„Freiheit braucht Verantwortung – Verantwortung braucht Vertrauen. Wege aus der Krise“ - Rede zum Johannisempfang in der Französischen Friedrichstadtkirche zu Berlin

Wolfgang Huber

Ein Bamberger Weinhändler, im Nebenamt auch Philosophieprofessor, empfiehlt einen guten Tropfen als Lebenselexier angesichts der Wirtschaftskrise:

„Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat auch Sie bereits getroffen? Sie müssen sparen? Dann sollten Sie gerade jetzt auf einen tröstenden Schluck nicht verzichten. Denn wie dichtete schon Gottfried Benn:

Drum trinket und trinket das Herze euch leicht,

Und wenn euch im Leben der Kummer beschleicht,

Dann trinket den ewig erlabenden Wein,

Und lasset den Kummer, den Kummer dann sein.

Das Leben, es kehret nie wieder zurück,

Drum kostet's mit kräftigen Zügen!“

Dann fährt der Bamberger philosophische Weinhändler fort: „Erlabende Vinosophia-Weine sind jetzt so günstig wie noch nie! Nutzen Sie das  Sonderangebot: gleich sechs tröstende, erlabende Wirtschaftskrisenweine in einer Sendung. Das gibt es nur bis zum 15. Juli 2009.“

Dass der erste der dann angepriesenen Weine ausgerechnet „Agape“, zu deutsch „Liebe“ heißt, mag ein Hinweis darauf sein, dass auch für diesen kreativen Weinvermarkter ein guter Tropfen allenfalls das Angeld für eine Antwort auf die Wirtschaftskrise ist, die wirklich trägt und tröstet.

In einem trifft die vinosophische Reflexion des Bamberger Professors den  Kern: Lebenskunst ist nötig, um eine Antwort auf die Finanzmarktkrise und ihre Folgen zu finden. Dabei geht es nicht nur um die Frage, welches Bankinstitut systemrelevant ist und warum Systemrelevanz weder für produzierende noch für Handelsunternehmen geltend gemacht werden kann. Es geht um mehr. Denn zur Lebenskunst gehört der Blick auf die Lebenswirklichkeit.

In diesen Tagen bangen viele Menschen um ihren Arbeitsplatz. Manche haben ihn schon verloren. Nicht nur Schuldentilgungspläne für die eigenen vier Wände brechen zusammen, sondern zuweilen auch ganze Lebenspläne. Über allem steht die Angst davor, auf längere Zeit oder gar für den Rest eines normalen Erwerbslebens von der Teilhabe ausgeschlossen zu bleiben, die die eigene Erwerbsarbeit für die meisten Menschen nach wie vor bedeutet.

Wohlhabendere, die sich auf den Rat der falschen Anlagenberater verließen, müssen die Zukunft neu planen, weil sie einen erheblichen Teil ihres Vermögens verloren haben. Manche Banker sehen  zusammenbrechen, was bisher für ihr Leben prägend war. Bekenntnisbücher werden heute nicht so sehr von wiedergeborenen Christen oder von Aussteigern aus Scientology, sondern von reuigen Investmentbankern veröffentlicht. Sie erklären, sie wollten ein neues Leben beginnen.

Wer aber heute in der Politik möglichst richtige Entscheidungen treffen soll, fragt sich in einem Moment des Innehaltens, wie er die Verantwortung für das Schicksal so vieler Menschen überhaupt tragen kann.

Die Stimmung hat sich verbessert, doch die Lage ist katastrophal. So lässt sich ein Konjunkturbericht zusammenfassen, der gestern zu lesen war. Doch die Verlockung zur Rückkehr in den alten Trott wartet um die Ecke. Auch wenn manche aus zarten Anzeichen schon folgern, die Talsohle sei durchschritten, kann es nicht darum gehen, einfach zum Zustand vor der Krise zurückzukehren. Deshalb übergibt Ihnen der Rat der EKD am heutigen Tag einen Appell, der Nachdenklichkeit auslösen soll. Er trägt den Titel: „Wie ein Riss in einer hohen Mauer…“

Vor langer Zeit wählte der Prophet Jesaja dieses Bild. Doch es spricht auch in unsere Situation. In beispielloser Weise ist in den letzten Jahrzehnten der materielle Wohlstand in der Welt gewachsen. Der Umsatz an den Finanzmärkten wuchs in Regionen, die über alle Vorstellungskraft hinausreichen. Geld wurde mit Hilfe von Finanzderivaten selbstreferentiell vermehrt; Spekulationsblasen waren die Folge.

Die Erfolgsstory der Globalisierung weist Risse auf, die von manchen schon lange erkannt wurden. Der Wohlstand kommt nur einem Teil der Menschen in dieser Welt zugute. Noch immer ist der Anteil an Menschen, die in Armut leben, vielerorts skandalös hoch. In einer Welt globalen Wohlstands leiden Hunderte von Millionen unter absoluter Armut. Unerträglich viele verlieren ihr Leben, weil ihnen das lebensnotwendige Mindestmaß an Nahrung und medizinischer Versorgung fehlt.

Inzwischen hat sich der moralische Riss durch unverantwortliches wirtschaftliches und politisches Handeln so verbreitert,  dass die Mauern des Weltwirtschaftssystems in ihrer Stabilität gefährdet sind. Die Stimmen, die ein solches Wanken der Mauern voraussagten, wurden lange ignoriert. Zyniker behaupten, nun sei es zu spät. Wir sagen: Es ist noch Zeit zur Umkehr.

Denn sich vom Wort eines Propheten leiten zu lassen, der den Zusammenbruch ankündigt, heißt nicht, den Untergang zu beschwören. Es heißt im Gegenteil: innezuhalten und neue Wege zu beschreiten – in der Hoffnung, dass nicht nur die alten, sondern auch neue Fehler vermieden werden.

Die Kirche bietet nicht die besseren ökonomischen und politischen Konzepte an.  Aber die Motive, die den Glauben bestimmen, können uns Wege zu einer verantwortbaren Gestaltung der Zukunft weisen. Die Motive der Schöpfung, der Umkehr, der Liebe und der Hoffnung wecken in uns Zuversicht statt Resignation. Sie verpflichten uns auf nachhaltiges Wirtschaften statt auf kurzfristigen Profit. Sie halten dazu an, dass wir Gemeinwohl und Eigennutz in eine neue Balance bringen. Heute brauchen wir nicht nur einen Konjunkturaufschwung, sondern auch einen Werteaufschwung. Wir brauchen nicht nur eine Erneuerung der unternehmerischen Initiative, sondern auch eine Erneuerung der Verantwortung. Wir brauchen nicht nur neue Regeln für die Finanzmärkte, sondern auch neue Regeln für das persönliche Verhalten in Wirtschaft und Gesellschaft.

Jürgen Habermas, der vor wenigen Tagen seinen 80. Geburtstag beging, hat uns Kirchen die Verpflichtung ins Stammbuch geschrieben, die „Intuitionen von Verfehlung und Erlösung, vom rettenden Ausgang aus einem als heillos erfahrenen Leben“ lebendig zu halten, die sich in unseren religiösen Überlieferungen artikulieren. Ja, die Einsicht, dass Menschen immer wieder schuldig werden und in Irrtum verstricken, drängt sich heute geradezu auf. Sie lassen sich zum Missbrauch ihrer Freiheit verführen und werden Opfer von Fehlentwicklungen, in denen sie ihr Leben als heillos erfahren. Der Zuspruch der Vergebung und die Verheißung gelingenden Lebens sind deshalb von ebenso großer Bedeutung wie der Aufruf, von der eigenen Freiheit einen verantwortlichen Gebrauch zu machen. Gottvertrauen und Verantwortung erweisen sich aufs Neue als Leitsterne der Lebensführung.

Diese Perspektive bestimmt das Wort des Rates der EKD zur Wirtschaftskrise, das ich Ihnen heute übergebe. Mit ihm wollen wir nicht bei einer neuen Nachdenklichkeit stehen bleiben, sondern zum Übergang in ein nachhaltiges Wirtschaften ermutigen. Mit Dankbarkeit und Respekt nehmen wir die politischen Initiativen auf, durch die die Maßstäbe nachhaltigen Wirtschaftens international verbindlich gemacht werden sollen. Diese Zielsetzung wollen wir bestärken.

Wir treten mit Klarheit und Nachdruck dafür ein, dass die Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft wieder ernst genommen und zugleich im Sinn nachhaltigen Wirtschaftens weiter entwickelt werden. Eine soziale und nachhaltige Marktwirtschaft ist auf klare moralische Grundlagen angewiesen. Um das Bild aus dem Buch Jesaja aufzunehmen: Es geht um das ethische Fundament, das die Mauer trägt, um den Mörtel des Vertrauens, der die Steine zusammenhält.

Die entscheidende Grundlage der Sozialen Marktwirtschaft ist Freiheit in Verantwortung. Die gegenwärtige Krise zeigt deutlich, dass nur verantwortete Freiheit wirkliche Freiheit ist. Das gilt für Wirtschaft und Politik ebenso wie für das persönliche Verhalten. Freiheit ohne Verantwortung verkommt. Wo die Achtsamkeit für die Konsequenzen des eigenen Handelns fehlt, zerfällt das Gemeinwohl. Wo es an Zuwendung zum Mitmenschen mangelt, zerbrechen tragende Gewissheiten. Deshalb mahnen wir zur Umkehr – spät, aber hoffentlich nicht zu spät.

Die Umkehr, zu der wir ermutigen, muss sich vorrangig auf den vier Ebenen persönlichen Verhaltens, unternehmerischer Verantwortung, politischer Regulierung und soziokultureller Orientierungen vollziehen.

Die gegenwärtige Krise – das wird angesichts eines verbreiteten Systemdenkens oft übersehen – hat eine individualethische Dimension: Viele haben ihre Freiheit allein im Blick auf die eigenen Individualinteressen genutzt. Verantwortlich zu handeln heißt aber, die eigenen Entscheidungen daraufhin zu prüfen, dass sie anderen keinen Schaden zufügen. Niemand stehle sich mit dem Argument aus der Verantwortung, gegenüber den systemimmanenten Zwängen habe der einzelne Unternehmer oder Manager, Politiker oder Verbraucher keinen Handlungsspielraum. Vielmehr sollte man in Erinnerung behalten, was der vor fünfhundert Jahren geborene Johannes Calvin zu diesem Thema zu bemerken wusste: „Wir sollen von unserer Freiheit Gebrauch machen, wo sie zur Auferbauung des Nächsten dient; wenn es aber dem Nächsten nicht dient, so sollen wir auf sie verzichten.“

Daneben lässt sich eine klare ethische Verantwortung auf der Ebene der Unternehmen festmachen. Das hat spätestens die Diskussion um die falschen Anreize gezeigt, die mit der Koppelung von Boni oder Managergehältern an die kurzfristige Ertragshöhe verbunden waren. Unternehmen müssen sich in ihren inneren Strukturen so ausrichten, dass sie am Markt erfolgreich sind. Aber niemand sage, der Markt könne ethische Verantwortung und eine ihr entsprechende langfristige Orientierung ersetzen.

Wie wichtig ethische Verantwortung und langfristige Orientierung auf der politischen Ebene sind, liegt heute auf der Hand. Mit Erschrecken stellen wir fest, dass es in der Vergangenheit nicht gelungen ist, politische Regelungen gegenüber den treibenden Kräften auf den Finanzmärkten wirklich zur Geltung zu bringen. Interessenkollisionen, Uneinigkeit im Blick auf das Notwendige und der Mangel an einem international abgestimmten Vorgehen wirkten dabei zusammen. An der bewussten Abwertung von politischen Rahmenregelungen, ja auch an Diffamierungen des Staates, der solche Regelungen trifft, hat es nicht gefehlt. Doch die Akteure schneiden sich ins eigene Fleisch, wenn sie unter fragwürdiger Berufung auf die Freiheit den Staat pauschal zurückzudrängen suchen. Heute wissen wir: Es geht nicht um die Frage, ob der Staat reguliert, sondern wie er so klug reguliert, dass er seine soziale Schutzfunktion möglichst optimal mit der Dynamik von Marktprozessen verbindet.

Aber auch auf der Ebene der Mentalitäten, die in einer Gesellschaft vorherrschen, also auf der soziokulturellen Ebene muss und kann die Wirtschaftskrise zu einer Neuorientierung führen. Die Verlockung des schnellen Geldes war eine der Ursachen für diese Krise; die Gier, also der Geist des Haben-Wollens, stieß auf Anreizsysteme, denen gegenüber es für manche kein Halten mehr gab. Nur auf den eigenen Vorteil zu achten, gilt weithin als selbstverständlich. Steuern werden als „Abkassieren des Staates“ bezeichnet und damit als illegitimer Eingriff in das eigene Eigentumsrecht gebrandmarkt. Dass ein Bewusstsein für den verpflichtenden Charakter von Eigentum für die moralische Ökologie einer Gesellschaft unentbehrlich ist, gerät in Vergessenheit. Ausdrücklich beharren wir demgegenüber darauf: Eine freiheitliche Wirtschaftsordnung wird in ihren Fundamenten beschädigt, wenn der erwirtschaftete Wohlstand nicht zum Motor des sozialen Ausgleichs wird.

 Persönliches Verhalten, langfristige unternehmerische Perspektive, politische Regelung, soziokulturelle Orientierung: auf diesen vier Ebenen müssen wir heute über die richtigen Wege aus der Krise nachdenken. Aus den Grundimpulsen des christlichen Glaubens wie aus den Überlegungen praktischer Vernunft ergeben sich dabei klare Wegmarken. Indem wir diese zur Sprache bringen, wollen wir nicht selbst „Politik machen“; aber wir wollen „Politik möglich machen“.

Eine wesentliche Rolle für die notwendige Neuorientierung spielt die Nachhaltigkeit. Viele sind endlich aufgewacht. Manche der Hoffnungen bekommen neue Nahrung, die ich selbst mit meinem Appell gegen den Klimawandel im Jahr 2007 verbunden habe. Schon damals spielte der Text aus dem Jesaja-Buch eine besondere Rolle, der nun unserem Wort den Titel gegeben hat.

Aber auch die biblische Option für die Armen, die die Kirchen seit vielen Jahren immer wieder als entscheidenden Maßstab für den Wohlstand einer Gesellschaft einzuschärfen versuchen, gewinnt in diesen Zeiten eine neue Bedeutung. So hart die Krise diejenigen trifft, die einen erheblichen Teil ihres Vermögens verloren haben, sie trifft diejenigen noch härter, die von vornherein keine Chance haben, weich zu fallen. Deshalb beharren wir darauf, dass die sozialstaatlichen Sicherungssysteme gerade in der Krise Solidarität gewährleisten und Existenzängste reduzieren müssen. Sie haben zudem die Aufgabe, Kaufkraft zu stabilisieren und so die Folgen der Krise zu dämpfen. Die vorrangige Option für die Armen verpflichtet uns zugleich dazu, den globalen Horizont einzubeziehen und die soziale Marktwirtschaft konzeptionell zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft weiter zu entwickeln.

Wir orientieren uns deshalb am Bild einer Wirtschaft, die den Menschen heute dient, ohne die Lebensgrundlagen zukünftiger Generationen zu zerstören. Uns steht eine (Welt-)Gesellschaft vor Augen, die die Verbesserung der Situation ihrer ärmsten und schwächsten Mitglieder zu ihrer vorrangigen Aufgabe macht. Wir fordern in diesem Zusammenhang ein Finanzsystem, das sich in den Dienst dieser Aufgaben stellt.

Solche Orientierungen sind viel mehr als das, was Ulrich Beck einmal süffisant als „Ethik-Tropfen, heiße Wir-Umschläge und tägliche Einredungen auf das Gemeinwohl“ bezeichnet hat. Sie sind vielmehr eine entscheidende Voraussetzung für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie sind die Basis für das wechselseitige Vertrauen, ohne das eine Gesellschaft nicht leben kann. Wir haben durch die Finanzkrise schmerzhaft erfahren, wie gefährlich „blindes Vertrauen“ ist. Vertrauen muss sich auf nachprüfbare Verlässlichkeit stützen. Wer in der derzeitigen Krise dieses für die Zukunft so wichtige Vertrauen stärken möchte, der muss durch sein praktisches Handeln zeigen, dass die Appelle zur Zuversicht nicht Vertröstungen sind, sondern sich auf einen ernsthaften Willen zur Neuorientierung stützen.

Vertrauen kann entstehen, wenn die Wohlhabenden, die von den Finanzmarktstrukturen besonders profitiert haben, ihrer besonderen Verantwortung gerecht werden und das Ihre zur Sicherung gerechter Teilhabe für alle Glieder der Gesellschaft beitragen. Eine Heilung in der Krise wird möglich, wenn das Schicksal der Schwachen unseren Blick auf die Wirklichkeit im Ganzen lenkt. Wo dieser Blick leitend ist, wird nach einem anderen Wort des Propheten Jesaja „dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen. ... Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.“

Eine solche aus Teilnahme wachsende Zuversicht wollen wir denen vermitteln, die in besonderer Verantwortung stehen. Aber auch zu der gelassenen Heiterkeit wollen wir einladen, die den Kummer an seinem Ort lässt. Denn, wie wir von Gottfried Benn zu Beginn hörten – und er war immerhin ein märkischer Pfarrerssohn – : „Das Leben es kehret nie wieder zurück. Drum kostet’s mit kräftigen Zügen!“

Auch dafür soll heute Abend Raum sein; haben Sie herzlichen Dank dafür, dass Sie da sind!