Was ist Schöpfung? - Zur Subtilität antiken Weltordnungsdenkens

Michael Welker

(Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Sommersemester 2006)

Ich werde mit meinen Überlegungen nicht ein religiöses Konkurrenzangebot zu dem eben gehörten Vortrag (eines Physikers und Kosmologen) zu unterbreiten suchen. Ich möchte Sie vielmehr auf die Subtilität und Reichweite dessen aufmerksam machen, was antikes religiöses Weltordnungsdenken mit der Rede von „Schöpfung“ verbindet.

Blicken wir zunächst auf das, was heute allgemeine Lexika unter „Schöpfung“ verstehen. Sie bestimmen die Schöpfung als die Natur, die Welt oder eine vage vorgestellte Totalität, sofern sie als hervorgebracht und abhängig angesehen wird. Die Figur des Hervorgebracht- und Abhängigseins hält sich durch, unabhängig davon, ob die Schöpfung (creatura) einem Gott zugeschrieben wird oder mehreren Göttern oder anderen ursprünglicheren, schlechthin überlegenen bzw. überweltlichen, übernatürlichen Kräften und Instanzen. Aber auch der Akt oder die Aktivität der Hervorbringung des „Ganzen“, der Welt oder der Natur wird als „Schöpfung“ bezeichnet (creatio). Die zusammenfassenden Vorstellungen und Gedanken über diesen Akt der Hervorbringung und das solchermaßen Hervorgebrachte sind meist dunkel. In Mythen, Sagen und einigen schwer dekodierbaren kosmologischen Theorien werden diese „letzten Gedanken“ bewegt. In unseren westlichen Kulturen werden sie seit langem auf eine sehr abstrakte und karge Konzeption eines letzten unhintergehbaren und unhinterfragbaren Verursachens und Verursachtseins zusammengezogen: Gott ist der „Grund des Seins“, „die alles bestimmende Wirklichkeit“ etc. Gegenüber diesen sehr schlichten theistischen Gedanken, die zu ebenfalls sehr schlichten Rückfragen und Bedenken führen können („Wie kann ein allmächtiger und guter Gott Leid zulassen?“) zeichnet der wichtigste Klassiker unter den biblischen Schöpfungstexten, der sog. Schöpfungsbericht der Priesterschrift, Genesis 1, ein wesentlich subtileres Bild. Dieser Text, wohl während des babylonischen Exils um 550 (586 bis 538) vor Chr. entstanden, verarbeitet erheblich ältere altorientalische Schöpfungsmythen. Er ist der Klassiker zum Thema „Schöpfung“, ein Thema, das aber auch in Genesis 2, in verschiedenen Psalmen und in Weisheitstexten behandelt wird.

Dass in diesem biblischen Schöpfungsbericht eine sehr nuancierte Wirklichkeitswahrnehmung vorliegt, kann gerade dann deutlich werden, wenn man scheinbare Ungereimtheiten des Textes thematisiert. Eine solche Ungereimtheit scheint vorzuliegen in der Spannung von Genesis 1,3-5 und Genesis 1,14ff, wenn es einerseits heißt: „Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es wurde Licht. Gott sah, dass das Licht gut war. Gott schied das Licht von der Finsternis. Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte Gott Nacht. Und es wurde Abend und es wurde Morgen, der erste Tag“ – und wenn andererseits Genesis 1,14-19 die der Erschaffung der Gestirne, die Tag und Nacht scheiden sollen, thematisiert wird. Wie konnte Gott Licht schaffen, ohne Gestirne einzubeziehen? Warum wird die Scheidung von Tag und Nacht zweimal vollzogen? Wird sie nun direkt von Gott durchgeführt, oder sollen die Gestirne Tag und Nacht scheiden? Solche Fragen, die sich scheinbar gescheit über den vermeintlich naiven und die Gedanken nicht ins Klare bringenden Text erheben, nehmen die subtile Wirklichkeitssicht nicht wahr, die hier entwickelt wird.

Der Schöpfungsbericht der Priesterschrift denkt in zwei Zeitsystemen, einmal die Tage Gottes, zum anderen die Tage dieser Welt, die durch die Gestirne rhythmisiert werden. Natürlich verfügt der priesterschriftliche Schöpfungsbericht nicht über unser kosmologisches Wissen. Die größtmögliche Zahl, die die Autoren der alttestamentlichen Überlieferungen denken können, war wohl die Daniel 7,10 genannte, wo es über die himmlischen Heerscharen vor Gott heißt: „Zehntausend mal Zehntausende standen vor ihm.“ Dreizehn Milliarden Jahre sind also für die biblischen Autoren noch nicht denkbar. Aber auch wir operieren mit dieser Größe erst seit dem 20. Jahrhundert. Dass die biblischen Texte allerdings Gottes Zeit und die Zeit unter dem Himmel in Analogie sehen, dass sie sie dennoch unterscheiden, wird in solchen Aussagen deutlich wie Psalm 90, 4: „Denn tausend Jahre sind für dich wie der Tag, der gestern vergangen ist, wie eine Wache in der Nacht.“

Die Tage Gottes sind große Zeiteinheiten, in denen ein differenzierter Zusammenhang von Wirklichkeiten und Lebensprozessen erschaffen wird, die wir heute in kosmologische, biologische, kulturelle und religiöse Prozesse auseinander treten lassen. Das schöpferische Wirken erweist sich in der komplexen Verbindung dieser sehr verschiedenen Wirkungs- und Lebensbereiche. Im Schöpfungsgeschehen werden komplexe Interdependenzen zwischen verschiedenartigen Lebensbereichen hergestellt. Erst in der Bestimmung füreinander und in der Verschränkung ineinander werden die kosmischen, biologischen, kulturellen und religiösen Lebensbereiche zur „Schöpfung“ im strengen Sinne.

Eine zweite Irritation erlaubt es uns, die Subtilität des priesterlichen Schöpfungsberichts weiter zu erschließen. Einerseits wird davon gesprochen, dass Gott scheidet, hervorbringt, schafft, setzt, etc. Andererseits wird den Geschöpfen, oft mit denselben Verben, die scheidende, herrschende, hervorbringende, entfaltende, sich reproduzierende Tätigkeit zugesprochen. Die differenzierte Eigenaktivität des Geschöpflichen wird – ohne aufzuhören geschöpfliche Eigenaktivität zu sein – mit Gottes Schaffen wiederholt parallelisiert. So ist das Himmelsgewölbe dazu bestimmt, selbst die Wasser zu scheiden und Raum zu schaffen und zu erhalten für die weitere Gestaltung und Entfaltung des Geschöpflichen (Genesis 1,6). Doch schon im folgenden Vers heißt es, Gott macht das Gewölbe und schied ... (Genesis 1,7). Die Lichter am Himmelsgewölbe sollen über Tag und Nacht herrschen und das Licht von der Finsternis scheiden (Genesis 1,14). Parallel dazu lesen wir: Gott machte die Lichter, Gott setzte die Lichter an das Himmelsgewölbe (Genesis 1,16 und 1,18). Dass Gott alle Arten von Landtieren macht, wird Genesis 1,21 und 1,25 betont. Daneben wird eben für diesen Vorgang, die hervorbringende Kraft der Erde in Anspruch genommen: „Gott sprach, das Land bringe alle Arten von lebendigen Wesen hervor, von Vieh, von Kriechtieren und von Tieren des Feldes“ (Genesis 1,24).  Schöpfung und Evolution sind nach dem priesterschriftlichen Schöpfungsbericht also keine Alternative. Wie aber,  so lautet dann die dritte religiös irritierte Frage, können wir noch Gott und Geschöpfe unterscheiden?

Diese Frage wird dann tatsächlich brennend, wenn wir Gott und Welt, Gott und Geschöpf in einem Eins-zu-Eins-Modell denken, wie es für das meiste populäre religiöse Denken leider charakteristisch ist. Wie lassen sich Gott und Welt, Gott und Mensch unterscheiden, wenn Gott, Welt und Mensch kokreative Größen sind? Die Antwort lautet, dass das biblische Denken eben nicht in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis, sondern in Eins-zu-Viele-Verhältnissen denkt. In abgestufter Weise haben die verschiedenen Geschöpfe an Gottes Kreativität Anteil. Die Himmel scheiden, die Gestirne herrschen, die Erde bringt hervor, und der Mensch erhält den sogenannten Herrschaftsauftrag. Gott aber orchestriert diese verschiedenartigen Dimensionen und Prozesse. Wenn man sich dieses Modell klar vor Augen stellt, dann wird deutlich, warum biblisches Denken Gottes Schaffen und Gottes Regieren im Zusammenhang sieht. Das Zusammenwirken der verschiedenen Lebensbereiche und geschöpflichen Machtsphären wird dem göttlichen Wirken zugeschrieben.

Eine vierte Irritation, die zu einer tieferen Erkenntnis des Weltordnungsdenkens der Priesterschrift führt, kann man in die Frage fassen: Wenn den Geschöpfen Anteil gegeben wird an der Kreativität Gottes, droht dann nicht eine Gefährdung der Schöpfung, d.h. gefährdet sie sich dann nicht selbst? Wenn aber Selbstgefährdungen der Schöpfung durchaus zugelassen sind – wie kann dann davon gesprochen werden, dass die Schöpfung „gut“ war,  ja, wie kann dann mit Genesis 1,31 gesagt werden: „Gott sah alles an, was er gemacht hatte. Siehe, es war sehr gut. Es wurde Abend und es wurde Morgen, der sechste Tag.“

Diese weit verbreitete Frage verbindet sich in der Regel mit der Theodizee-Frage: „Wie sind das Leiden und der Tod in der Schöpfung mit der Güte und Macht Gottes in Einklang zu bringen?“ Auf diese Frage lässt sich eine sehr klare, wenn auch ernüchternde Antwort geben. Die Schöpfung bietet nicht ein Leben in göttlicher Herrlichkeit. Die Geschöpfe sind nicht göttliche Wesen. Im Gegensatz zu anderen Schöpfungsberichten des Alten Orients vollzieht der biblische Schöpfungsbericht geradezu eine Säkularisierung der Macht des Himmels, der Gestirne und auch der Ungeheuer aus der Tiefe. Der Himmel ist nicht länger eine göttliche Größe, sondern ein Geschöpf. Er ist in der Sicht der biblischen Überlieferungen eine machtvolles Geschöpf, da die Kräfte des Lichtes, der Wärme, des Wassers „vom Himmel her“ auf die Erde kommen. Aber er ist nicht anzubeten. Ebenso sind die Gestirne machtvoll, nicht nur als natürliche Größen, sondern auch als auch kulturbestimmende Kräfte. Sie setzen nicht nur die Zeiten, sondern auch die Festtage fest. Aber auch sie sind nicht, wie in manchen anderen Religionen Brauch, als Götter zu verehren. Während andere altorientalische Schöpfungsberichte von einem Kampf Gottes oder der Götter mit den Chaosmächten, z.B. aus der Tiefe des Meeres, sprechen, heißt es Genesis 1,20f: „Das Wasser wimmelte von lebendigen Wesen und Vögel sollen über dem Land am Himmelsgewölbe dahinfliegen. Gott schuf alle Arten von großen Seetieren und anderen Lebewesen, von denen das Wasser wimmelt.“ Große Seetiere – Luther übersetzt Walfische – erinnern an die Monster aus der Tiefe in anderen Schöpfungsberichten, mit denen der Gott dort kämpfen muss. Die großen Monster werden hier aber naturalisiert und säkularisiert. Die Geschöpfe sind keine Götter, auch dann nicht, wenn sie über beträchtliche Macht verfügen. Sie erzeugen mit ihrer Macht aber Konflikte und Risiken in der Schöpfung.

Das zeigt sich besonders im Herrschaftsauftrag, den die Menschen erhalten: „Und Gott segnete sie und sprach zu ihnen: Seid fruchtbar und mehrt euch und füllt die Erde und macht sie euch untertan und herrscht über die Fische im Meer und die Vögel des Himmels, über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht“ (Genesis 1,28). Die Verben „macht sie euch untertan“ und „herrscht“ sprechen Eroberer- und Sklavenhaltersprache. Ein naives Denken hat in den 60er und 70er Jahren daraus abgeleitet, schon der biblische Schöpfungsbericht vertrete einen ökologischen Brutalismus, er propagiere schon Descartes’ „maître et possesseur de la nature“. Eine gleichfalls etwas einfältige Theologie hat angesichts dieser Anklage vorgeschlagen, sich stärker auf den sogenannten jahwistischen Schöpfungsbericht Genesis 2 zu konzentrieren und darauf aufmerksam zu machen, dass dort doch von „Bebauen und Bewahren“ die Rede sei und dass dies wohl als der angemessene Umgang mit der Schöpfung angesehen werden müsse.

Gegenüber solchem Lavieren ist deutlich zu sehen, dass der priesterschriftliche Schöpfungsbericht Genesis 1 ausdrücklich das Problem anspricht, dass sowohl den Menschen als auch den Tieren eine gemeinsame Sphäre der Nahrungsaufnahme zugewiesen wird, dass es also zu Interessenkonflikten kommen muss. Diese Interessenkonflikte werden mit dem Herrschaftsauftrag eindeutig zugunsten des Menschen geregelt. Aller Naturschwärmerei zum Trotz liegt hier ein klarer Anthropozentrismus vor. Doch dabei ist nicht einem ungebremsten Brutalismus gegenüber den Mitgeschöpfen das Wort geredet. Dies wiederum macht die berühmte Bestimmung des Menschen zur Imago Dei, zum Bild Gottes, deutlich: „Und Gott schuf den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und er schuf sie als Mann und Frau“ (Genesis 1,27). Die Rede von der Imago Dei entstammt altorientalischer Königsideologie und ist verbunden mit der Erwartung, dass der Herrscher Gerechtigkeit übt und die Schwachen schützt. Der priesterschriftliche Schöpfungsbericht entwickelt also ein subtiles Ethos der Herrschaftsstellung des Menschen. Einerseits wird die Reproduktion und Ausbreitung der Menschen über die Erde bejaht und gegenüber den Tieren privilegiert, andererseits soll der Mensch die Imago Dei spiegeln, d.h. er soll als Bild Gottes herrschen und für Gerechtigkeit und den Schutz der Schwachen sorgen, nicht nur unter den Menschen, sondern auch der übrigen Schöpfung gegenüber.

Anhand dieser Spannungen können wir erkennen, dass der Schöpfungsbericht sehr realistisch eine Welt ins Auge fasst, in der Leben auf Kosten von anderem Leben lebt. Es ist keine Traum- und Wunschwelt, sondern die Welt, in der wir uns tatsächlich befinden. Wie kann es dann, so lautet die nächste Irritation, wie kann es dann heißen: „Gott sah, dass es gut war,“ sehr gut sogar! „Gut“ (tob)  im Alten Testament meint „lebensförderlich“. Das orchestrierte Zusammenspiel von kosmischen, biologischen, kulturellen und religiösen Prozessen wird von Gott als gut, als sehr lebensförderlich angesehen. Das bedeutet aber nicht, dass die Schöpfung ein Leben in göttlicher Herrlichkeit bietet. Die Differenz von Gott und Schöpfung will scharf wahrgenommen sein. Die damit angelegten Konflikte fasst der priesterschriftliche Schöpfungsbericht hinsichtlich der Spannung zwischen Menschen und Tieren ins Auge. Er reguliert sie mit dem Herrschaftsauftrag und mit der Auszeichnung des Menschen als Imago Dei.

Leider aber ist der Mensch nicht in der Lage, dieser Auszeichnung zu entsprechen. Das Buch Genesis fasst bereits die Potentiale der massiven Selbstgefährdung, Verblendung und Selbstzerstörung ins Auge, die in den auf den Schöpfungsbericht folgenden Erzählungen der sog. „Urgeschichte“ breit entfaltet werden. „Schöpfung“ allein kann deshalb kein zureichendes Zeugnis von der Gottheit Gottes geben. Eine nur naturalistische Wahrnehmung der Schöpfung ist völlig unzureichend. Aber auch eine „Ergänzung“ der Konzentration auf die Natur durch Einbeziehung der Größen „Kultur und Geschichte“, die keine Perspektiven auf Gottes rettendes und erlösendes Wirken bietet, bleibt theologisch „unter Niveau“.