät die Synode vom Verfahren der extrakorporalen Befruchtung ab." Ich bin sicher: Dieser Modus des kirchlichen Redens - Rat geben, den Freiraum der persönlichen, unterschiedlichen Urteilsbildung respektieren, nicht bevormunden - wird in Zukunft an Bedeutung eher gewinnen.

Es bleibt allerdings dabei: Die Rechtsordnung ist dazu da, äußerste Grenzen zu markieren, also ein ethisches Minimum verbindlich zu regeln. Dies ist in Deutschland insbesondere dann der Fall, wenn die Grundrechte unserer Verfassung auf dem Spiel stehen. Wo genau die Grenze zwischen dem ethischen Minimum und dem erforderlichen Freiraum verläuft, ist immer wieder Gegenstand der ethischen, rechtlichen und politischen Debatte.

4. Nicht nur beim Schutz menschlicher Embryonen, sondern auch bei weiteren biomedizinischen und bioethischen Fragen gibt es international eine Vielfalt, also eine Uneinheitlichkeit ethischer und rechtlicher Standards. Verschiedentlich hat es Anstrengungen gegeben, diese Vielfalt durch internationale Konventionen einzugrenzen. Am bekanntesten ist das "Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin des Europarats", weithin noch bekannt unter seinem früheren Namen: "Bioethik-Konvention". Solche Anstrengungen sind grundsätzlich sinnvoll, aber sie sind bisher ohne großen Erfolg geblieben.

5. Ich will bei dieser Gelegenheit noch auf einen Vorwurf eingehen, der daran anknüpft, daß international sehr unterschiedliche Forschungsbedingungen bestehen und deshalb im Ausland Projekte vorangetrieben werden, die in Deutschland gesetzlich untersagt sind. Der Vorwurf lautet etwa so: Wer sich - im klaren Wissen darum, daß bestimmte Entwicklungen im Ausland stattfinden - dafür ausspricht, sie in Deutschland nicht zuzulassen, ist ein Heuchler; denn am Ende wird er, wenn die im Ausland stattfindenden Forschungen zu neuen therapeutischen Möglichkeiten führen, nicht zögern, jedenfalls nicht umhin kommen, sie auch in Deutschland zu nutzen. Dazu sage ich: Der Vorwurf der Heuchelei ist allenfalls dort gerechtfertigt, wo heimlich auf Erfolge der anderswo durchgeführten Forschungen spekuliert wird, mit anderen Worten: wo jemand von Anfang an von den Früchten dieser Forschung profitieren will, ohne sich selbst gewissermaßen die Hände schmutzig zu machen. Der Vorwurf trifft aber diejenigen nicht, die zu einem Zeitpunkt, wo der Erfolg bestimmter Forschungsrichtungen noch unbestimmt ist, sich gegen sie aussprechen. Die gegensätzlichen Beurteilungen und Vorgehensweisen in verschiedenen Ländern sind gerade die Bedingung der Möglichkeit, die Debatte offenzuhalten - hierzulande ebenso wie etwa in Großbritannien; es tut der Debatte in den verschiedenen Ländern gut, daß und wenn es die Herausforderung durch andere rechtliche Rahmenbedingungen gibt. Die höchst prekäre Alternative wäre es doch, sich der normativen Kraft des Faktischen zu beugen und zur Vermeidung möglicher Wettbewerbsnachteile bei allem mitzumachen, was andere anderswo angefangen haben.

6. Die Forschungsfreiheit gehört nach dem Grundgesetz zu den Grundrechten. Sie findet ihre rechtliche Grenze darum nur dort, wo andere Grundrechte berührt sind und gesetzliche Regelungen unter Berufung auf solche konfligierenden Grundrechte Schranken errichten.

Aber es wäre ein großes Mißverständnis - und auf Seiten der Forscher ein großes Selbstmißverständnis -, wenn bei der Frage nach der Grenze der Forschungsfreiheit nur an rechtliche Grenzen gedacht würde. Als ob es das Wesensmerkmal der Freiheit wäre, alle Grenzen niederzureißen und sich keine Schranken auferlegen zu lassen oder selbst aufzuerlegen! Die Losung von einer "Forschung ohne Fesseln", wie man sie der vorhin zitierten Rede von Altkanzler Gerhard Schröder entnehmen kann, wäre ein solches Mißverständnis oder Selbstmißverständnis. Es gibt keine Freiheit, auch keine Forschungsfreiheit, ohne daß wir uns selbst Grenzen setzen und uns Grenzen setzen lassen.

In seiner denkwürdigen "Berliner Rede" vom 18. Mai 2001 hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau zum Thema der Selbstbegrenzung der Freiheit einen wichtigen Beitrag geleistet. "Ich bin" - so sagte er - "fest davon überzeugt, daß wir unendlich viel Gutes erreichen können, ohne daß Forschung und Wissenschaft sich auf ethisch bedenkliche Felder begeben müssen. Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon."

Wie auch immer man die Tauglichkeit des Rubikon-Bildes für die bioethische Debatte einschätzen mag - Johannes Rau hat mit seinem Wort "Es gibt viel Raum diesseits des Rubikon" zwei bewahrenswerte Einsichten formuliert:

Es gibt, gerade in der Entwicklung der modernen Medizin und Biologie, Richtungen und Pfade, denen zu folgen oder gerade nicht zu folgen von größter Tragweite ist. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) hatte in ihrer "Empfehlung ... zur Forschung mit menschlichen Stammzellen" vom 3. Mai 2001 die Einführung der künstlichen Befruchtung als einen solchen Vorgang klassifiziert und dafür die sprichwörtliche Redensart von der Überschreitung des Rubikon benutzt. Unter den aktuellen Entwicklungen und Entwicklungsmöglichkeiten sind sicher die Stammzellforschung und das sogenannte therapeutische Klonen zu nennen. Johannes Rau macht zweitens darauf aufmerksam: Es ist eine reale Möglichkeit, auf bestimmte Pfade der Entwicklung bewußt zu verzichten und Grenzen "sogar dann zu respektieren, wenn man dadurch auf bestimmte Vorteile verzichten muß." Es gebe sogar Dinge, "die wir um keines tatsächlichen oder vermeintlichen Vorteiles willen tun dürfen". Darum wirbt er dafür, Tabus nicht als Relikte vormoderner Gesellschaften, sondern, wo sie gute Gründe für sich haben, als "Ergebnis aufgeklärten Denkens und Handelns" zu begreifen.

IV. Pluralismus als Streitkultur

1. Es gibt keinen oder jedenfalls kaum einen gesellschaftlichen Bereich, in dem die bioethische Debatte nicht kontrovers geführt wird. Ob in der Ärzteschaft, unter den Wissenschaftlern, in den Wissenschaftsorganisationen, in den politischen Parteien, in den Kirchen - zu vielen heiß diskutierten Einzelproblemen werden nahezu überall unterschiedliche Auffassungen vertreten. Selbst die Fraktionen des Deutschen Bundestages, die ansonsten bei Abstimmungen gern auf Geschlossenheit und Disziplin setzen, haben bei der Beratung und Beschlußfassung über das Stammzellgesetz auf Fraktionsdisziplin verzichtet und die Abstimmung der persönlichen Gewissensentscheidung anheimgegeben, und auch für das Vorhaben einer gesetzlichen Regelung der Patientenverfügung ist dieses Verfahren wieder in Aussicht genommen worden. Daran zeigt sich deutlich, für wie unvermeidlich und in gewisser Weise auch sachgemäß eine pluralistische Konstellation bei diesen Themen gehalten wird.

Pluralismus wird freilich immer wieder mißverstanden als Beliebigkeit, als ein Zustand des anything goes. Aber das ist ein von der Bequemlichkeit verdorbener und weichgespülter Pluralismus. In Wirklichkeit ist Pluralismus anstrengend, er ist auf die Entwicklung und Pflege einer Streitkultur angewiesen. Er lebt davon, daß man nicht schiedlich-friedlich nebeneinanderher lebt und einander möglichst in Ruhe läßt, sondern bestrebt ist, das Eintreten für die eigene Überzeugung und das Respektieren anderer Überzeugungen miteinander zu verbinden.

2. Wie schon angedeutet - in den Kirchen geht es in dieser Hinsicht nicht viel anders zu als in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Das gilt jedenfalls uneingeschränkt für die evangelische Kirche. Das besondere Verständnis des Lehramtes in der römisch-katholischen Kirche bringt es mit sich, daß dort vom Papst in der Gemeinschaft mit den Bischöfen der Anspruch erhoben werden kann, autoritativ festzustellen, was "katholisch" ist; das verleiht der römisch-katholischen Kirche in der Fremdwahrnehmung den Eindruck größerer Geschlossenheit; blickt man aber auf das, was katholische Ärzte, Wissenschaftler, Politiker usw. individuell sagen und vertreten, dann bietet sich auch im katholischen Bereich ein sehr pluralistisches Bild.

Im Protestantismus freilich wird die pluralistische Situation nicht nur nolens volens als Faktizität hingenommen, vielmehr verdankt sich, wie es der Tübinger evangelische Theologe Dietrich Rössler  einmal formuliert hat, die Akzeptanz des ethischen Pluralismus "den Grundsätzen der reformatorischen Theologie: Die Freiheit zu eigenen, von üblichen abweichenden oder besonderen Standpunkten ist immer schon als Kennzeichen des Protestantismus angesehen worden. Denn nur in wenigen Fragen" - so immer noch Dietrich Rössler - "hat die protestantische Tradition Eindeutigkeit oder gar Einstimmigkeit verlangt: in den Grundfragen des Glaubens, mit denen die Kirche steht oder fällt. Fragen der Lebensform und der Weltgestaltung ... gehören nicht dazu ... In diesem Sinne würde der Pluralismus zu Recht das 'Markenzeichen' des Protestantismus genannt werden können." Die Redeweise vom Pluralismus als "Markenzeichen" des Protestantismus muß allerdings vor dem Mißverständnis geschützt werden, als gelte der Dissens - etwas provozierender gesagt: der dissonante Chor, mit dem die evangelischen Stimmen häufig in der Öffentlichkeit in Erscheinung treten - geradezu als erstrebenswert. Aber angesichts der Tatsache, daß sich die ethische Urteilsbildung bei allen Beteiligten an denselben Kriterien orientiert, insbesondere an der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen, ist auch dem Protestantismus vorrangig daran gelegen, zu übereinstimmenden Schlußfolgerungen zu gelangen. Wenn dies nicht sogleich gelingt, wäre es ein zu bequemer Weg, es bei der Vielstimmigkeit einfach bewenden zu lassen. Wir sollen uns aber im Dissens nicht einrichten. Wir brauchen vielmehr dringend die Bereitschaft, aufeinander zu hören, und jedenfalls die ernsthafte Absicht, uns bei besserer Belehrung auch zu korrigieren.

3. Eine besondere Herausforderung stellt der Pluralismus dar, wenn bestimmte Fragen - wie etwa die Embryonenforschung, die Stammzellforschung, die Präimplantationsdiagnostik oder die Voraussetzungen für die Entnahme von Spenderorganen - rechtlich geregelt werden sollen. Denn in der Rechtsordnung bedarf es klarer und eindeutiger Festlegungen. Eine schlichte Abbildung der pluralistischen Situation hilft hier nicht weiter. Die pluralistische Situation kann allerdings in der Weise berücksichtigt und gewürdigt werden, daß nach einem Kompromiß (oder besser: einem Ausgleich) zwischen den kontroversen Auffassungen gesucht wird. Es ist geradezu eine der vornehmsten Aufgaben der Rechtsordnung, wo immer das möglich ist, sich in Streitfragen, die die Gesellschaft zu zerreißen drohen, nicht einfach für die und gegen die andere Position zu entscheiden und damit eine Position zum Gewinner und die andere zum Verlierer zu stempeln, sondern durch einen umsichtigen Kompromiß für einen akzeptablen Ausgleich zu sorgen und den gesellschaftlichen Konflikt zu befrieden. So ist nicht nur das Stammzellgesetz, sondern schon die gesetzliche Regelung des Schwangerschaftsabbruchs von 1993 bzw. 1995 zustandegekommen.

Nachdem die Deutsche Forschungsgemeinschaft am 10. November des vergangenen Jahres ihre mittlerweile dritte Stellungnahme zu den Möglichkeiten und Perspektiven der Stammzellforschung in Deutschland veröffentlicht hatte, ist vom Vorsitzenden des Rates der EKD, Bischof Huber, an diesen Charakter des Stammzellgesetzes erinnert worden. Seine Anregung, darüber nachzudenken, den 2002 bestimmten Stichtag neu, und zwar auf den 31. Dezember 2005, festzulegen, ist ja mitnichten Ausdruck eines Kurswechsels, sondern der verantwortungsethisch motivierte Versuch, dabei mitzuhelfen, eine gesetzliche Regelung zu finden, die im Vergleich mit dem von der DFG propagierten Schritt einer völligen Aufhebung der Stichtagsregelung wenigstens das kleinere Übel darstellt. So hat Bischof Huber in seiner Äußerung dem Vorschlag der DFG "nachdrücklich widersprochen. Mit einem solchen Schritt "würde der Geist der vom Deutschen Bundestag 2002 beschlossenen gesetzlichen Regelung verraten." Und dann fügt er hinzu: Wer dem Geist und der Logik der geltenden gesetzlichen Regelung verpflichtet ist, "verfügt gleichwohl über Spielräume, zu einer Lösung für die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft aufgewiesenen Probleme [insbesondere die Kontaminierung der in Deutschland bisher verfügbaren Stammzellinien durch tierische Produkte und Viren] zu gelangen. Der vom Bundestag angestrebte Ausgleich ... bliebe gewahrt, wenn der Stichtag neu festgesetzt würde. Dabei müßte es sich, wie auch schon 2002, um einen zurückliegenden Stichtag ... handeln. Aus evangelischer Sicht würden damit zwar die grundlegenden ethischen Bedenken gegen den Verbrauch menschlicher Embryonen bei der Gewinnung von humanen embryonalen Stammzellen nicht ausgeräumt. Aber ein solcher Weg ließe sich - wie schon ... 2002 ... - respektieren als ein ernsthafter Versuch, ... ethische Konflikte zu befrieden."

Ich habe, sehr verehrte Damen und Herren, Ihre Geduld über die Maßen strapaziert. Für Ihre geduldige Aufmerksamkeit habe ich Ihnen von Herzen zu danken. Soweit die Zeit es erlaubt und meine Kenntnisse ausreichen, will ich Ihnen gern für Rückfragen und das gemeinsame Gespräch zur Verfügung stehen.